Verantwortungskonflikte. Verantwortung im Spannungsfeld zwischen Gesetz und Gewissen.

Ein Verantwortungskonflikt ist ein ethisches Dilemma. Es entsteht, wenn sich zwei Handlungsnormen oder zwei Grundwerte so widersprechen, sodass es keine "gute" Lösung für die Situation gibt. Meistens gibt es auch unterschiedliche Verantwortungsadressaten, denen gegenüber wir widersprüchliche Verpflichtungen haben oder die von den Folgen unserer Handlung betroffen sind. 

 

Zahlreiche philosophische Gedankenexperimente versuchen durchzudenken, wie wir mit Verantwortungskonflikten umgehen können. Das Gedanken-Experiment mit dem Trolley-Problem ist eines der berühmtesten. Es spitzt eine Situation zu, in der es keine gute Lösung gibt und in der ein handelnder Mensch in dem Moment, in dem er über die Situation Bescheid weiß, in jedem Fall "schuldig wird", selbst dann, wenn er nichts tut.

 

Die klassische ethische Gedankenkette, mit der ein Mensch in einer Verantwortungssituation konfrontiert ist, umfasst mehrere Ebenen: 

  1. die "wissenschaftliche" Ebene: Wie ist die Situation oder der Sachverhalt?
  2. die "technische" Ebene: Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es grundsätzlich? Was sind die möglichen Handlungsalternativen? Was kann ich tun? 
  3. die ethische Urteils-Ebene: Was SOLL ich tun? Welche der vorhandenen Handlungsmöglichkeiten ist die beste? Mit welchem Verhalten werde ich meiner Verantwortung am ehesten gerecht? Welches Verhalten schützt die wichtigeren (oder: fundamentaleren) Werte? Welches Verhalten hat in Summe die besseren / die weniger schlechten Konsequenzen? 
  4. die ethische Handlungs-Ebene: Was mache ich im Vergleich zum ethischen Urteil, zu dem ich gelangt bin. (Denn man kann ja der Überzeugung sein, dass Handlung A ethisch besser wäre, sich aber trotzdem - z. B. aus Egoismus oder aus Angst oder aus Bequemlichkeit - für Handlung B entscheiden. 
  5. die ethische Verantwortungs-Ebene: Ich konfrontiere mich mit meinem Verhalten und "antworte" auf mögliche Vorwürfe der betroffenen Adressaten oder der Legitimationsinstanz, mit der ich konfrontiert bin. Ich akzeptiere die Schuld, die ich durch mein Verhalten auf mich geladen habe. Ich akzeptieren die Konsequenzen für meine Entscheidung und mein Verhalten. Ich bereue (oder auch nicht). Ich bitte um Entschuldigung (oder auch nicht). Ich leiste tastächliche oder symbolische Wiedergutmachung, wenn / soweit möglich. Ich versuche, etwas für mein weiteres Leben zu lernen. Wie auch immer: Verantwortung zu übernehmen heißt, sich als frei handelndes Subjekt zu begreifen und sich nicht in der Opfer-Rolle - als Opfer der Umstände, des Schicksals, der anderen, ...- zu sehen.

Beispiel Antigone

Das Drama "Antigone" des griechischen Dichters Sophokles stellt einen Verantwortungskonflikt in den Mittelpunkt (Bildquelle: piercepenniless.wordpress.com)
Das Drama "Antigone" des griechischen Dichters Sophokles stellt einen Verantwortungskonflikt in den Mittelpunkt (Bildquelle: piercepenniless.wordpress.com)

Die Geschichte

 

Antigone, die Protagonistin im antiken Drama "Antigone" von Sophokles, ist ein interessante Figur, die sich in einem Verantwortungskonflikt befindet.

 

Antigone ist die Tochter des tragischen Königs Ödipus. Nach dessen Tod kommt es zu einem blutigen Machtkampf zwischen ihren Brüdern Polineikes und Eteokles um die Thronfolge. Beide Brüder sterben. Antigones Onkel Kreon reißt die Macht an sich. Er befiehlt, dass Eteokles - so wie es das göttliche Gesetz es verlangt - ehrenvoll begraben wird. Doch Polineikes, dem er Verrat vorwirft, verweigert Kreon die Beerdigung. Seinen Körper sollen die wilden Tiere fressen. 

