Unbewusstes als Kern der Tiefenpsychologie

Wofür steht Freud?

Die Tiefenpsychologie untergliedert die menschliche Persönlichkeit in bewusste, vorbewusste und unbewusste psychische Inhalte. Am wichtigsten für das Verständnis der Persönlichkeit ist aber das Unbewusste.

Woher wissen wir, dass es das Unbewusste gibt?

Klassische Verhaltenspsycholgen würden das Konzept des Unbewussten für ein vorwissenschaftliches Konzept halten, das in einer wissenschaftlichen Theorie nichts verloren hat. Tatsächlich ist es nicht ganz unproblematisch, eine ganze wissenschaftliche Disziplin auf einem Konstrukt aufzubauen, das - per definitionem - gar nicht unmittelbar beobachtet werden kann. Das ist - wenn man von einem harten naturwissenschaftlichen Psychologie-Verständnis ausgeht - zumindest ein großes und prinzipielles Manko der Tiefenpsychologie.


Dennoch kann man - gerade wenn man die Erkenntnisse der Neurologie und der experimentellen Gedächtnisforschung der letzten Jahrzehnte berücksichtigt - gute Argumente für die Existenz unbewusster Gedächtnisinhalte und damit auch unbewusster Persönlichkeitsanteile finden. Bahnbrechend dazu sind zum Beispiel die Erkenntnisse des ausgebildeten Psychoanalytikers und Neurologen Eric Kandel, die dieser durch seine Forschungen v. a. an der Meeresschnecke Aplysia gewonnen hat. Auch bildgebende Untersuchungen am lebenden Gehirn - z. B. mittels CT [Computertomographie] oder PET [Positronen-Emissions-Tomographie] - zeigen, dass an psychischen Prozessen immer subcortikale Gehirnariale beteiligt sind.  Das sind die Bereiche des Gehirns, die unter der Großhirnrinde liegen, die bewussten Prozesse zuständig ist. Vor allem im Bereich des Mittelhirns und des Zwischenhirns sind hier sehr wichtig.


Freud weiß am Ende des 19. Jahrhunderts aber von all dem nichts, als er seine Theorie vom Unbewussten formuliert.
Er macht drei Grundannahmen:


Grundannahme 1: Keine unserer psychischen Erfahrungen geht verloren. Vergessen bedeutet Verlust des Zugangs. Diese Annahme, die Freud spekulativ machte, wird durch die moderne Neurologie (Neuron = Nervenzelle) bestätigt.


Grundannahme 2: Prinzip des psychischen Determiniertheit: Jedes psychische Geschehen ist durch frühere psychische Erfahrungen beeinflusst. Psychisches ist nie zufällig. Psychisches ist nie sinnlos. Das heißt, dass auch auf den ersten Blick "sinnloses" Verhalten (z. B. neurotische Symptome wie Ängste oder Zwänge, Träume, Fehlleistungen, ...) in Wirklichkeit nur so erscheint, weil die Ursachen für dieses Verhalten nicht (mehr) erinnert werden können.


Grundannahme 3: Der größte Teil der psychischen Inhalte ist unbewusst (d. h.: nicht willkürlich erinnerbar), aber nicht unwirksam (vgl. Eisberg-Modell)

Wie entsteht Unbewusstes?

Unbewusstes entsteht im Laufe der Lebensgeschichte entweder durch Vergessen oder durch Verdrängen.

 

Unbewusstes entsteht durch Vergessen

 

Wir vergessen üblicherweise einen großen Teil der Erfahrungen und der Erkenntnisse wieder, die wir über längere Zeit nicht benötigen. So können wir uns längst nicht mehr an alle unsere Schultage erinnern. In Erinnerung geblieben sind uns lediglich besonders markante und einschneidende Erlebnisse und Erkenntnisse, die mit starken Emotionen (Freude, teilweise auch Schrecken oder Angst) verbunden gewesen sind. Je weiter zurück die Erfahrungen liegen, desto größer ist der Anteil des Vergessenen.

 

Es mag uns traurig stimmen, dass wir einen großen Teil von dem, was wir im Laufe unserer Schulgeschichte so mühsam lernen, unweigerlich mit der Zeit wieder vergessen werden. Doch bei näherer Betrachtung erkennen wir, dass vergessen zu können auch seine Vorteile hat. Wir behalten halt einfach nur das in Erinnerung, was für unsere Lebenspraxis von Bedeutung ist. Vergessen schützt uns also davor, von einer Fülle an für uns unwichtigen Informationen überflutet und so mit hoher Wahrscheinlichkeit handlungsunfähig zu werden.

