Stellungnahme eines islamischen Religionswissenschaftlers zum Karikaturenstreit 2006

"Es geht um das Spannungsfeld von Meinungsfreiheit und Ehrenschutz"[1]

Von Prof. Dr. Muhammad Kalisch[2]


(…) Die Darstellung des Propheten Muhammad wird im Islam meistens unterlassen und selbst dort, wo man ihn unbedingt darstellen wollte, tat man dies in der Regel ohne das Gesicht zu porträtieren. Der Islam hat eine generelle Abneigung gegen Personendarstellungen ausgebildet, die damit zusammenhängt, dass die Bilddarstellung als Götzendienst oder mindestens Einfallstor für den Götzendienst betrachtet wird. An Stelle der bildlichen Darstellung von Menschen trat im Islam als Kunstform die Kalligraphie. Koranverse, aber auch die kalligraphische Darstellung der Namen des Propheten, seiner Familie oder seiner Gefährten schmücken die Moscheen. Die Darstellung des Propheten wird also grundsätzlich abgelehnt, selbst zum Zwecke der positiven Darstellung. Die Beleidigung und Schmähung des Propheten aber wurde von den muslimischen Juristen als ein Straftatbestand betrachtet, der mit dem Tode bestraft werden muss, wobei dieser Straftatbestand auch auf Nichtmuslime, die auf islamischem Territorium lebten, angewendet wurde.

Für all diese Dinge gibt es keine direkte Grundlage im Koran. Allenfalls die Überlieferung vom Propheten bietet hier Grundlagen, auf die man sich stützen kann. Die Authentizität dieser Überlieferung aber war und ist umstritten, auch unter Muslimen, wenngleich im Laufe der historischen Entwicklung sich bei den Muslimen eher diejenigen durchgesetzt haben, die der Überlieferung recht großes Vertrauen zu schenken geneigt sind.

(…)

Spätestens seit der Rushdie-Affäre weiß man in Europa, wie gekränkt Muslime auf etwas reagieren, dass sie als Beleidigung des Propheten empfinden. Die Zeitung Jyllands-Posten hat dies gewusst. Aus der nicht gerade rühmlichen Vergangenheit dieses Blattes und seiner Rolle in der dänischen Gegenwartspolitik ist zu schließen, dass diese Zeitung genau das beabsichtigt hat, was nun passiert ist. Man wusste, dass viele Muslime so reagieren würden, wie sie nun reagieren und genau das war sicher auch beabsichtigt. Nun kann man sie vorführen als fanatische Irrationalisten, die eine Gefahr für die Meinungsfreiheit der westlichen Welt darstellen. Indem man dies tut, nämlich eine in der Tat irrationale und rein emotionale Ebene bei den Muslimen reizt, um diese zu irrationalen Handlungen zu verleiten, beabsichtigt man, bei den Nichtmuslimen genau diese Ebene ebenfalls zu aktivieren, die man den Muslimen - in diesem Fall völlig zu Recht! - vorwirft, nämlich eine irrationale und rein emotionale Ebene, die sich nun bei Nichtmuslimen als Islamophobie, die keine kritischen Fragen oder Differenzierungen mehr kennt, äußert. Es geht um Hetze und die Ausschaltung von differenziertem Denken. Bei der bisherigen politischen Linie von Jyllands-Posten habe ich keine Bedenken, genau diese Strategie zu unterstellen.

Es haben insgesamt nur wenige Muslime gewaltbereit und fanatisch reagiert und es scheint vor allen Dingen so zu sein, dass so manche Regierung im Nahen Osten versucht, durch Anheizung des Themas von innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken. Dennoch wird seit Tagen immer wieder vom „Kampf der Kulturen“ gesprochen und es wird davon geredet, wie zurückgeblieben der Islam doch sei, der das hohe Gut der Meinungsfreiheit nicht so zu schätzen wisse wie die aufgeklärten Europäer. Gerade die Konservativen singen dieses hohe Lied der Aufklärung. (…)

Somit nun zum eigentlichen Kern des Problems im gegenwärtigen Streit. Wie soll eine Gesellschaft mit der Verletzung religiöser Gefühle umgehen? Wie soll das Spannungsverhältnis von Meinungsfreiheit und religiösen Empfindungen gelöst werden?