 

An dieser Stelle muss man wissen, dass die Schändung von Toten in sehr vielen Kulturen als grobe Verfehlung gilt. Und gerade in der griechischen Ethik ist es eine der größten Schandtaten gegenüber einem Menschen, ihm nach seinem Tod die Beerdigung zu verweigern. Denn seine Seele kann so nicht in den Hades gelangen. 

 

Antigone befindet sich in einem Verantwortungskonflikt: Die Götter - oder: ihr eigenes Gewissen - verlangen von ihr, ihren Bruder zu beerdigen. Der Machthaber Kreon verbietet genau diese Beerdigung. Wie auch immer Antigone handelt: Sie verletzt ein Handlungsgebot und macht sich in diesem Sinn schuldig. 

 

Antigone entscheidet sich dafür, Polineikes zu beerdigen. Sie stellt damit das Gebot der Götter über das Gesetz des Königs. Das ist eine Möglichkeit, ein ethisches Dilemma zu lösen. Die für uns interessante Frage ist, wie Antigone in der Folge mit ihrer Verantwortung umgeht und wie sie diese Verantwortung wahrnimmt. Denn Kreon erfährt, was sie gemacht hat, und er zieht sie zur Verantwortung.

 

Die Analyse der Situation im Hinblick auf das Thema Verantwortung

  • Verantwortungsträgerin: Antigone
  • Handlung, die Antigone zu verantworten hat: Beerdigung des Bruders Polineikes gegen das Gesetz des Königs
  • Adressaten der Handlung: der Bruder Polineikes, den sie beerdigt; König Kreon, dessen Gesetz sie missachtet
  • Legitimationsinstanzen: das eigene Gewissen (sagt: ist ok, du hast richtig gehandelt; oder es sagt: Shit, du hast Mist gebaut) <--> die Götter (die sagen: man muss Tote beerdigen) <--> König Kreon (der sagt: Ich dulde nicht, dass jemand meine Gesetze missachtet.)
  • Möglichkeiten, die Antigone im Umgang mit ihrer Verantwortung hat: 
    Möglichkeit 1: Verantwortung leugnen (z. B. "Ich war es nicht. Ich habe damit nichts zu tun." oder "Ich wusste nicht, dass es verboten war".) 
    Möglichkeit 2: Verantwortung akzeptieren und eigenes Fehlverhalten zugeben. ("Ich war es. Ich habe einen Fehler gemacht. Es tut mir leid und ich bereue, was ich getan habe. Ich werde es nie wieder tun.") 
    Möglichkeit 3: Verantwortung akzeptieren und es als richtig verteidigen. ("Ich war es. Ich habe es absichtlich gemacht. Was ich getan habe, war richtig. Ich würde es wieder tun.") 
  • Konsequenzen, die Antigone für ihr Fehlverhalten akzeptieren muss. 
    Möglichkeit 1: Kreon ändert seine Haltung. Er rehabilitiert Antigone. Denn er erkennt, dass seine eigene Regel falsch ist und findet im Nachhinein, dass Antigone richtig gehandelt hat. (Das wäre die Märchen-Variante. Zu einer antiken Tragödie und zum realen Leben passt sie eher nicht.
    Möglichkeit 2: Kreon ändert seine Haltung nicht. Aber er vergibt Antigone. Sie bekommt keine Strafe (oder zumindest nur eine milde symbolische Bestrafung) 
    Möglichkeit 3: Kreon ändert seine Haltung nicht. Er verteidigt sein Gesetz und seine Autorität mit aller Macht. Denn Milde oder ein Nachgeben würde als Signal verstanden, dass er sich nicht durchsetzen kann. Wenn Antigone ohne Strafe davonkommt, würde sie ihn sozusagen als Schwächling "vorführen", der Regeln erlässt, die man getrost ignorieren kann. Auch andere könnten auf "dumme Gedanken" kommen. 

Wie Antigone sich tatsächlich verhält und welche Dynamik die Geschichte dadurch bekommt, erfahren wir, wenn wir den Text lesen (oder zumindest nachlesen, was über das Drama im Internet zu finden ist. Zum Beispiel auf Wikipedia. 

 

 

Antigone als Beispiel für zivilen ungehorsam.

Was ist ziviler Ungehorsam? 

