"Auf die Prinzipien kommt es an". Deontologische Ethik

Allgemeines. Was ist ethische Handlungskonflikte

Das Gleisarbeiter-Dilemma ist ein fiktives Gedankenexperiment. Es zeigt in sehr eindrücklicher Weise, in welche ethischen Dilemma-Situationen Menschen kommen können. 

 

Kants Frage: "Was sollen wir tun?" ist die zentrale Frage, um die es in der Handlungsethik geht. Es ist die Frage nach dem ethisch richtigen Verhalten in Situationen, in denen wir zwischen zwei (oder mehr) Handlungsmöglichkeiten wählen können und vor allem auch müssen. Denn mit dem Wählen ist es wie mit der Kommunikation: Die Aussage: "Wir können nicht nicht wählen" ist genauso evident wie die Aussage "Man kann nicht nicht kommunizieren" (Watzlawick). Denn auch wegzuschauen und nichts zu tun ist eine Art Handlung, die wir in einer konkreten Situation wählen.  


Mit dieser Erkenntnis sind wir (wieder) bei der Sartreschen Aussage: "Der Mensch ist verurteil frei zu sein" als Ausgangspunkt für weitere philosophische Reflexionen. 

 

Die philosophische Handlungsethik versucht allgemeine Prinzipien oder Regeln zu finden, an die wir uns vernünftigerweise halten können, wenn wir Entscheidungen in ethisch herausfordernden Situationen treffen müssen. Mit solchen Entscheidungen sind wir in vielen sozialen Rollen konfrontiert, ob wir wollen oder nicht.


Zum Beispiel ... 

... als Freund / als Freundin (einen Freund, der etwas gestohlen hat, verraten oder nicht)

... als Konsument / als Konsumentin (Fleisch kaufen und essen oder nicht; auf ein Auto verzichten oder nicht; in den Urlaub fliegen oder nicht; ...)

... als PartnerIn in einer Beziehung (den Alkoholmissbrauch des Partners zähneknirschend dulden oder die Trennung durchziehen; einen Seitensprung beichten oder nicht; einen Seitensprung verzeihen oder nicht; über kleineres Fehlverhalten hinwegsehen oder dem Partner offen sagen, was mich stört)

... als Eltern (viel arbeiten, um Kindern eine gute Ausbildung und materielle Sicherheit zu bieten oder weniger arbeiten, um mehr Zeit für Kinder zu haben und dafür materiell beischeiden leben; ein Kind taufen, obwohl man eigentlich nicht religiös ist; ein drogenabhängiges Kind, das sich nicht an Vereinbarungen hält, vor die Tür setzen oder wieder einmal nachgeben)

... als UnternehmerIn (Arbeitsplätze abbauen um konkurrenzfähig zu bleiben;  Steuern "optimieren", um konkurrenzfähig zu bleiben)


Wenn wir in Handlungskonflikten entscheiden müssen, können wir uns an unterschiedlichen Lösungsansätzen orientieren. Zum Beispiel können wir 


... das tun, was andere (die Nachbarn, die beste Freundin) oder die meisten Menschen in der Situation tun würden. (Tatäschlich gehen wir in der Praxis oft so vor, dass wir das tun, was andere auch tun oder für richtig halten. Das Problem dabei ist aber aus ethischer Sicht, dass das, was viele tun, ja nicht unbedingt GUT oder ETHISCH RICHTIG sein muss)


... das tun, was Autoritäten sagen oder verlangen (die Religion, der Staat, die Ärztin, die Expertin für XYZ). Auch dieser Weg ist in vielen Fällen sinnvoll. Aber er hat auch eine problematische Seite. Es gibt in vielen Religionen Normen und Prinzipien, die höchst fragwürdig sind. Es gibt schlechte Gesetze. Es gibt höchst problematische Autoritäten, von Sektenführern über politische Demagogen bis zu Psycho-Gurus, die höchst fragwürdige Theorien vertreten. 


... das tun, was das Gefühl sagt. Tatsächlich ist das Gefühl ("Bauchgefühl") oft ein gutes "Barometer", wenn es um richtiges oder stimmiges Verhalten in einer schwierigen Situation geht. Aber es gibt Menschen, die überhaupt kein ethisches Bauchgefühl haben (z. B Menschen mit bestimmten psychopathischen Persönlichkeitszügen, denen es z. B. nichts ausmacht, andere zu betrügen oder zu quälen). Und Gefühle können sich unterscheiden: für die Person A. ist es stimmig, sich in einer Konfliktsituation für einen Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden; sich für die andere Person B. ist es genau in derselben Situation stimmig, sich gegen einen Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden. 


