Weiterentwicklungen der Tiefenpsychologie 1: Alfred Adler und die Individualpsychologie

Alfred Adler (1870 bis 1937)
Alfred Adler (1870 bis 1937)

Ein fiktives Interview mit Alfred Adler (1870 bis 1937)

Sofie: Lieber Alfred Adler, kannst du uns ein paar Hinweise zu deiner Person geben, die für deine Theorie auch eine Rolle gespielt haben?

 

 

Adler: Gerne. Ich wurde 1870 in Wien als Sohn eines jüdischen Kleinhändlers geboren. Als Kind war ich sehr schwächlich und kränklich. Das motivierte mich selbst, Medizin zu studieren und mich auf Kinderheilkunde zu spezialisieren. In meiner Arbeit als Arzt wurde ich sehr oft mit Kindern konfrontiert, die aufgrund von Krankheiten in ihrer Entwicklung beeinträchtigt waren. Für meine späteren Theorien sind diese Erfahrungen sehr wichtig. Wichtig ist auch, dass ich die damals revolutionäre Theorie der Psychoanalyse kennen lernte. Wie Freud die menschliche Persönlichkeit begriff, faszinierte mich. Allerdings kam es 1911 zum Bruch mit Freud. Nach diesem Bruch entwickelte ich meine eigene tiefenpsychologische Schule. Kinder lebten in meiner Zeit unter für dich wahrscheinlich unvorstellbaren Verhältnissen. Ein besonderes Anliegen war mir, dass benachteiligte Kinder eine gute Gesundheitsversorgung und eine gute pädagogische Stütze erhielten.

 

Sofie: Du giltst als Vater der Individualpsychologie. Wie unterscheidet sie sich von der Psychoanalyse? Was sind Gemeinsamkeiten?

 

Adler: Zuerst vielleicht zu den Gemeinsamkeiten: Genauso wie Freud nehme ich an, dass ein Teil unserer psychischen Welt im Unbewussten liegt. Allerdings spielt dieses Unbewusste in meiner Theorie eine weniger zentrale Rolle. Der Entscheidende Unterschied zwischen der Psychoanalyse und der Individualpsychologie liegt in der Bewertung der Sexualität. Bei Freud spielt die infantile Sexualität eine große Rolle bei der Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit. Für mich steht nicht die kindliche Sexualität im Zentrum, sondern das kindliche Streben nach Anerkennung und Zuneigung sowie sein Bedürfnis, sich in der Welt einen Platz zu erobern. Ich nenne dieses Streben Machtstreben. Man könnte auch sagen, dass Freud vor allem biologische Triebe als zentral sieht. Ich behaupte demgegenüber, dass die wichtigsten Impulse für die Entwicklung aus der sozialen Auseinandersetzung des Kindes mit seiner Umgebung (Eltern, Geschwister,...) kommen.

 

Sofie: Kannst du das an einem Beispiel erklären?

 

Adler: Ein gutes Beispiel wäre die ödipale Phase. Freud sieht die Ursache für den ödipalen Konflikt im libidinösen Streben des Kindes, d. h. in seinem Wunsch, den gegengeschlechtlichen Elternteil zu heiraten. Für mich stellt sich die Situation ganz anders dar: das kleine Kind erlebt in der Auseinandersetzung mit den Eltern seine eigenen Schwächen, es fühlt sich ihnen unterlegen, weil es vieles noch nicht kann und noch nicht weiß. Wenn dieses Gefühl von den Eltern ständig verstärkt wird, wird das Kind sich minderwertig zu fühlen beginnen. Wenn die Eltern sensibel mit den Fehlern und Schwächen des Kindes umgehen, kann es vor allem ein Gefühl von eigener Stärke und Kompetenz entwickeln. Wenn die Eltern aber im anderen Extrem zu schwach sind, wird das Machtgefühl des Kindes nicht realistisch / überzogen sein. Es kann sich zum kleinen Tyrannen entwickeln. Natürlich spielen auch hier die Geschlechtsunterschiede eine wichtige Rolle. Aber es geht um dieUnterkomensation; Beispiel Obdachlosigkeit soziale Bedeutung dieser Unterschiede, nicht um ihre biologische Bedeutung.

 

Sofie: Dieser Begriff der "Minderwertigkeit" ist in deiner Theorie zentral. Was bedeutet er?