Ich muss gestehen, dass ich die emotionale Aufwallung vieler Muslime nicht verstehen kann. Ich finde die Karikaturen geschmacklos und sie sagen viel aus, über das mangelnde Niveau desjenigen, der sie gezeichnet und veröffentlicht hat. Aber warum sollte es mich treffen? Ich weiß, dass viele Menschen den Islam und die Muslime nicht mögen. Der Prophet Muhammad wird vielfach verunglimpft und selbst die Wörter „Mörder“ und „Kinderschänder“ werden immer wieder gerne im Zusammenhang mit ihm genannt. Was macht es für einen Unterschied, ob diese Leute ihren Hass für sich behalten, ihn aussprechen oder in Form von Karikaturen verbreiten? Ich weiß, dass der Prophet nicht so gewesen ist und ich weiß, dass der Islam anders ist, als viele Gegner des Islam (…) ihn darstellen, wenngleich ich mir der Tatsache bewusst bin, dass es natürlich auch Muslime gibt, die durchaus dem Bild entsprechen, das viele sich im Westen von den Muslimen machen. Der Islam ist eine Weltreligion mit unterschiedlichen theologischen und regionalen Ausprägungen wie alle anderen Religionen auch und wie in allen anderen Religionen gibt es auch im Islam gewaltbereite intolerante Fanatiker.

Diese Fehlvorstellungen vom Islam zu korrigieren, ist kaum möglich, wenn wir Muslime genau den Vorstellungen entsprechend reagieren, die sich andere über uns machen. Diejenigen, die den Islam verunglimpfen, weil sie es nicht besser wissen, wird man nur dadurch vom Gegenteil überzeugen, dass man einen anderen Islam vorlebt als den der radikalen und gewaltbereiten Fanatiker. Diejenigen, die falsche Vorstellungen über den Islam verbreiten und dies wissentlich und willentlich, also vorsätzlich, tun, wird man von ihrem Hass ohnehin nicht abbringen können.

Manche Muslime leben in der irrigen Vorstellung, dass solche Aktionen, wie sie derzeitig vorkommen, den Respekt vor dem Islam erhöhen würden. Das ist natürlich falsch und eine Verwechselung von Angst und Respekt. Die Nichtmuslime bekommen keinen Respekt vor uns, sondern Angst. Sie halten uns einfach für gemeingefährliche Irre und das kann man ihnen angesichts der Reaktionen mancher Muslime nicht einmal übel nehmen. Der Koran hingegen ermahnt uns, sich nicht auf das schlechte Niveau anderer herabzulassen:

„Die gute Tat und die schlechte Tat sind nicht gleich. Wehre mit einer besseren Tat ab, dann wird der, zwischen dem und dir Feindschaft herrscht, wie ein enger Freund“ (Sure 41, Vers 34)

(…) Ein strafrechtlicher Schutz von Religion und religiösen Gefühlen ist schon deswegen unsinnig und abzulehnen, weil sich der Tatbestand niemals genau definieren lässt und dadurch automatisch immer in die Nähe von Willkür gelangt. Willkür aber ist für einen rechtsstaatlichen Juristen das schärfste Unwerturteil überhaupt. Diese Undefinierbarkeit des Tatbestandes ist die Folge der Tatsache, dass jeder Mensch eine unterschiedliche Wahrnehmung davon hat, wann er sich in seinen religiösen Gefühlen beleidigt fühlt. Bei religiösen und philosophischen Auffassungen kommt nun noch das Problem hinzu, dass das, was für den einen blanker Unsinn ist, für den anderen eine unumstößliche Wahrheit darstellen kann.

Darf die Evolutionstheorie nicht mehr gelehrt werden, weil sich Kreationisten dadurch beleidigt fühlen? Dürfen der Papst oder Ayatollah Khamenei nicht mehr kritisiert werden, weil ihnen blind ergebene Anhänger darin eine Beleidigung ihrer religiösen Gefühle sehen? Schon diese Beispiele zeigen, wie absurd der Schutz des religiösen Bekenntnisses durch das Strafrecht ist. Wo ist die Grenze und wer sollte sie ziehen? Sollen wirklich Rabbiner, Priester und Mullahs über die Grenzen der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit entscheiden dürfen? – Gott bewahre! (…) Wer den Papst für einen Verbrecher oder Muhammad für einen Mörder hält, der muss dies auch sagen dürfen. Wer eine Gesellschaft will, die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit anerkennt, der muss damit leben, dass es Menschen gibt, die seine weltanschaulichen Auffassungen nicht teilen und Dinge für Unsinn halten, die er selbst als Wahrheiten betrachtet. (…) Im Spannungsfeld von Meinungsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit einerseits und Religion andererseits muss es eine absolute Freiheit der Meinung und der Wissenschaft geben, auch wenn dies religiöse Gefühle verletzen mag. Jeder Versuch, hier zu begrenzen, ist mit dem Wesen der eben genannten Grundfreiheiten nicht zu vereinbaren und alle historische Erfahrung zeigt, dass dabei nichts Gutes herauskommen kann.