... nach der objektiv ethisch besten (d.i. ethisch argumentativ am besten vertretbaren) Lösung suchen. Dabei geht es um grundlegende ethische Prinzipien, an denen Menschen sich orientieren können sollen. Oder es geht um grundlegende Werte. Oder es geht um die Diskussion, welche Handlungsalternative die objektiv besten Folgen (Konsequenzen) nach sich zieht. Diese Prinzipien hat die philosohische Ethik anzubieten. Das ist nicht viel. Und das ist keine "Patentlösung" für alle Fälle. Aber es ist ein wichtiges mögliches Reflexions-Instrument, auf das ethisch autonome Menschen im Konfliktfall zurückgreifen können sollten. 


Theorien, die sich in der Bewertung von Handlungsalternativen an Prinzipien orientieren, nennt man Deontologische Theorien. Am berühmtesten ist Immanuel Kant mit seinem "Kategorischen Imperativ".


Theorien, die sich in der Bewertung von Handlungen an den Konsequenzen (Folgen) orientieren, nennt man Utilitaristische Theorien. Ein wichtiger Vordenker ist der englische Philosoph John Stuart Mill. Ein wichtiger (und umstritterer) Vertreter in der Gegenwartsphilosophie ist der australische Philosoph Peter Singer. 



Deontologische Handlungstheorien

Deontologische Handlungstheorien (von griech. to deon = die Pflicht) versuchen, Handlungsalternativen ethisch zu bewerten, ohne sich dabei auf die Folgen zu beziehen. Sie gehen davon aus, dass wir das ethisch Gute nicht zur Erreichung eines bestimmten Ziel tun sollen, sondern weil es "an sich" richtig ist. (Häufig wird für diesen Ansatz auch der Begriff der „Gesinnungsethik“ gebraucht, um ihm von einer teleologischen „Erfolgsethik“ abzugrenzen).

 

Philosophiegeschichtlich könnte man in Sokrates einen Vertreter einer deontologischen  Ethik sehen. Denn er lehnt die Erfolgsethik der Sophisten ab.  Dass Sokrates nach der Verurteilung zum Tod eine Flucht ablehnt, weil er meint, man müsse die Gesetze eines Staates immer achten; auch dann, wenn sie einem selbst zum Nachteil gereichen, ist ein Beispiel für „gesinnungsethisches Denken". 

 

In der modernen philosophischen Diskussion ist v. a. Immanuel Kant (1724 – 1804) Kategorischer Imperativ zentraler Bezugspunkt in der Argumentation.

 

Ebenfalls als deontologisch bezeichnen lassen sich viele Elemente in religiös begründeten Ethik-Systemen (z. B. die 10 Gebote, aber auch die katholische Lehrmeinung beispielsweise zu Fragen der Ehescheidung oder der künstlichen Empfängnisverhütung). Auch Menschenrechtskonventionen (wie die UN-Menschenrechtserklärung von 1948 oder die EMRK von 1952) oder das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland haben an der Basis deontologische Setzungen, z. B. die Menschenwürde als unantastbares Prinzip.

 

In der Philosophie spielt die deontologische Ethik vor allem im deutschen Sprachraum, wo die gesamte Philosophie sehr stark in der Kantianischen Tradition steht, eine große Rolle. Auch theologisch konnotierte philosophische Ethik basiert meistens sehr stark auf deontologischen Prinzipien. Einer der bekanntesten Vertreter einer deontologischen Ethik, der auch in der Auseinandersetzung um bioethische Fragen sehr häufig Position bezogen hat, ist der Theologe und Philosoph Robert Spaemann.

Der Kategorische Imperativ (Kant)

Der Kategorische Imperativ (Imperativ = Befehl), den Kant gegen hypothetische Imperative, die nur bedingt gelten, abgrenzt, ist seinem Verständnis zufolge ein verbindliches allgemein gültiges Prinzip, an dem „sittliches Handeln“ sich zu orientieren habe. Andere Aspekte, zum Beispiel der eigene Wille, aber auch die (tatsächlichen oder intendierten) Folgen einer Handlung spielen in der Kantschen Ethik für die ethische Bewertung von Handlungen (zumindest unmittelbar) keine Rolle.