 

Adler: Meine Kernthese lautet: Der Mensch ist ein soziales Wesen, das sich vor allem über die Auseinandersetzung mit seiner Umgebung entwickelt. Er muss sich von Anfang an mit anderen vergleichen. Dabei ist menschliches Erleben immer auch das Erleben von Minderwertigkeit. Entscheidend für die Entwicklung ist, wie mit dieser Minderwertigkeit umgegangen wird. Dies hängt natürlich davon ab, wie die Eltern auf das Minderwertigkeitsgefühl des Kindes reagieren.

 

Sofie: Kannst du Beispiele für Minderwertigkeiten nennen?

 

Adler: Es gibt drei Formen von Minderwertigkeiten: organische Minderwertigkeit, genetische Minderwertigkeit und situative Minderwertigkeit. Organminderwertigkeit treffen wir überall in der Natur. Der Mensch unterscheidet sich z. B. von bestimmten Tieren dadurch, dass er vieles nicht kann (fliegen, ....). Aber auch einzelne Menschen unterscheiden sich im Hinblick auf ihre organischen Fähigkeiten. Jemand kann z. B. schnell laufen, geschickt argumentieren, ..... Besonders wichtig ist hier natürlich die Frage von offensichtlichen Behinderungen (z. B: jemand ist blind). Den Begriff "genetisch" verwende ich anders als die Wissenschaft am Anfang des 21. Jahrhunderts. Denn von den Genen selbst weiß ich zu meiner Zeit ja noch überhaupt nichts. "Gen" bezieht sich einfach auf "Herkunft", wie das auch im Begriff "Genese" deutlich wird. Mit genetischer Minderwertigkeit meine ich also, dass einzelne Menschen im Vergleich zu anderen einen Entwicklungsrückstand haben: das Kind ist dem Erwachsenen in Bezug auf viele Fähigkeiten noch unterlegen. Die situative Minderwertigkeit beziehe ich auf konkrete Situationen.

 

Sofie: Wie wirkt sich das Erleben von Minderwertigkeit auf die Entwicklung aus? Kompensation; Beispiel Skifahren lernen

 

Adler: Das Kind ist bestrebt, seine Minderwertigkeit auszugleichen und zu überwinden. Ich nenne das Kompensation. Den Begriff kennst du ja schon aus der Psychoanalyse. Und ich verwende ihn durchaus ähnlich im Sinn von Ausgleich einer Schwäche durch Anstrengung und Übung. Ob und wie einem Kind Kompensation gelingt, hängt vom Verhalten seiner Umwelt ab. Wenn zum Beispiel ein Kind ständig überfordert wird, wenn von ihm Dinge verlangt werden, die es noch nicht bewältigen kann, erlebt es ständig seine Unterlegenheit. Sein Minderwertigkeitsgefühl verstärkt sich und kann zum Minderwertigkeitskomplex werden. Es will nicht mehr kompensieren. Dasselbe kann passieren, wenn einem Kind überhaupt nichts zugemutet wird, wenn es "überbehütet" wird, wie man heute sagt. Auch dann erlebt es ständig, dass es so vieles nicht kann, dass es noch zu klein, zu schwach, .... ist. Es wird irgendwann aufgeben, sich selbst zu helfen, und einfach warten, bis jemand kommt und ihm hilft. Besonders bei Kindern mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung ist dies häufig der Fall. Weil die Kinder sich schwer tun, meinen Erwachsene, dem Kind zu helfen, indem sie ihm eine Aufgabe, die andere Kinder selbständig bewältigen, abnehmen. So nach dem Motto: Komm, ich mach das für dich. Wenn ein Kind dagegen ermutigt wird, Schritt für Schritt die Welt zu erobern, auszuprobieren, was es schon kann, wenn ein Kind auch Fehler machen darf, wenn es aus Fehlern lernen darf, kann es das Gefühl von Autonomie und Kompetenz entwickeln. Natürlich geht es nicht um eine Einzelerfahrung, die ein Kind in einer Ausnahmesituation einmal macht. Es geht um die Frage, durch welchen Grundstil die Erziehung eines Kindes geprägt ist. Diese Grundgefühle aus der Kinheit - also Überforderung, Unterforderung, angemenssene Anforderungen und Herausforderungen - prägen oft das Selbstwertgefühl und die Persönlichkeit für das ganze Leben. Vielleicht sollte in diesem Zusammenhang auch  noch erwähnt werden, dass Kinder manchmal nur in ganz speziellen Themenbereichen unter- oder überfordert werden, während sie in anderen Bereichen zum Glück eine angessene Förderung erhalten.