Dennoch gibt es Grenzen. Diese Grenzen betreffen aber nicht das religiöse Bekenntnis von Personen, sondern ihre Personenwürde. Wenn die Anhänger irgendeines religiösen Bekenntnisses, seien es Juden, Christen, Muslime, Hindus, Bahais oder wer auch immer, in Karikaturen oder anderen Meinungsäußerungen so dargestellt werden, dass sie als eine bloße Masse erscheinen, der unterschiedslos ohne jegliche individuelle Differenzierung unbestritten als negativ begriffene Eigenschaften wie Lüge, Falschheit, Betrügerei oder gar Mordlust zugeschrieben werden, dann ist ohne Zweifel die Würde des Menschen verletzt und es liegt eine hetzende Darstellung vor. Ein Muslim oder Christ muss es hinnehmen, wenn seine Religion als mordlüstern, hinterwäldlerisch oder antidemokratisch bezeichnet wird, auch wenn dies Unsinn ist. (…) Die Freiheit der Meinung und der Wissenschaft wird hier dafür sorgen, dass Hetzer und Demagogen nicht die Oberhand gewinnen. Es wird viel Unsinn über den Islam geschrieben und es gibt sehr einseitige Darstellungen. Dem stehen aber auch sehr differenzierte und verteidigende Darstellungen gegenüber. Ich bin der festen Überzeugung, dass in einer Gesellschaft, die konsequent die Freiheit der Meinung und der Wissenschaft garantiert, sich auf Dauer immer ein differenziertes Bild einer Religion in der öffentlichen Diskussion ergibt und Darstellungen, die völlig einseitig und bewusst verzerrend sind, immer auf starke Kritik stoßen werden. Es gibt ohne Zweifel Darstellungen des Islam, deren Autoren bewusst Fakten einseitig auswählen und die Dinge verzerren mit dem Ziel, zu hetzen. Daneben gibt es aber auch Darstellungen des Islam, die eine Darstellung und Wertung von Fakten beinhaltet, die von einem Muslim nicht geteilt werden, ohne dass der Autor damit Hetze oder bewusste Verzerrung beabsichtigt. Weil sich aber diese beiden Fälle niemals gerichtlich sicher unterscheiden lassen könnten, muss zur Wahrung der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit in Kauf genommen werden, dass diese auch missbraucht werden kann. Die Anhänger einer jeden Religion müssen nun einmal bereit sein, sich auch harte Kritik an ihrer eigenen Religion anhören zu müssen.

(…) Das Problem liegt darin, dass wir Muslime vielfach nur noch als eine einheitliche Masse gesehen werden, die ausnahmslos und undifferenziert mit negativen Attributen belegt wird. Der Islam und wir Muslime werden zu einem Feindbild aufgebaut mit Mitteln teilweise übelster Hetze. Es wird nicht mehr differenziert. Eine kleine Gruppe gewalttätiger Terroristen wird mit einer ganzen Religionsgemeinschaft identifiziert. Wir sollen uns ständig von Terror und Gewalt distanzieren, was unterstellt, es sei grundsätzlich zu vermuten, wir würden dies gutheißen. Gegen Muslime wird – leider auch mit Billigung durch Politiker dieses Landes, wie der „Muslimtest“ in Baden-Württemberg zeigt – ein Generalverdacht aufgebaut. (…)

Der heutige Islamismus identifiziert eine bestimmte theologische und juristische Auffassung mit dem Islam selbst. Dagegen ist solange nichts einzuwenden, solange das Rechte andere Auffassungen zu vertreten, nicht eingeschränkt wird. Es hat nie einen einheitlichen Islam gegeben, weder im Recht, noch in der Theologie. Es gibt im Islam keine Instanz, die für alle Muslime verbindlich ist. Der Koran sagt „Es gibt keinen Zwang im Glauben“ (Sure 2, Vers 256) und die Mehrheit der muslimischen Theologen lehrt, dass Glaube nur dann gültig ist, wenn er durch persönliches Nachdenken verifiziert worden ist und nicht einfach aus Tradition blind übernommen wurde. (…)

Die islamische Welt steckt in einer tiefen Krise. Diese Krise ist zum Teil selbst verschuldet und kann nur überwunden werden, wenn in der islamischen Welt im islamischen Denken Veränderungen passieren. Wenn morgen die Vereinigten Staaten sich plötzlich völlig aus der Weltpolitik zurückziehen würden, würde das Chaos in der islamischen Welt nicht enden, denn die eigentlichen Ursachen der Krise liegen eben auch in der islamischen Welt selbst. Nur wenn die Muslime dies erkennen und nicht ständig die Verantwortung auf andere schieben, wird es ihnen gelingen, aus der Krise herauszukommen. Das islamische Denken braucht eine Erneuerung. (…)