 

In den ersten drei Lebensjahren können wir aufgrund unserer Gehirnentwicklung und aufgrund der noch nicht ausreichenden sprachlichen Entwicklung praktisch keine bewusst abrufbaren Erinnerungen aufbauen. Dennoch sammeln wir gerade in dieser Lebensphase ganz viele Eindrücke und Erfahrungen, die nicht nur unser weiteres Lernen, sondern auch unsere Persönlichkeit ganz entscheidend prägen.

 

Wenn etwas einmal ins Langszeitgedächtnis gelangt ist, bedeutet Vergessen mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass wir keinen Zugang zu den entsprechenden Gedächtnisinhalten mehr finden, während die Inhalte selbst durchaus noch abgespeichert und damit prinzipiell verfügbar wären. Das können wir u. a. daran erkennen, dass wir vieles wieder erinnern können, wenn wir einen "Aufhänger" (z. B. einen Geruch, ein Bild, eine Melodie) für eine Situation haben oder dass wir uns unter Hypnose an Phänomene erinnern, zu denen wir sonst keinen Zugang finden. [Eine Ausnahme ist es, wenn Gerhirnzellen, in denen solche Inhalte abgespeichert sind, z. B. durch eine Krankheit oder durch einen Unfall geschädigt werden]

 

Unbewusstes entsteht durch Verdrängung

 

Der zweite, für die Tiefenpsychologie besonders interessante Teil des Unbewussten entsteht durch Verdrängung. Damit gemeint ist ein psychischer Prozess, der Erfahrungen, die uns überfordern würden, aus dem Bewusstsein ausschließt. Ein großer Teil der verdrängten unbewussten Inhalte hat ihre Wurzeln in der Kindheit, aber in jedem Lebensabschnitt tendieren wir dazu, einen Teil unserer Erfahrungen, Erlebnisse, .... zu verdrängen.

Was beinhaltet das Unbewusste?

Auf die Frage, was denn jetzt genau die Inhalte des Unbewussten - vor allem die psychisch interessanten verdrängten Inhalte - sind, gibt es leider keine einfache Antwort. Zu oft hat Freud selbst seine diesbezüglichen psychoanalytsichen Positionen verändert. Und zu unterschiedlich sind genau in diesem Bereich auch die verschiedenen anderen tiefenpsychologischen Richtungen. In der Individualpsychologie ist das Unbewusste eher durch soziale Erfahrungen und "Triebe" bestimmt (Machtstreben, Über- und Unterkompensation), in der Analytischen Psychologie dominiert das Konzept des Kollektiven Unbewussten mit seinen archetypischen Elementen usw.

 

Für Freud beinhaltet das Unbewusste konflikthafte Erfahrungen , die die eigene Persönlichkeit überfordern und das psychische Gleichgewicht bedrohen, und damit verbundene Empfindungen und Gefühle. Dazu zählen z. B. das Verliebt-Sein in den gegengeschlechtlichen Elternteil ("Wenn ich groß bin, heirate ich meine Mutter") und Rivalitätsempfindungen gegenüber dem gleichgeschlechtlichen Elternteil in der so genannten Ödipalen Phase, die als bedrohlich erlebt und verdrängt werden (Kastrationsangst, Penisneid, ...) Typisch wären aber beispielsweise auch Trennungs- und Frustrationserfahrungen aus dem ersten Lebensjahr (orale Phase) u. a. m.

 

Dabei spielen insgesamt zwei Triebe, die große unbewusste Anteile enthalten, eine wichtige Rolle: Libido und Thanatos.

Libido

Libido: Lust, Sinnlichkeit, Sexualität
Libido: Lust, Sinnlichkeit, Sexualität

Libido (= Sexualität in einem sehr weiten Sinn; eine Art "Lebenstrieb") umfasst alles, was dem körperlichen Lustempfinden, dem Bedürfnis nach Zuwendung und sozialem Kontakt und der Fortpflanzung zuzuordnen ist. Libido begleitet einen Menschen sein gesamtes Leben, nimmt aber immer wieder unterschiedliche Erscheinugnsformen an. Insofern spricht Freud von einer "kindlichen Sexualität". Damit meint er, dass beispielsweise das Saugen des Babys an der Brust der Mutter oder das Gehalten-Werden, das Schmusen den Kleinkindes mit einem Elternteil, die Doktor-Spielchen, die für Vierjährige typisch sind, die Rollenspiele (Familie, Prinzessin, Cowboy, ...), die Rivalität und anschließende Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil in der ödipalen Phase usw. allesamt Erscheingsformen der kindlichen Sexualität sind und die mit der Pubertät einsetzende Erwachsenensexualität "vorbereiten". Aus heutiger Sicht ist diese These keine große Provokation mehr. Zu Zeiten Freuds ist dies allerdings etwas Anderes, denn das dominante Entwicklungskonzept geht vom "unschuldigen Kind" (also vom a-sexuellen Kind, als ob Sexualität etwas mit Schuld oder Schmutz zu tun hätte) aus.

