Judith Butler und die Queer-Theorie

Biographisches

J. Butler (Bildquelle: Wikipedia)
J. Butler (Bildquelle: Wikipedia)

Judith Butler ist eine us-amerikanische Philosophin und Philologin. Ihre Arbeiten werden dem Poststrukturalismus zugeordnet. Dabei geht es im Kern um die These, dass Sprache Wirklichkeit nicht einfach abbildet, sondern vielmehr durch die Kategorisierung und Ordnung, die sie erzwingt, Wirklichkeit schafft. Diese Thematik spielt Butler u.a. im Hinblick auf die Bedeutung und Bewertung von ethnischen und sexuellen Minderheiten durch. 

 

Butler wurde 1956 in Cleveland (USA) geboren. Ihre erste Konfrontation mit Philosophie war an einer jüdischen Schule. Mit 14 Jahren interessierte sie sich für philosophische und theologische Gedanken-Gebäude (z. B. von Baruch de Spinoza, von John Locke, von Montesquieu). Sie studierte an der University of Yale und konzentrierte sich auf europäische Philosophie. Heute unterrichtet Butler Rhetorik und Komparatistik in Berkeley (University of California). Sie hat auch immer wieder Gastprofessuren im deutschen Raum. J Butler positioniert sich auch politisch. Mit ihrer scharfen Kritik an der Politik der israelischen Regierung im Umgang mit Palästinensern löste sie heftige Reaktionen aus. 

 

Werke: 

  • 1988 erste Essays zu feministischen Theorien
  • 1990 erschien „Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity“ (dt: Das Unbehagen der Geschlechter)
  • 1993: "Bodies that matter" (dt: "Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts


Die Frage nach der eigenen Biographie und der Konstruktion von Identität(en)

Die Queer-Theorie

Die Queer Theory (von engl. queer = verquer, von der Norm abweichend) beschäftigt sich mit der Frage nach der sozialen Identität und ihrer Bewertung.  Dabei stellt sie traditionelle Denkgewohnheiten und Denkmuster radikal in Frage. Die Bezeichnung „Queer“,  die ursprünglich als Schimpfwort für Schwule gewesen ist, wird als Provokation und ironische Selbstbezeichnung gewählt. Queer wird so im öffentlichen Diskurs erfolgreich positiv "aufgeladen".


Zum Beispiel kritisiert Butler, dass es "die" Identität eines Menschen überhaupt gibt. Sie ist ihrer Meinung nach ein geistiges Konstrukt,  also ein Element der Welt der Ideen und nicht der realen physischen Welt. Wenn wir z. B. spätestens mit der Geburt die Menschen in weibliche Menschen und männliche Menschen einteilen, schaffen wir damit eine zweipolige Geschlechtlichkeit erst. Denn damit wird es sozial und psychisch relevant, ob jemand in die Kategorie "männlich" oder in die Kategorie "weiblich" zugeordnet wird. Problematisch ist das, weil so die betroffenen Menschen auch mit speziellen Erwartungshaltungen konfrontiert werden. Von diesen Erwartungen abweichendes Verhalten löst negative Reaktionen aus. Und wer nicht in die vorgefertigten Kategorien hineinpasst, muss mit negativen Reaktionen rechnen. 


Beispielsweise gilt das für die Frage nach der Geschlechtlichkeit eines Menschen. 


Judith Butler kritisiert das inzwischen weitgehend akzeptierte sex/gender System, also die Unterscheidung von einem sozialen Geschlecht und einem biologischen Geschlecht. Denn laut Butler sind die Begriffe biologisches Geschlecht und Geschlechtsidentität nur „Erfindungen“ durch soziale und sprachliche Aspekte der Gesellschaft. Die zweipolige Kategorisierung von Menschen in Männer und Frauen wird dabei nicht in Frage gestellt. Wer aber in diese zweipolige Kategorie "Mann" versus "Frau" hineinpasst - also z. B. Intersexuelle, Transsexuelle, maskuline Mädchen und Frauen, feminine Jungen und Männer, homo- oder bisexuelle Menschen, ... - bekommt den Stempel "nicht normal" aufgedrückt und wird diskriminiert. Butler meint, dass Geschlechtsidentität nichts Festes ist, dass sie sich im Laufe des Lebens immer wieder verändert und entwickelt und dass alle Menschen ihre Geschlechtsidentität ständig neu herausfinden müssen und sollen. 


Die Natur bietet keine zuverlässige Quelle für die Zuordnung zu einem Geschlecht. „Warum löst es Angst aus, wenn man jemanden nicht gleich einem Geschlecht zuordnen kann?“ 

 

Ähnliche Stigmatisierungen treffen auch andere Minderheiten, z. B. Angehörige religiöser Minderheiten, ethnische Minderheiten, Menschen mit einer Behinderung, ... 