Mir scheint, dass es auf beiden Seiten massive Kräfte gibt, die eine Konfrontation anstreben. Es gibt radikal-islamistische Kräfte, die unbedingt gegen den Westen kämpfen und ihre Vorstellung eines islamischen Staates verwirklichen wollen. Diese Kräfte sind undemokratisch und antipluralistisch. Sie propagieren eine islamische Gesinnungsdiktatur ohne demokratische Legitimation und Meinungsfreiheit und fordern unentwegt Verständnis für ihre Positionen, ohne sich Gedanken über die Sichtweise der Anderen zu machen. Umgekehrt gibt es auf westlicher Seite Kräfte, denen sehr daran gelegen ist, einen Unruheherd im Nahen Osten zu haben und denen nach dem Wegfall des Ostblocks das Feindbild Islam willkommen ist. Auch hier wird ganz selbstverständlich aus einer rein westlichen Perspektive argumentiert, ohne sich über die Sichtweise der Anderen Gedanken zu machen. (…) Es gibt aber auch auf westlicher wie islamischer Seite Politiker, Wissenschaftler, Journalisten, Geschäftsleute und vor allem große Bevölkerungsteile, die keinen Konflikt und erst recht keinen Krieg wollen. Der Kampf der Kulturen, scheint mir daher längst nicht zwangsläufig zu sein, auch wenn mancher das gerne so hätte.



[1] http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Islam/karikaturen-kalisch.html

[2] Prof. Dr. Muhammad Kalisch ist seit 2004 Inhaber des Lehrstuhls für Religion des Islam an der Universität Münster.

 

 

Arbeitsaufgaben / zum Weiterdenken

  1. Welche Bedeutung haben das Bilderverbot (Mohammed, Gott) im Islam grundsätzlich? Gibt es hier einen wesentlichen Unterschied zum Christentum? Inwierfern?
  2. Wie deutet Kalisch die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen durch die dänische Zeitung "Jyllands-Posten"? Wie plausibel ist seine Deutung? Könnte man hier eine Parallele zur Veröffentlichung des Anti-Islam-Films auf Youtube 2012 sehen? Wenn ja: inwiefern?
  3. Kalisch behauptet, dass nur wenige Muslime gewalttätig reagiert oder gewaltbereit aufgetreten seien. Ähnliches könnte man vermutlich auch für den Konflikt im Jahr 2012 sagen. Wenn das so ist: Wodurch entsteht aber der gegenteilige Eindruck, wonach "die islamische Welt" mit Gewalt auf den islam-kritischen (oder: islamfeindlichen oder den Islam diffamierenden oder gegen die Muslime hetzenden) Film reagiere? Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Medien? Welchen Gesetzmäßigkeiten folgt die Berichterstattung in den Medien?
  4. Wie positioniert sich Kalisch im Spannungsfreld zwischen dem Grundwert Religionsfreiheit / Glaubensfreiheit einerseits und dem Grundwert Meinungsfreiheit (samt dem Recht auf Kritik und Satire)? Welche Form der Religionskritik muss seiner Meinung nach von religiösen Menschen akzeptiert / geduldet werden? Welche Form der Religionskritik muss nicht geduldet werden? Wie plausibel erscheint dir die Argumentationslinie?
  5. Kalisch unterscheidet zwischen Islam und Islamismus. Was ist der Unterschied? Wie könnte man beide Positionen definieren?
  6. Kalisch sieht für einen Teil der Probleme und einen Teil der gewaltbereiten Reaktion in Problemen innerhalb muslimischer Gesellschaften / innerhalb von Staaten mit muslimischer Mehrheit. Welche Beispiele führt er an? Wie argumentiert er? Was wären ev. aktuelle Beispiele für diese Thematik? 
  7. Kalisch behauptet, es gebe auf beiden Seiten des Konflikts radikale Kräfte, die an einer Eskalation interessiert seien. Anti-islamische, radikale Kräfte im Westen und anti-westliche radkale Kräfte in der muslimischen Welt. Teilst du diese Sichtweise? Welches Interesse könnten die jeweiligen Gruppierungen verfolgen? Inwiefern könnten sie von einer Radikalisierung und einer Zuspitzung der Situation und von stereotypen anti-westlichen oder anti-islamischen Klischeebilder profitieren? 
  8. Formuliere eine persönliche Stellungnahme zu den Gedanken Kaleschs oder zur aktuellen Auseinandersetzung über den Film oder zur Frage nach legitimer Religionskritik und/oder legitimen Grenzen der Meinungsfreiheit.