 

Was Antigone macht, würden wir heute als "zivilen Ungehorsam" bezeichnen. Damit ist gemeint, dass eine zivile Person (also kein Repräsentant des Staates, sondern ein Bürger oder eine Bürgerin) wissentlich ein staatliches Gesetz missachtet, weil sie dieses für falsch oder ethisch verwerflich hält. Wichtig ist, dass dies auf eine passive oder sonst gewaltfreie Weise passiert. Oft beruft diese Person sich dabei auf eine über dem Staat stehende "höhere Norm". Für die Autorität eines Staates ist ein solches Verhalten also immer eine besondere Provokation.

 

Dass man dabei mit "harmlosen" symbolischen Handlungen einen mächtigen Staat herausfordern kann, dass man für sein Anliegen viel Aufmerksamkeit bekommt und dass man so politische Veränderungen erzwingen kann, hat sich in der Geschichte immer wieder gezeigt. Mahatma Gandhi mit seinen "Salzmärschen" ist ein Beispiel dafür. 

 

Der passive Widerstand gegen das NS–Regime, wie er von den Mitgliedern der „Weißen Rose“ mit ihren Flugblättern ausgeübt worden ist, würden wir als zivilen Ungehorsam bezeichnen.  Ein weiteres historisches Beispiel für zivilen Ungehorsam war das bewusste Ignorieren von Rassentrennungsgesetzen in den Südstaaten der USA durch die Schwarzen-Rechts-Bewegung in den 60er-Jahren. Ebenfalls als zivilen Ungehorsam bezeichnen kann man illegale Besetzungsaktionen, weil man die Umwelt vor ihrer Zerstörung schützen oder Atomtransporte verhindern will.  (Hainburger Au 1984; Blockade von Eisenbahnschienen zur Verhinderung von Castor-Transporten nach Gorleben/Deutschland). Wenn Musliminnen im Jahr 2016 gegen das "Burka- und Burkini-Verbote" verstoßen oder Muslime Frauen gegenüber den Handschlag verweigern, sind auch das Formen des zivilen Ungehorsams. 

 

Man sieht: Ob und in welchem Zusammenhang ziviler Ungehorsam ethisch legitim ist, muss man immer im Einzelfall diskutieren. Denn einerseits ist es wichtig, dass staatliche Gesetze von allen akzeptiert und eingehalten werden; auch dann, wenn man sie persönlich nicht gut findet oder ablehnt. Denn nur so gibt es rechtliche Sicherheit und die Verlässlichkeit, die wir für ein zivilisiertes Zusammenleben in einer komplexen Gesellschaft brauchen.

 

Andererseits gibt es natürlich auch fragwürdige und schlechte Gesetze. Und demokratische Gesellschaften sollten auch harte Auseinandersetzungen aushalten. 

 

 

Was aber klar ist: Ziviler Widerstand ist immer als symbolische Provokation des Staates, gegen den er sich richtet, und gegen dessen Normen gedacht.  Und man muss sich sehr kritisch anschauen, auf welche "höheren Werte" und auf welche Legitimationsinstanzen sich jemand dabei beruft. Und wie "kompatibel" diese mit einer modernen, offenen, demokratischen Gesellschaft sind. 

 

Wie ziviler Ungehorsam zu bewerten ist, hängt außerdem auch von der Staatsform ab, in der er passiert. Denn in totalitären Gesellschaften haben Menschen kaum Möglichkeiten, legal und in Übereinstimmung mit dem Recht Gesetze zu bekämpfen, die sie als ethisch problematisch betrachten und die sie deshalb bekämpfen wollen. Wer in einer Demokratie zu illegalen Mitteln greift, muss also stärkere Maßstäbe an sich anlegen lassen als jemand, der das in einem diktatorischen oder totalitären Staat macht. 

 

Wer die Ethik und das "moralische Recht" auf seiner Seite hat, wenn er sich das Recht auf zivilen Ungehorsam herausnimmt, lässt sich manchmal erst mit zeitlicher Distanz bewerten. Manchmal auch gar nicht. 

 

Zivilcourage als kleine Schwester des zivilen Ungehorsams. 

