"Auf die Folgen kommt es an". Teleologische Ethik

Ein Gedankenexperiment ... 

Was ist Utilitarismus

Die Auffassung, für die die Nützlichkeit oder das Prinzip des größten Glücks die Grundlage der Moral ist, besagt, dass Handlungen insoweit und in dem Maße moralisch richtig sind, als sie die Tendenz haben, Glück zu befördern, und insoweit moralisch falsch, als sie die Tendenz haben, das Gegenteil von Glück zu bewirken. Unter "Glück" (happiness) ist dabei Lust (pleasure) und das Freisein und Unlust (pain), unter "Unglück" (unhappiness) Unlust und das Fehlen von Lust verstanden. (....) Die Norm des Utilitarismus ist nicht das größte Glück des Handelnden selbst, sondern das größte Glück insgesamt; und wenn es vielleicht auch fraglich ist, ob ein edler Charakter durch seinen Edelmut glücklicher wird, so ist doch nicht zu bezweifeln, dass andere durch ihn glücklicher sind und dass die Welt insgesamt durch ihn unermesslich gewinnt. Der Utilitarismus kann sein Ziel daher nur durch die allgemeine Ausbildung und Pflege eines edlen Charakters erreichen, selbst wenn für jeden Einzelnen der eigene Edelmut eine Einbuße an Glück und nur jeweils der Edelmut der anderen einen Vorteil bedeuten würde.(John Stuart Mill: "Der Utilitarismus"; 1864)

 

Teleologische Handlungstheorien (von griech.: „telos“ = Ziel, Zweck) gehen davon aus, dass ausschließliche die Folgen einer Handlung über ihre ethische Qualität entscheiden. Sie besagen, dass eine Handlung dann ethisch geboten ist, wenn die Folgen, die sie nach sich zieht, besser sind als die Folgen jeder möglichen Handlungsalternative.

 

Die bekanntesten und wichtigsten teleologischen Theorien sind utilitaristische Theorien (von engl. utility = Ziel, Zweck). Von anderen teleologischen Handlungstheorien unterscheidet sich der Utilitarismus dadurch, dass er in seinen Theorien die Folgen für alle von einer Handlung Betroffenen gleichermaßen berücksichtigt.

 

Teleologische Theorien haben sich vor allem im angelsächischen Raum entwickelt. Historische Vertreter sind vor allem Jeremy Bentham (1748 – 1832) und John Stuart Mill (1806 – 1873). Ein Vertreter eines sehr strengen teleologischen Ansatzes in der Gegenwart ist der Australier Peter Singer. Im deutschsprachigen Raum sind Norbert Hörster und Dieter Birnbacher Vertreter eines (insgesamt aber eher etwas abgeschwächteren) utilitaristischen Ansatzes.

 

Um eine Handlung auf ihre ethische Vertretbarkeit hin zu untersuchen, ist es also zunächst wichtig, auf die Folgen einer Handlung zu achten. Eine erste Herausforderung in diesem Zusammenhang ist, die Folgen überhaupt vorherzusagen. Und die zweite darauf folgende Herausforderung ist, die Folgen zu gewichten (also in irgendeiner Form zu quantifizieren) und positive und negative Folgen gegeneinander abzuwägen. 

 

Der klassische Utilitarismus setzt hier das „größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl“. Damit soll verhindert werden, dass das immense Glück eines Einzelnen oder einer kleinen Gruppe auf Kosten des Unglücks eines anderen oder einer großen Gruppe – eine Person A beutet die Arbeitskraft einer Person B aus, wird dadurch aber unermesslich wird – ethisch legitimiert wird.

Welche Herausforderungen stellen sich im Rahmen einer utilitaristischen Ethik? 

In der Theorie scheint der Utilitarismus auf den ersten Blick eine außerordentlich klare und einfache Theorie zu sein, was für philosophische Theorien alles andere als selbstverständlich ist. Wenn wir den Ansatz aber genauer reflektieren, stechen uns wahrscheinlich sehr schnell ungeklärte Fragen ins Auge.