 

Der Kategorische Imperativ liegt in unterschiedlichen Formulierungen vor, die aber – wie die philosophische Diskussion über dieses Prinzip gezeigt hat – im Wesentlichen auf dasselbe hinauslaufen. Es gibt also nur einen Kategorischen Imperativ, obwohl es über zehn unterschiedliche Formulierungen dieses Prinzips in den Kantschen Werken gibt. Man könnte diese Formulierungen in zwei Gruppen unterteilen. In der einen Gruppe steht eher das Universalisierungsprinzip – also ein formaler Aspekt - im Zentrum. In der anderen Gruppe ist das Verbot, einen Menschen als Mittel zum Zweck zu gebrauchen – also die inhaltliche Bestimmung dieses formalen Prinzips -, zentraler.

 

Das Universalisierungsprinzip:

 

„Der kategorische Imperativ ist also ein einziger und zwar dieser: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785)

 

Zunächst einmal ist wichtig zu beachten, dass für Kant die Maxime, also das Prinzip, das einer Handlung zugrunde liegt, für deren ethische Bewertung entscheidend ist, und nicht – wie beispielsweise im Utilitarismus – die Handlung selbst. Jemand, der sich an der Kantschen Ethik orientiert, müsste also vor allem seine Handlungsprinzipien (moderner: die Absicht, die Intention hinter einer Handlung) hinterfragen. Solche Handlungsprinzipien sind in der Praxis am ehesten Werte, an denen eine Handlung sich orientieren kann.

 

Zum zweiten ist wichtig zu beachten, dass das zentrale Kriterium, an denen Handlungsprinzipien sich zu orientieren haben, das Kriterium der Universalisierbarkeit ist. Die entscheidende Frage ist: „Was wäre, wenn sich alle Menschen in derselben (oder einer vergleichbaren) Situation so verhalten würden? Könnte ich dies wollen?“ Wenn ich diese Frage mit „Ja“ beantworte, ist eine Handlung ethisch erlaubt. Wenn ich sie mit „Nein“ beantworte, ist sie ethisch nicht akzeptabel und muss unterlassen werden.

 

Beispielsweise wollen wir wissen, ob PND (pränatale = vorgeburtliche Diagnostik zur Feststellung einer Behinderung bei einem Embryo) ethisch zu rechtfertigen ist. Kant würde von uns die Auseinandersetzung mit folgenden Fragen verlangen: Kann ich wollen, dass alle schwangeren Frauen sich einer PND unterziehen? Kann ich wollen, dass alle Frauen, die mit dem Befund einer Behinderung ihres Fetus konfrontiert sind, ihre Schwangerschaft beenden dürfen?


Es gibt nachvollziehbarerweise gute Gründe, diese Frage mit einem NEIN zu beantworten, z. B. wenn ich davon ausgehe, dass auch ein Embryo bereits menschliches Leben ist und über Menschenwürde verfügt und wenn ich menschliches Leben als wichtigsten und unantastbaren Wert sehe. Eine Abtreibung würde gegen das fundamentale Prinzip des absoluten Lebensschutzes verstoßen und wäre ethisch abzulehnen. Die Frage nach den Folgen (für die Mutter, die mit einem behinderten Kind überfordert wäre, ...) muss ich nicht stellen. Ein Schwangerschaftsabbruch höhlt - wenn das allen möglich ist - das Prinzip des absoluten Lebensschutzes aus. 


Wenn ich von einer fundamentalen Gleichwertigkeit von Menschen - egal ob behindert oder nicht - ausgehe und außerdem glaube, dass das auch für Embryonen gilt, muss ich zumindest Spätabtreibungen nach der 12. Schwangerschaftswoche aus ethischen Gründen ablehnen. Denn sie wären ein Verstoß gegen das zentrale Prinzip des Diskriminierungsverbotes, das nicht zulässt, dass behindertes Leben weniger geschützt wird als nicht-behindertes Leben. Ein Schwangerschaftsabbruch wegen der Diagnose einer Behinderung höhlt - wenn das für alle Betroffenen möglich wäre - das Prinzip der Gleichheit von behindertem und nicht-behindertem Leben aus. 