 

Sofie: Kannst du die Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen nochmals skizzieren?

 

Adler: Kompensation ist der Motor jeder gesunden Entwicklung. Das heißt, dass das Kind lernt, seine natürliche Unterlegenheit durch sein Kind-Sein - es istÜberkompensation; Bsp. Extrembergsteigen körperlich noch schwächer als ein Erwachsener, es weiß vieles noch nicht, es kann vieles noch nicht - Schritt für Schritt zu bewältigen. Die kindliche Neugierde ist ja nicht umsonst sprichwörtlich: Kinder wollen Neues ausprobieren, sie wollen lernen, sie wollen die Welt entdecken. Wenn das Kind - aus welchen Gründen immer - aufgibt und sich damit abfindet, dass es schwach und klein und hilflos ist und wenn sich das bis ins Erwachsenenalter hinüberzieht, spreche ich von Unterkompensation. Von der Persönlichkeit her sind das Menschen, die sich sehr schnell unterordnen, sich nicht durchsetzen können, die Herausforderungen nicht annehmen, die immer mit ihrem eigenen Scheitern rechnen. Wenn jemand sein Unterlegenheitsgefühl nur scheinbar / zwanghaft auszugleichen versucht, spreche ich von Überkompensation. Das sieht man häufig bei Menschen, die betont nach Macht streben, die anderen um jeden Preis überlegen sein müssen, die immer in Konkurrenzbeziehungen denken, die immer beweisen müssen, dass sie auf den ersten Blick unerreichbare Ziele auch erreichen können. Wir können bei diesem Persönlichkeitstyp zum Beispiel an Hochleistungssportler oder Top-Manager denken. Auch Menschen, die sich gerne selbst im öffentlichen Mittelpunkt sehen, gehören meist zu diesem Persönlichkeitstyp. ...

 

Sofie: Ein weiterer wichtiger Begriff im Unterschied zum Minderwertigkeitsgefühl ist das Gemeinschaftsgefühl. Was ist das?

 

Adler: Das Gemeinschaftsgefühl ist der Gegenpol zum Minderwertigkeitsgefühl, aber auch zum Machtstreben. Auch er entsteht durch die soziale Erfahrung. Es hängt eng mit Kompensation zusammen. Das Kind lernt im Idealfall, dass es nicht allein in der Welt dasteht, sondern dass andere Menschen es halten und stützen. Wenn es diese Erfahrung machen kann, wird es auch im späteren Leben bereit sein, seine Kraft und Energie für die Gemeinschaft einzusetzen. Es hat also sozusagen ein positives, vom Gefühl von Gleichwertigkeit getragenes Bild von seinen Mitmenschen und sieht andere Menschen weder als prinzipiell überlegen und feindselig (sodass es sich selbst vor ihnen schützen muss oder sie bekämpfen muss, damit sie es nicht schädigen), noch als prinzipell unterlegen (sodass es sie beherrschen kann).

 

Sofie: Wie versteht und behandelt die Individualpsychologie Menschen mit einer psychischen Erkrankung?

 

Adler: Im Unterschied zu Freud ist für mich nicht entscheidend, warum eine Erkrankung entstanden ist, sondern wozu sie dient (Das heißt, ich orientiere mich am Prinzip der Finalität anstatt der Kausalität). Damit steht automatisch auch mehr die Gegenwart im Vordergrund und nicht so sehr die Frage nach Kindheitserfahrungen. Wenn jemand zum Beispiel eine Phobie hat, frage ich, wozu diese dient, welchen Zweck sie erfüllt, was die kranke Person damit vermeiden kann (z. B. kann sie beruflichen oder familiären Konflikten aus dem Wege gehen, ...) Hinter psychischen Erkrankungen steht natürlich immer ein schwaches Ich. Das muss man in der Therapie stützen.

 

Sofie: Wo würdest du die wichtigsten Unterschiede zur Psychoanalyse sehen?

 

Adler: In der Betonung des Sozialen anstelle des Biologischen. Damit tritt die Erziehung ins Zentrum des Interesses. Ich sehe auch weniger das Kranke als vielmehr das Gesunde und seine Möglichkeiten.

 

 

Sofie: Danke für die Information