 

Eine  erste Herausforderung für einen ethischen Utilitarismus ist die Frage, ob mit den Folgen einer Handlung die tatsächlichen Folgen dieser Handlung oder die intendierten (also beabsichtigten) Folgen dieser Handlung gemeint sind. Denn in der Praxis ist es ja so, dass Handlungen oft gravierende, aber nicht beabsichtigte, manchmal nicht einmal absehbare Folgen nach sich ziehen können. (Eine Person A spendet für ein Hilfsprojekt zur Nahrungsmittelversorgung von Menschen nach einem Erbeben im Land Y. Das Geld wird aber vom Paramilitärs gestohlen, die damit Waffen kaufen, mit denen sie auf die Zivilbevölkerung schießen. Intendiert ist, hungernden Menschen zu helfen. Tatsächlich bewirkt wird die Tötung von Menschen). Ein Regelutilitarismus versucht dieses Problem insofern abzuschwächen, als dass er die beabsichtigten Folgen stärker gewichtet als die tatsächlichen, was bei einem reinen Handlungsutilitarismus nicht der Fall wäre.

 

Dann stellt sich das Problem, dass in der Praxis eine Abschätzung der Folgen oft alles andere als einfach ist und mit vielen Unsicherheitsfaktoren verbunden sein kann. (Wenn ein Arzt z. B. vor der Entscheidung steht, die intensivmedizinische Versorgung eines viel zu früh geborenen Neugeborenen mit neurologischen und anderen organischen Schädigungen zu beenden, kann es sehr schwer sein, abzuschätzen, ob das Kind nicht trotz intensivmedizinischer Betreuung sterben wird und die weitere Therapie damit nur eine Verlängerung von Leid ist, ob das Kind vielleicht durch schwere organische Schädigungen bei einem Überleben in ein schwer belastetes Leben entlassen wird, ob es sich trotz Behinderung vielleicht zu einem glücklichen Kind entwickeln wird, ob die neurologischen Schädigungen vielleicht weniger dramatische Folgen haben als nach medizinischem Wissensstand zu vermuten ist etc.)

 

Eine weitere Herausforderung ist, dass Utilitaristen Folgen quantifizieren müssen. Nicht zuletzt das „Glück“ oder das „Vermeiden von Unglück oder Leid“, auf das für die meisten Utilitaristen Handlungsfolgen zurückführen, lässt sich aber nur schwer (Gegner sagen: gar nicht) objektiv quantifizieren. Zunächst einmal ist Glück ebenso wie Unglück oder Leid ein höchst subjektives Gefühl, das von äußeren Lebensumständen ziemlich unabhängig sein kann (aber nicht muss). Nicht zuletzt sagen viele Menschen mit einer Behinderung und viele kranke Menschen, deren Leben von außen betrachtet vielen anderen Menschen als nicht sehr glücklich erscheinen mag, dass sie ihr Leben trotz ihrer Behinderung oder trotz ihrer Krankheit und trotz der Leiden, die sie ertragen müssen, ein sinnerfülltes und glückliches Leben sei. Zweitens ist fraglich, ob tatsächlich Glück der Maßstab ethischen Handelns sein soll oder darf. Denn im menschlichen Leben sind es oft genug Lebenskrisen und Phasen des Unglücks, die dazu führen, dass Menschen an ihnen reifen.

 

Eine weitere Herausforderung ist, dass sie die Folgen einer Handlung räumlich und zeitlich definieren müssen. Die Frage, wer von einer Handlung überhaupt betroffen ist, lässt sich alles andere als einfach beantworten. Am Beispiel Schwangerschaftsabbruch nach einer PND: Unstrittig ist wahrscheinlich, dass von einem Schwangerschaftsabbruch nach einer PND sowohl der Embryo als auch die schwangere Frau unmittelbar betroffen sind. Ebenfalls unmittelbar betroffen sind wohl die Ärztin, die den Schwangerschaftsabbruch durchführen soll, und der Partner sowie eventuelle weitere Kinder in der Familie. Eine Frage ist aber, ob und bis zu welchem Grad auch andere schwangere Frauen, Menschen mit Behinderung, die „Gesellschaft als Ganzes“ von einer solchen Handlung betroffen sind. Zeitlich gesehen ist die Frage, ob auch eventuelle weitere Kinder der schwangeren Frau, die ja noch gar nicht existieren, oder zukünftige andere Embryonen bei anderen schwangeren Frauen, bei denen eine Behinderung diagnostiziert sind, von der Handlung betroffen sein können (wie Peter Singer dies in seinen Überlegungen teilweise argumentiert).