Es gibt aber auch auf deontologischer Grundlage gut Gründe, einen Schwangerschaftsabbruch für ethisch legitim zu halten. Zum Beispiel, wenn der zentrale Wert, auf den ich mich beziehe, die Freiheit (konkret: das Recht auf Selbstbestimmung über das eigene Leben) ist. Das absolutes Verbot eines Schwangerschaftsabbruchs reduziert die schwangeren Frauen auf die Rolle von "Gebärmaschinen", die im Extremfall gezwungen sind, auch nach einer Vergewaltigung oder nach einem Missbrauch eine Schwangerschaft zu Ende zu führen und Verantwortung für ein Kind, das sie nicht wollen und das von ihrem Peiniger stammt, zu übernehmen. Das kann man nicht wollen. 


Das Zweck-Mittel- Verbot

 

Seine inhaltliche Stärke erhält der Kategorische Imperativ aber erst, wenn das formale Prinzip der Universalisierbarkeit inhaltlich bestimmt wird. Das passiert in der zweiten Formulierung des Kategorischen Imperativs. Dafür gibt es unterschiedliche Beispiele, die im Wesentlichen aber alle auf das selbe hinauslaufen, nämlich auf das Verbot, einen Menschen (vorwiegend?) als Mittel zum Zweck zu instrumentalisieren (und nicht als Selbstzweck oder besser wohl: Wert an sich zu sehen):

 

„Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille." (Metaphysik der Sitten)

 

„Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zur Erreichung irgendeines vorgesetzten Zwecks, sondern allein durch das Wollen, d.i. an sich, gut. … Er (= der ethische Wert einer Handlung, Anm. M. E.) kann nirgends anders liegen als im Prinzip des Willens, unangesehen der Zwecke, die durch eine solche Handlung bewirkt werden könnten.“ (Metaphysik der Sitten)

 

„Nun sage ich: der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauch für diesen oder jenen Willen, sondern muss in allen seinen sowohl auf sich selbst als auch auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen zugleich als Zweck betrachtet werden“ (Metaphysik der Sitten)

 

Inhaltlich wäre, wenn wir Kant folgen, die zu universalisierende Maxime also das Verbot einen Menschen (nur? vorwiegend?) als Mittel zum Zweck zu missbrauchen, das heißt in moderner Sprache wohl am ehesten: ihm als Menschen einen unbedingten Wert an sich abzusprechen und ihn (oder sein Leben) Nützlichkeitsüberlegungen zu unterwerfen. Die inhaltliche Parallele zum Prinzip der Menschenwürde ist offensichtlich. Denn dieses Prinzip verbietet uns, einen Menschen im Hinblick auf seine "Nützlichkeit" zu bewerten.  

Welche Herausforderungen stellen sich?

Vieles spricht für das Prinzip der Universalisierbarkeit. Aber es hat auch problematische Aspekte Denn selten sind zwei Situationen, die eine ethische Entscheidung erfordern, wirklich identisch. Es stellt sich also die Frage, von welcher Grundlage aus eine Universalisierung überhaupt erfolgen kann. Problematisch ist vor allem auch, dass es Ausnahmesituationen oder Extremsituationen gibt, in denen es gute Gründe gibt, ein an sich richtiges Handlungsprinzip nicht zu befolgen. Das Prinzip der Universalisierbarkeit lässt solche Ausnahmen aber genau nicht zu. Und das kann - wie Kant an seinem Beispiel von der Notlüge eigentlich selbst bemerkt haben müsste - zu schwer verdaubaren Konsequenzen führen. 

 

Das Wollen, also die Handlungsabsicht ins Zentrum ethischer Entscheidungen zu stellen, hat einiges für sich. Es besteht aber auch die Gefahr, dass das Wollen zu einer "billigen" Ausrede für falsches Verhalten wird; so nach dem Motto: "Ich will ja nur dein Bestes, wenn ich dich für dein Fehlverhalten bestrafe oder wenn ich dich zum richtigen Glauben zwinge etc.  (Vermutlich versucht Kant diese Schwäche durch das Verbot, einen Menschen als Mittel zum Zweck zu verwenden zu entschärfen).