Thanatos

Kriegseuphorie am Beginn des Ersten Weltkrieg (1914)
Kriegseuphorie am Beginn des Ersten Weltkrieg (1914)

Thanatos (= destruktive Aggression, Todestrieb; Thanatos = griech. Totengott) ist für Freud der Gegentrieb zur Libido. Dieses Konzept entwickelt Freud erst vergleichsweise spät und vor allem unter dem Eindruck des ersten Weltkrieges. Das hier prägende Moment ist die Erfahrung, dass zivilisierte, bürgerlich geprägte, im Wesentlichen vergleichsweise friedliche Menschen quasi über Nacht in einen Kampf- und Blutrausch verfallen zu sein scheinen. Die Kriegsbegeisterung scheint in Wien (und nicht nur dort) am Beginn des ersten Weltkrieges 1914 fast grenzenlos zu sein. Endlich gibt es Abenteuer, Action und die Möglichkeit, dem Feind endlich einem seine Grenzen zu zeigen.

 

Freud geht davon aus, dass Menschen durch die Erziehung lernen, die ursprünglich "unzivilisierten" Triebe Libido und Thanatos zu zähmen und zu "zivilisieren". Dabei geht es vor allem darum, sie so "umzulenken", dass sie gesellschaftlich konstruktiv wirken oder zumindest nicht schaden. Der destruktiv-aggressive Impuls, mit dem ein kleines Kind einfach zuschlägt, wenn beispielsweise das Lastauto will, mit dem das andere Kind gerade spielt, muss so "umgestaltet" werden, dass das Kind seine Interessen höflich und vergleichsweise friedlich durchsetzen kann. Es muss also lernen, um einen Bagger zu fragen, mit dem anderen Kind zu verhandeln u.a.m.

Die Zähmung der Triebe

Sexuelle Lustbefriedigung wird teilweise auch auf andere Formen der Lustbefrieidigung "umgelenkt". Dazu gehören orale Lüste (z. B. Essen, Rauchen, ...), anale Lüste (z.B. Sammeln), aber auch Freude an Musik, an Literatur, daran etwas herzustellen u.a.m.

 

Allerdings ist dieser Zivilisierungsprozess etwas recht Brüchiges. Freud vergleicht diesen Prozess mit der (oft vergleichsweise dünnen) Eisschicht auf einem zugefrorenen See. Sie verbirgt das Wasser unter der Oberfläche. Aber die Eisdecke kann unter umständen sehr dünn sein und einbrechen.

 

Ähnlich ist es mit dem Bewussten und dem Unbewussten. Die zivilisierten bewussten Anteile dominieren in Normalsituationen das menschliche Verhalten. In Extremsituationen (also z. B. unter großem Stress, wenn die staatliche Ordnung zusammenbricht, in großen Massen, im Rausch u. a. m.) bricht die Eisdecke der Zivilisation leicht ein und das was dann durchkommt, sind die normalerweise im Unbewussten gehaltenen "unzivilisierten" triebhaften Anteile.

 

Viele Kulturen entwickeln "Ausnahmezeiten" oder "Ausnahmesituationen" (z. B. Fasching, religiöse Feste, Sportwettkämpfe), in denen sich ansonsten unterdrückte Triebregungen teilweise "Bahn brechen" können.

Wo zeigt sich Unbewusstes?

Verdrängung und Abwehrmechanismen

Impluse, die wird als bedrohlich  oder verboten erfahren, verdrängen wir der tiefenpsychologischen Theorie zufolge mithilfe psychischer Energie ins Unbewusste. Aber diese Verdrängung ins Unbewusste ist oft nicht vollständig. So entsteht mithilfe der Abwehrmechanismen ein "Kompromiss", in dem unbewusste Anteile bei genauerer Betrachtung sichtbar werden.  Wie das funktionieren kann, zeigt die Theorie der Abwehrmechanismen.

 

Weil wir diese unbewussten Anteile im Normalfall nicht erkennen können, erscheint uns unser Verhalten und Erleben gerade in diesen Bereichen manchmal sinnlos, bizarr und schwer begreifbar.

 

Unbewusstes zeigt sich aber auch indirekt in vielen Lebensbereichen. Allerdings können wir diese unbewussten Anteile nur durch intensive Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen Geschichte (z. B. im Rahmen einer psychoanalytischen Therapie) identifizieren.

 

Unbewusstes zeigt sich aber vor allem in ganz spezifischen Situationen. Dazu zählen

  • Träume (vgl. die tiefenpsychologische Traumtheorie)
  • Fehlleistungen (Vergessen, Versprechen, Verlegen, ...), z. B. Freudsche Versprecher
  • unter Hypnose
  • als Kernelemente / Symptome bei psychischen Erkrankungen wie Süchten, Ängsten, Zwängen, Schizophrenien, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, ...
  •  im Rahmen einer tiefenpsychologischen Therapie