 

Manche utilitaristische Philosophen (z. B. Peter Singer) versuchen das Verteilungsproblem, das sich im Utilitarismus prinzipiell ergibt, durch eine Präferenz-Setzung zu umgehen. Man bezeichnet einen solchen Utilitarismus demzufolge auch als Präferenz-Utilitarismus. In dieser Spielart des Utilitarismus werden von einer Handlung Betroffene nach bestimmten Kriterien als mehr oder weniger stark Betroffene kategorisiert. Betroffenheit wird dann von bestimmten psychischen Faktoren, die unmittelbar mit Erlebensfähigkeit in Zusammenhang stehen, abhängig gemacht. Nur wer Betroffenheit erleben kann, ist von einer Handlung auch wirklich betroffen. Damit kommen neben den Kriterien wie Leidensfähigkeit auch Kriterien wie Bewusstsein (stärker: Selbst-Bewusstsein), Kommunikationsfähigkeit oder Interessensfähigkeit ins Spiel. Nur jemand, der über diese Fähigkeiten zumindest in rudimentärer Form verfüge, könne Betroffenheit erleben und damit von einer Handlung auch betroffen sein.

 

Es ist leicht nachvollziehbar, dass es gerade diese Positionierung ist, die massive Widersprüche gegen den Utilitarismus (und oft auch gegen die PhilosophInnen, die diese Position vertreten), provoziert. Denn sie ist es, die eine Bewertung menschlichen Lebens von bestimmten psychischen Faktoren abhängig macht und damit für eine abstufende Bewertung menschlichen Lebens im Hinblick auf dessen Schützenswertigkeit die Tür öffnet. Das Konzept von Menschenwürde, das allen Menschen unabhängig von ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten gleichermaßen zukommt, steht hier zur Disposition. 


Philosophische Einwände gegen den Utilitarismus

Philosophische Kritik am Utilitarismus setzt vor allem beim letztgenannten Aspekt an und spitzt ihn zu: Das zentrale philosophische Argument gegen den Utilitarismus ist, dass er nicht in der Lage ist, Grundwerte zu schützen. Grundwerte, die in einer Gesellschaft verbindlich festgelegt worden sind, müssten in dem Fall aufgegeben werden, in dem die Folgen einer Grundwertverletzung besser sind als die Folgen einer Grundwertbeachtung. (Diese Problematik stellt sich für einen Handlungsutilitarismus in viel schärferer Form als für einen Regelutilitarismus, sie betrifft aber auch den Regelutilitarismus.)

 

Was das heißt, lässt sich an einem – zugegebenermaßen etwas makaber anmutenden - Gedankenexperiment leicht nachvollziehen:

 

Nehmen wir folgendes an: Eine Person A. kommt zu einer Routineuntersuchung in ein Krankenhaus. Der Arzt stellt fest, dass sie vollkommen gesund ist. Er stellt aber weiter fest, dass die Person A. zufälligerweise eine ganz besondere Eigenschaft hat: Auf der Station warten verschiedene Personen dringend auf ein Spenderorgan, wenn sie in kurzer Zeit keine passende Organspende bekommen, müssen sie sterben. Eine Person B. braucht dringend ein neues Herz, eine Person C. braucht eine neue Leber, eine Person D. braucht eine Lungentransplantation, eine Person E. braucht eine Lebertransplantation. Zufälligerweise wäre A. die ideale Spenderperson für die vier todkranken Patienten. Wie müsste ein utilitaristisch handelnder Arzt sich verhalten?