 

Schließlich ist nicht klar, in welcher Stärke das Verbot, einen Menschen als Mittel zum Zweck und nicht als Wert an sich zu sehen, formuliert ist. Wenn es heißen würde, ich darf einen anderen Menschen überhaupt nicht als Mittel zum Zweck sehen, würde sich wohl sehr vieles, was unser Leben nicht nur prägt, sondern ohne das unser Leben überhaupt nicht denkbar wäre, ethisch verbieten. Jeder Arzt auch ist Mittel zum Zweck, indem er Kranke heilen soll. Jede Lehrerin ist auch Mittel zum Zweck, indem sie den Kindern etwas beibringen soll. Jede Polizistin ist auch Mittel zum Zweck, indem sie dafür sorgen soll, dass wir uns auf den Straßen diszipliniert verhalten. Und jeder Soldat ist Mittel zum Zweck, indem er die Grenze schützt oder einen Angreifer abwehrt. Eine strenge Auslegung eines Mittel-zum-Zweck-Verbots wäre also völlig lebensfremd. Wenn es heißen würde, Menschen nicht vorwiegend als Mittel zum Zweck zu benutzen und ihnen auch Selbstwert einräumen, wird das Prinzip akzeptabler, aber gleichzeitig vager. Es würde für unser Beispiel des Soldaten auf jeden Fall bedeuten, dass er nicht einfach "Kanonenfutter" ist, dass er würdig behandelt werden muss, dass alles getan werden muss, um sein Leben nicht zu gefährden, dass er die größtmögliche Hilfe erfahren muss, wenn er verletzt ist oder wenn er gefangengenommen worden ist. ... 

  

Deontologische Ethik in der Kritik

Gegner des Kategorischen Imperativs (und anderer Formen einer deontologischen Ethik) kritisieren den Absolutheitsanspruch, der mit den gesetzten Prinzipien (Leben, Würde, ...) meistens einhergeht. Oder anders formuliert: Sie kritisieren, dass die deontolische Ethik gegenüber den negativen Folgen, die aus einem Prinzip in der Praxis folgen können. Es kommt dann im Extremfall irgendwann einmal einfach nur noch darauf an, ein (an sich vollkommen akzeptables) Prinzip ohne Rücksicht auf die von ihm betroffenen Menschen um seiner selbst Willen zu schützen.

 

Kant liefert ein eindrückliches (und nach der Meinung von Kant-Kritikern gleichzeitig sein eigenes Prinzip desavoiriendes) Beispiel in seinem Essay „Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen.“

 

In diesem Essay baut Kant folgendes Gedankenexperiment auf: Nehmen wir an, ein Mann ist vor zwei Mördern auf der Flucht und klingelt an meine Haustür. Er bittet mich, ihn zu verstecken und für den Fall, dass die Verfolger an der Tür klingeln, zu lügen und zu behaupten, er sei nicht im Haus. Wäre es ethisch richtig, dem Wunsch des Verfolgten Folge zu leisten?

 

Kant kommt in seiner Argumentation zum Schluss, dass es ethisch falsch wäre, zu lügen, wenn die Verfolger an der Tür klingeln und fragen. Ich müsste die Wahrheit sagen und zugeben, dass der Mann sich in meinem Haus versteckt, was zwar dazu führt, dass er von seinen Verfolgern umgebracht wird, aber das Prinzip, die Wahrheit zu sagen, wäre geschützt.

 

Die Begründung, die Kant liefert, ist in etwa folgende: Die Frage „Kann ich wollen, dass ein Mensch eine Notlüge zur Rettung des Lebens eines verfolgten Menschen einsetzt“ kann in universalisierter Form nicht mit „Ja“ beantwortet werden. Denn wenn alle Menschen, die einen verfolgten Menschen verstecken, die Verfolger belügen, verliert die Antwort automatisch jede Glaubwürdigkeit. Wenn ich also lügen, würden die Verfolger meiner Antwort überhaupt keine Bedeutung beimessen, sie würden auf jeden Fall das Haus durchsuchen und den Verfolgten so finden und ihn töten. Und überhaupt würde zusätzlich das ethische Prinzip, dass ich mich auf die Aussagen, die Menschen machen, nicht mehr verlassen könnte. Und ohne eine solche prinzipielle Verlässlichkeit darauf, dass Menschen die Wahrheit sagen, könnte eine menschliche Gemeinschaft überhaupt nicht funktionieren.

 

Es wäre interessant  zu wissen, ob Kant Menschen, die im Nationalsozialismus verfolgte jüdische Bürger versteckt haben und im Notfall ihre Verfolger belogen haben, tatsächlich ethisch verurteilen würde.