 

 

 

Die "kleine Schwester" des zivilen Ungehorsams ist die Zivilcourage. Zivilcourage (Courage = Mut) bedeutet, dass jemand etwas macht, was erlaubt ist, aber dennoch Mut erfordert. Diese Person tut mehr, als man von ihr erwarten und verlangen kann und als ihre Pflicht ist. Sie macht das, weil sie es für ethisch notwendig und richtig hält. Zivilcourage zeigt zum Beispiel eine Person, die einem bedrohten Menschen zu Hilfe eilt und sich aktiv einmischt. Wer nur aus der Distanz einen Notruf auslöst, zeigt noch keine Zivilcourage. Die Grenzen zwischen Pflicht und Zivilcourage sind fließend. Sie hängen auch von den Umständen und den Personen ab. (Eine Feuerwehr-Frau tut meistens ihre Pflicht, wenn sie in ein brennendes Haus geht, um nach einer vermissten Person zu suchen. Ein Laie macht mehr, als man von ihm in einer solchen Situation verlangen kann.) Und auch die Grenzen zwischen Leichtsinn und Zivilcourage lassen sich nicht immer klar ziehen. 

 

gewalthaltiger Widerstand gegen staatliche Normen als radikalisierte Schwester des zivilen Ungehorsams. 

 

 

Daneben gibt es aber auch Menschen, die bewusst Gewalt in Kauf nehmen, um gegen als ungerecht empfundene politische Herrschaftsstrukturen oder gegen als ungerecht empfundene Rechtszustände anzukämpfen. Meistens legitimieren sie ihre Gewalt damit, dass sie sich auf "höhere Werte" oder auf Legitimationsinstanzen, die sie über den Staat stellen, berufen. 

 

Dazu zählen historisch gesehen Sabotageakte gegen die Transportverbindungen an die Front während des Zweiten Weltkriegs (Sprengen von Eisenbahnschienen), aber auch Attentatsversuche auf Hitler (Stauffenberg-Attentat vom 21. Juli 1944).

 

Ebenfalls in diese Gruppe fallen Terrorgruppen (die sich selbst ja immer als Widerstandsgruppen sehen) wie beispielsweise in den 60er-Jahren militante Südtirol-Aktivisten (sprengten z. B. Strommasten für einen Anschluss Südtirols an Österreich), die linken Brigate Rosse (Italien) oder die RAF (Deutschland). Ebenfalls in diese Gruppe zu zählen wären der Terror der IRA (Nordirland), der ETA (Spanien), der HAMAS (Israel), im Irak, ...

 

Noch weniger Hemmungen, Gewalt einzusetzen, um für ihre politischen Ziele zu kämpfen, haben die islamistischen Terrorgruppen, die mit den Anschlägen auf die Twintowers in New York (9/11) schlagartig bekannt geworden sind, vor allem AlKaida und der IS/DASH. Beide Gruppen haben keinerlei ethische Bedenken oder moralische Skrupel, wenn es darum geht, Gewalt einzusetzen, um ihre Ziele durchzusetzen. Anders als die Terrorgruppen am Ende des 20. Jahrhunderts gehen sie gezielt auf Zivilisten los. Anders als diese "alten" Terrorgruppen versuchen sie, möglichst viele Menschen zu töten und möglichst viel Angst und Schrecken zu verbreiten. Einmal ganz abgesehen von der Frage, welche politischen Ziele sie verfolgen. 

 

Die Bewertung von zivilem Ungehorsam und von gewalthaltigem politischem Widerstand (respektive Terror) können wir von folgenden Aspekten abhängig machen:  

 

a) vom staatlichen System, in das sie eingebettet sind

            Demokratie mit vielfältigen Möglichkeiten der Opposition / Meinungsbildung

            Diktatur ohne Möglichkeit einer freien Meinungsbildung

b) vom Ziel, das durch sie verfolgt wird

Schutz von Menschenleben

Schutz von Tieren 

Schutz der Umwelt
Politische Unabhängigkeit

Durchsetzung von Menschenrechten

Bekämpfung einer Diktatur und Errichtung einer Demokratie

Bekämpfung einer Demokratie und Errichtung einer Diktatur
Durchsetzung eines religiöses "Gottesstaats" und Beseitigung der zivilen / säkularen Ordnung

...

c) von den Mitteln, die angewendet werden

            passiver Widerstand / Ungehorsam ohne Gewalt

            Sachbeschädigung

            Gewalt gegen Tiere

            Gewalt gegen Menschen

            Gewalt gegen politisch Verantwortliche auf der Gegenseite

            Gewalt gegen Zivilisten / Unbeteiligte

 

d) von den Alternativen, die es sonst gäbe und die "verworfen" werden (und von den friedlichen und legalen Mitteln, die bereits versucht worden sind) 

 

  


Hintergrundinformation, Quellen und Arbeitsaufgaben

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Textausschnitt aus dem Drama "Antigone" von Sophokles
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