 

Es ist leicht nachvollziehbar, dass ein utilitaristisch handelnder Arzt die gesunde Person A „opfern“ müsste, um damit das Leben der vier anderen Personen zu retten, weil in diesem Fall die Folgen eindeutig besser wären als durch eine Unterlassung dieser Handlung.

 

Es ist ebenso leicht  nachvollziehbar, dass ein solches Verhalten ethisch indiskutabel wäre. Es bliebe sogar ethisch indiskutabel, wenn wir – um Einwänden, die ein Präferenz-Utilitarismus prinzipiell noch machen könnte, zu begegnen – annehmen, dass die Person A. darüber hinaus schwer depressiv ist, eigentlich gar nicht mehr leben möchte und dem Arzt mitteilt, sie plane, sich selbst das Leben zu nehmen, indem sie sich vor einen Zug werfe (womit die Person A. ebenfalls ihr Leben verlieren würde und zusätzlich als Organspender mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr in Frage käme.) 


abrundende Bewertung des Utilitarismus

Für utilitaristische ethische Handlungstheorien spricht, dass sie die ethische Bewertung von Handlungen von deren Folgen abhängig macht. Die Folgen, die eine Handlung nach sich zieht, ethisch zu berücksichtigen, ist prinzipiell richtig und philosophisch gut argumentierbar. In sehr vielen Fällen ist dies auch mit dem, was Menschen allgemein als richtig empfinden, und mit dem, was staatliches Recht zur argumentativen Grundlage macht, kohärent. Eine Ethik, die Folgen einer Handlung für deren Bewertung prinzipiell ausklammert, kippt unweigerlich in einen ethischen Dogmatismus (wie wir bei der Diskussion deontologischer Handlungstheorien sehen können).

 

Gegen eine ausschließlich utilitaristisch argumentierende Ethik spricht aber, dass in einer solchen Ethik Grundwerte, insbesondere der Grundwert der Menschenwürde, nicht geschützt werden können. Menschenwürde ist aber ein zwar in vielerlei Hinsicht nach wie vor etwas schwammiges und unklares, dennoch eminent wichtiges Grundprinzip in der Diskussion ethischer Konfliktbereiche wie Schwangerschaftsabbruch, Therapiebegrenzung, Embryonenforschung, PID und PND, Töten auf Verlangen u. a. m.


Arbeitsaufgaben

A1: Beschreibe das Gedankenexperiment, das im Youtube-Film vorgestellt wird. Erkläre, inwiefern es dabei um den Grundansatz des Utilitarismus geht. Zeige an diesem Beispiel, welche grundlegenden Fragen sich stellen, wenn wir sagen: "Bei der ethischen Bewertung einer Handlung geht es um die Folgen, die eine Handlung nach sich zieht."


 A2: Zeige an einem konkreten Beispiel (z. B. mit dem Auto fahren, obwohl es ökologischere Alternativen gäbe; Atomstrom konsumieren; in den Urlaub fliegen; Fleisch essen; Billig-Shirt kaufen; billige Kopie einer Markenuhr kaufen; illegal Spiele oder Daten oder Musik downloaden), wer die von einer Handlung betroffenen sind / sein können. Dehne die Berücksichtigung von Betroffenen, auf die das Handeln Auswirkungen hat, räumlich (hier --> global) und zeitlich (jetzt --> Zukunft) schrittweise aus. 


A3: Zeige an einem konkreten Beispiel, dass und warum ein strenger Utilitarismus, der NUR auf die möglichen Folgen einer Handlung achtet, problematisch und für die meisten Menschen nicht vertretbar ist. Erkläre, WARUM das der Fall ist. 
 

A4: Einer der wichtigsten (und umstrittensten) Vertreter einer utilitaristischen Ethik ist Peter Singer. Verfasse - ausgehend vom FAZ-Interview - einen kurzen biographischen Steckbrief und skizziere seine Position zu wichtigen, aber schwierigen ethischen Fragen. 


Literatur und Quellen