 

Davon abgesehen zeigt das von Kant selbst formulierte Beispiel – es gibt Beispiele, in denen Kant mit ähnlicher Begründung den „Selbstmord“ oder den Tyrannenmord ethisch ablehnend bewertet – die problematischen, aus meiner Sicht: ethisch unhaltbaren Implikationen, die sich aus dem Kategorischen Imperativ als Prinzip ergeben. Es zeigt, dass an einem Prinzip, wenn es einmal als gültig festgelegt worden ist, vollkommen unabhängig von den tatsächlichen Konsequenzen festgehalten werden müsste. Damit kippt eine Ethik, die sich – wohlgemerkt ausschließlich und nicht in großen Teilen – an einem fundamentalen Prinzip festklammert, unwillkürlich nicht nur in dogmatische Prinzipienverteidigung, der konkrete Menschen in ihren konkreten Lebenszusammenhängen im Konfliktfall egal sind, es kippt auch ins Unmenschliche.

 

Ein ähnliches Problem auf realer Ebene zeigt sich in der Bundesrepublik Deutschland im so genannten „Fall Daschner“ (2002 bis 2004): Nach der Entführung des neunjährigen Jakob von Metzler in Frankfurt wird der vermutliche Täter, Magnus Gafgen, festgenommen. Er macht als Tatbeschuldigter von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch und führt ansonsten die Polizisten mehrmals auf eine falsche Spur im Hinblick auf den Aufenthaltsort des Kindes. Unter enormem Zeitdruck – es ist klar, dass die Chancen, das entführte Kind zu finden und damit sein Leben eventuell noch retten zu können – lässt der Frankfurter Vizepolizeipräsident Wolfgang Daschner dem Beschuldigten Folter androhen, um den Aufenthaltsort des Kindes herauszufinden. Schließlich nennt Gäfgen den Ort, wo er das Kind versteckt hat. Das Kind ist aber unmittelbar nach der Entführung ermordet worden. Mit seiner Folterandrohung verletzt Daschner das absolute Folterverbot und damit das Prinzip der Menschenwürde. Er  wird vom Dienst suspendiert und strafrechtlich verurteilt. Der Fall löst in der BRD eine Diskussion um die absolute Gültigkeit des Folterverbots aus.

 

Eine ähnliche Problematik, wie sich in den Kantschen Beispielen zeigt, zeigt sich auch in offiziellen Positionen der katholischen Kirche im Hinblick auf die Unauflöslichkeit der Ehe (was zu den etwas grotesk anmutenden Ehe-Dispensen, die vom Vatikan ausgesprochen werden, wenn eine Ehe angeblich nie geschlossen worden ist, obwohl sie bestanden hat, führt), im Hinblick auf die künstliche Empfängnisverhütung (wenn zumindest eine Zeitlang der Gebrauch von Kondomen auch dann untersagt worden ist, wenn die Gefahr bestanden hat, dass der Sexualpartner mit Aids infiziert werden könnte) u. a. m.

 

Eine ähnliche Problematik ergibt sich, wenn ein absolutes Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen eingefordert wird: Ein Verbot des Schwangerschaftsabbruchs als absolutes Prinzip schützt zwar „menschliches Leben“ von Beginn an, ignoriert aber die Tatsache, dass es in der Praxis nicht durchsetzbar ist und zu illegalen Schwangerschaftsabbrüchen unter medizinisch höchst problematischen Bedingungen führt (wovon vor allem Frauen mit einem ökonomisch schwachen Hintergrund betroffen und in ihrer Gesundheit und in ihrem Leben gefährdet sind), es führt zu einem „Schwangerschaftsabbruch-Tourismus“ in Staaten mit liberalen Regelungen. Es führt dazu, dass ein Schwangerschaftsabbruch auch nicht nach einer Vergewaltigung oder bei einer Minderjährigen nach Inzest durchgeführt werden dürfte. Aus umgekehrter Perspektive betrachtet führt es also dazu, dass ungewollt schwangere Frauen dafür instrumentalisiert werden, gegen ihren ausdrücklichen Willen ein Kind auszutragen und zu gebären. 

Leistungen und Problematik

Die Leistung deontologischer ethischer Handlungstheorien besteht darin, dass sie ethische Prinzipien – zum Beispiel das Prinzip der Menschenwürde – sehr gut abzusichern vermag. Sie schützt solche Prinzipien davor, dass sie im Konfliktfall zugunsten momentan vordringlicher erscheinender Aspekte aufgehoben werden. Damit schützt sie sie vor Untergrabung und Aushöhlung durch „praktische Erfordernisse“.

 

Die Problematik deontologischer ethischer Handlungstheorien besteht darin, dass sie konkrete Lebenssituationen und Konfliktsituationen von Menschen ignorieren und formale Prinzipien zu absoluten Standards und Bezugsnormen erheben. Das führt vor allem in ethischen Grenzbereichen und in Extremsituationen zu unhaltbaren ethischen Handlungsanforderungen und Implikationen.

 


Arbeitsaufgaben

A1: Suche zwei konkrete Beispiele für ethische Herausforderungen, mit denen junge Menschen in der heutigen Zeit konfrontiert sind und in denen sie zwischen mehreren Handlungsmöglichkeiten eine Wahl treffen müssen. Suche Beispiele, in denen es nicht nur um persönliche Interessen geht, sondern um "die Allgemeinheit" im weitesten Sinn (oder Beispiele, in denen auch andere vom eigenen Verhalten mitbetroffen sind). Erkläre, welche Handlungsmöglichkeiten es gibt. Erkläre, wie diese Handlungsmöglichkeiten aus ethischer Sicht zu bewerten sind (gut / neutral / schlecht = problematisch). Erkläre, welche Handlungsmöglichkeit du für die ethisch verträgliche hältst. 


Reflektiere, ob Menschen in der Praxis so vorgehen, wenn sie Entscheidungen treffen. Erkläre, inwiefern (nicht). 

A2: Kant meint, ethische Handlungen sind Handlungen, zu denen wir verpflichtet sind (Pflicht). Er grenzt sie von Handlungen ab, die wir sowie gerne machen, weil sie uns Freude bereiten (Neigung). Letztere hält er für ethisch irrelevant. Findest du Kants Unterscheidung zwischen Pflicht und Neigung gut und gerechtfertigt? Inwiefern (nicht)?

A3: Ein Problem bei der ethischen Bewertung von Handlungen ist die Frage, ob die Handlung selbst oder die Intention entscheidend für die Bewertung sein soll. Also: Sollen wir auf die Handlung selbst (also auf das Verhalten und die konkreten Konsequenzen des Verhaltens) schauen? Oder sollen wir auf die Handlungsabsicht schauen?

Suche Beispiele, die zeigen, dass die Handlungsabsicht und die konkreten Folgen einer Handlung "auseinanderfallen" können. 


Was spricht dafür, auf die konkrete Handlung und ihre Folgen zu achten? Was spricht dafür, auf die Handlungsabsicht zu achten? Wie geht man im modernen Strafrecht mit diesem Problem um?

A4: Kant sucht nach einem obersten Prinzip, an dem wir uns in konkreten ethischen Dilemma-Situationen orientieren können. Das Prinzip, das er vorschlägt, ist der Kategorische Imperativ. Was besagt dieses Prinzip in modernen Worten? Welche Beispiele könntest du anführen, um dieses Prinzip einem 15jährigen Jugendlichen zu erklären? 

A5: Eine Formulierung des Kategorischen Imperativs verbietet, Menschen (ausschließlich / vorwiegend?) als Mittel zum Zweck zu benutzen und ihnen einen "Selbstwert" abzusprechen. Was sind Beispiele, wo sich die Problematik, dass Menschen "Mittel zum Zweck" sind oder sein können, zeigt? Wie "handeln" wir diese Situationen?

A6: Suche Beispiele, die zeigen, dass eine Ethik, die an sich gute und richtige Prinzipien (Lebensschutz, Mittel-Zweck-Verbot, Menschenwürde, Umweltschutz, ...) absolut setzt und keine Ausnahmen über eine Folgen-Abwägung zulässt, zu ethisch problematischen Konsequenzen führen kann. 

A7: Kant meint, man dürfe nicht lügen, wenn man in einer Notsituation sei. Welches Beispiel führt er in seinem Essay "Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen" an. Wie argumentiert er? Wie überzeugend findest du Kants Argumentation? Antworte Kant in einem Brief und sag ihm deine Meinung zu seiner Position und zu seiner Argumentation. 


Internetlinks und Quellen