Außerdem hat jeder Mensch viele unterschiedliche Identitäten oder Elemente, die für die Identität wesentlich sind, vom sozialen Milieu, in dem jemand aufgewachsen ist oder in dem jemand lebt, über die politischen oder sozialen oder beruflichen Themen, die einen Menschen beschäftigen, bis zum biologischen Geschlecht. 


Wenn Menschen wegen bestimmter Identitätsmerkmale diskriminiert oder abgewertet oder marginalisiert werden, geht es vor allem um Macht und die Verteidigung von egoistischen Interessen. 


In der Philosophie geht es darum, diese Konstruktionen und ihre Fragwürdigkeit sichtbar zu machen und zu dekonstruieren, also in ihre Teilbereiche zu zerlegen. 


Ein Weg dazu ist es, zu provozieren und Irritation auszulösen und Denkprozesse zu aktivieren, welche z. B. die Selbstverständlichkeit von heterosexuellen Normen und die Fixierung von Identitäten radikal in Frage stellen und "ent-naturalisieren". Somit leistet die Queer Theory einen Beitrag zur Wissensbildung. Das geht z. B., wenn zu einer abgewerteten Minderheit gehörende Menschen die sie abwertenden Begriffe ("Krüppel", "schwul", "Neger") selbst für sich in einem positiven Sinn verwenden und damit die abwertende Konnotation "unterlaufen" und die Begriffe neu definieren. Oder das geht, indem betroffene Menschen die Normen, die für die Kategorisierung benutzt werden, in provokativer Weise unterlaufen und so zum Diskutieren und Nachdenken zwingen. 

 

Politisch entwickelte sich Queer auch als Kritik an der Institutionalisierung und Etablierung ursprünglich gesellschaftskritischer Bewegungen; zum Beispiel der Frauenbewegung, die irgendwann zum "Mainstream" geworden ist und sich selbst in einengenden Konstrukten verfangen hat. Zum Beispiel, wenn Frauen und Männer, die traditionelle Normen für sich akzeptieren, als "reaktionär" kritisiert werden. Viele Betroffene sahen sich zunehmend nicht mehr in diesen Minderheiten-Bewegungen vertreten. 


A1: Schaue den ersten Teil des ARTE-Dokumentarfilms über Judith Butler an. Formuliere anschließend eine Statement zur Frage, wie Lebensgeschichte und philosophische Theorie bei Judith Butler zusammenhängen. 

 A2: Reflektiere und erkläre die folgenden Aussagen, die für die Queer-Theorie typisch sind. 

  • "Geschlechtlichkeit ist ein sprachliches Konstrukt." Was bedeutet diese Aussage? 
  • "Geschlechtlichkeit ist ein soziales Konstrukt." Was bedeutet diese Aussage?
  • "Das biologische Geschlecht ist eine Erfindung." Wie ist diese Aussage gemeint? Stimmst du zu? Warum (nicht)?
  • "Jeder Mensch hat viele und zum Teil widersprüchliche Identitäten". Erkläre diese Aussage beispielhaft. 
  • "Identität, z. B. geschlechtliche Identität, ist nichts Festes. Sie verändert sich im Laufe des Lebens immer wieder." Wie ist diese Aussage zu verstehen? Veranschauliche sie mithilfe von Beispielen. 

A3: 2014 wird Conchita Wurst / Tom Neuwirth durch den Sieg im Eurovision Song Contest berühmt. Inwiefern ist sie / er jemand, der zur Auseinandersetzung mit der Frage nach der Geschlechtsidentität und nach Geschlechtsrollen zwingt? Welche Denkgewohnheiten und (Vor)Urteile könn(t)en dadurch aufgebrochen werden? Wie wäre dies im Rahmen der Queer-Theorie zu sehen und zu interpretieren? 

A4: Am Beispiel Intersexualität und am Umgang mit intersexuell geborenen Kindern lässt sich die Thematik konstruierter und zugewiesener Identität besonders deutlich zeigen. Erkläre ausgehend vom Interview mit der betroffenen Lucie Veith (Zeit online), welche Kritikpunkte an der gesellschaftlichen Norm der Zweigeschlechtlichkeit und an der Praxis der Zuordnung aller Menschen zu einem der beiden Geschlechter intersexuelle Menschen formulieren. Welche "Dynamiken" führen wahrscheinlich dazu, dass intersexuell geborene Kinder in der Vergangenheit operativ an ein bestimmtes biologisches Geschlecht angepasst worden sind? Was verändert sich, wenn man das heute nicht mehr macht? 

A5: Zeige an einem oder an zwei konkreten Beispielen, dass sich Vorstellungen von "normal" oder "natürlich" durch gesellschaftliche Diskussionen und / oder Konflikte fundamental verändert und eventuell sogar in ihr Gegenteil verkehrt haben. 


Internetlinks, Quellen: