Die großen Erzählungen: Mythen

Was sind Mythen?

Jandl: Erschaffung der Eva
Jandl: Erschaffung der Eva

Die jüdisch-christliche Schöpfungsgeschichte ist ein Beispiel für einen Mythos.

 

Mythologische Erzählungen finden sich in der Bibel (vor allem im Alten Testament) sehr viele. Aber praktisch auch alle anderen Religionen haben Mythen entwickelt. Auch viele mythologische Erzählungen, die wir heute vor allem aus der Literatur kennen – beispielsweise die griechischen Geschichten, die in der "Ilias" und in der "Odyssee" erzählt werden oder das "Nibelungenlied" – haben zumindest in Teilen religiöse Wurzeln.

 

Auch alle anderen Religionen, die wir kennen, haben mythologische Erzählungen entwickelt. So gibt es beispielsweise in fast allen Religionen und Kulturen Schöpfungsmythen.


Mythen gibt es in allen Kulturen. Sie sind ursprünglich mündlich weitertradierte Geschichten, in denen sich philosophische Fragen spiegeln. Dazu zählen zum Beispiel Fragen nach der Entstehung der Welt, nach der Entstehung des Menschen, nach Tod, nach Liebe und Leid, nach Gerechtigkeit, ... Beantwortet werden diese Fragen nicht wissenschaftlich, sondern mit Bezug auf etwas Transzendentes. Das heißt, um eine Antwort zu finden, greift der Mythos auf Übernatürliches oder Magisches oder Göttliches zurück.

 

 

Wie "funktionieren" Mythen?

Welche Bedeutung mythologischen Geschichten heute haben, ist eine Frage, über die sich nachzudenken lohnt. Nicht zuletzt haben diese Geschichten ja durch moderne wissenschaftliche Erkenntnisse - beispielsweise die Evolutionstheorie - mächtige Konkurrenz im Hinblick auf ihre Deutungsmacht bekommen. 

 

Manche Menschen meinen, mythologische Geschichten hätten in der heutigen Zeit ihre Bedeutung verloren. Sie seien durch wissenschaftlichen Theorien abgelöst und überwunden worden. Andere - häufig gehören sie eher fundamentalistischen religiösen Gruppen an - bestehen auf einer wortwörtlichen Gültigkeit der religiösen Mythen. Im Extremfall lehnen sie deshalb wissenschaftliche Theorien, die diesen Mythen zu widersprechen scheinen, ab. "Kampfräume" zwischen diesen beiden Gruppen sind beispielsweise die Diskussionen um "Intelligent Design", um Kreationismus und um den Stellenwert der biblischen Schöpfungsgeschichte im Biologie-Unterricht in manchen Bundesstaaten der USA. 

 

Zwischen diesen beiden Gruppen befindet sich eine Mehrheit, die davon ausgeht, dass Mythen einfach in einer anderen Sprache als der Sprache der Wissenschaft geschrieben sind, dass sie also nicht den Charakter einer wissenschaftlichen Theorie haben und einen solchen Charakter auch nicht beanspruchen. Vielmehr sind sie - ähnlich wie literarische Texte oder ein Bild von Picasso - "jenseits von wahr und falsch". Sie drücken auf symbolische Weise eine Grundidee oder Grunderkenntnis über die Welt oder den Menschen oder menschliche Grundsituationen wie Tod oder Leid aus. Sie müssen und können unterschiedlich verstanden und gedeutet werden. Dabei funktionieren sie wie eine Art "Zauberspiegel", hinter dem jemand, der sie zu lesen vermag, etwas über sich selbst und die Welt erfahren und begreifen kann. 

 

Schlüssel für das Verständnis mythologischer Texte sind in diesem Zusammenhang die Bilder und die Symbole, die der Mythos entwickelt. Die Frage WARUM? führt in der Auseiandersetzung mit mythologischen Texten meistens nicht weiter. Viel wichtiger sind die Fragen WIE? und WOZU?

Welche mythischen Grundtypen gibt es?

Boticelli: Geburt der Venus (Aphrodite), Quelle: Wikipedia
Boticelli: Geburt der Venus (Aphrodite), Quelle: Wikipedia

Mythen lassen sich in unterschiedliche Gruppen unterteilen:


  • Theogonische Mythen (theos = Gott) erzählen von der Entstehung und Verwandlung der Götter; in den abrahamitischen Religionen Judentum, Islam und Christentum spielen diese Mythen natürlich keine Rolle, weil ja Gott als ewiges Wesen gedacht wird. In anderen Religionen (z. B. in der griechischen Mythologie) sind auch die Götter entstanden, weshalb es auch Geschichten über ihre Entstehung gibt. 
  • Kosmologische Mythen (kosmos = griech: Ordnung = Weltall / Universum) erzählen von der Entstehung der Welt und des Universums. Wer will, kann zwischen Weltentstehungs-Mythen und Schöpfungsmythen (ein Gott schafft die Welt aus dem "Nichts"). Außerdem kann man zwischen linearen Mythen (Anfang der Welt und Ende der Welt als "Eckpunkte") und zyklischen Mythen (Kreislauf von Entstehung - Bestehen - Untergang - Neuentstehung) unterscheiden. 
  • Anthropologische Mythen (anthropos = griech: Mensch) erzählen von der Erschaffung des Menschen, von Mann und Frau, vom Schicksal des Menschen, von menschlichen Grundsituationen wie Liebe und Leid, Kampf, Tod, Schuld, ...
  • Eschatologische Mythen (Eschatologie = gr/neulat: Lehre von den letzten Dingen / vom Ende) erzählen von Katastrophen, Weltuntergängen, dem Ende aller Zeiten.

 

Beispiel: Biblische Geschichten vom Anfang der Welt: Sündenfall

Michelangelo: Sündenfall; Quelle: Wikipedia
Michelangelo: Sündenfall; Quelle: Wikipedia

Der biblische Schöpfungsmythos (Genesis, 1. Buch Mose) erzählt von der Erschaffung der Erde, von der Erschaffung der ersten Menschen Adam (= Mensch) und Eva, von der Vertreibung aus dem Paradies. Unabhängig von der Frage, welche Bedeutung man diesem Mythos in der heutigen Zeit gibt, zeigt sich seine Wichtigkeit darin, dass er nicht nur Inspiration für zahlreiche Kunstwerke gewesen ist, sondern auch darin, dass er unser kulturelles Verständnis der Welt, der Menschen, der Kultur ganz wesentlich geprägt hat. 

 

Vor allem im Hinblick auf das Grundverständnis des Menschen (Mensch als "Krone der Schöpfung"; Mensch als "Ebenbild Gottes", Auftrag sich die Erde "untertan zu machen"), aber auch im Hinblick auf das patriarchale Verständnis der Beziehung zwischen Mann und Frau hat dieser Mythos unsere Kultur geprägt und ist ein Spiegel unserer kulturellen und Wurzeln und Traditionen.

 

Wie alt dieser Mythos ist, lässt sich schwer sagen. Wahrscheinlich ist er - wie viele Mythen - zunächst einmal über lange Zeit mündlich tradiert worden, bevor er aufgeschrieben und damit gleichsam "fixiert" worden ist. Auffallend ist, dass dieser Mythos (wie andere biblische Mythen auch) Ähnlichkeiten mit anderen Mythen, in diesem Fall mit einem babylonischen Mythos (Enuma Elisch) hat und möglicherweise eine Weiterentwicklung dieser Geschichte ist. 

 

Der Mythos selbst hat sich über viele Jahrhunderte hinweg kaum geändert. Geändert hat sich aber die Art und Weise, wie die Menschen diesen Mythos verstehen und interpretieren. 

 

religiöse Mythen und Wissenschaft: Ein Widerspruch?

Kreationisten, die besonders in den USA großen Einfluss haben, bestehen darauf, dass biblischen Mythen derselbe Wahrheitsanspruch zukomme wie wissenschaftlichen Theorien wie der Urknall-Theorie oder der Evolutionstheorie. Entweder wollen sie, dass beide Denksysteme gleichwertig nebeneinandergestellt werden. Oder sie lehnen die Urknall-Theorie und die Evolutionstheorie zur Offenbarung einer Schöpfung stehend ab. 

 

Grundsätzlich lassen sich drei widersprüchliche Positionen ausmachen: 

 

(a) Kreationisten; Vertreter des Intelligent Design: Gehen davon aus, dass religiösen Theorien (Bibel) mehr Autorität zukommt als wissenschaftlichen Theorien, weil sie von einer göttlichen Autorität geoffenbart sind und nicht in Frage gestellt werden dürfen. Wenn Kreationisten darum kämpfen, dass ihre Position in den Lehrpläne an Schulen und Hochschulen berücksichtigt wird, geht es meistens um "Stellvertreter-Kriege". Denn es geht dabei auf einer zweiten Ebene auch darum, gesellschaftspolitische Positionen, die sich aus religiösen Texten ableiten lassen, durchzusetzen. Also durchzusetzen, dass in der Politik (Familienpolitik, ...) die Trennung von Religion und Staat aufgehoben wird und dass ihre sehr konservativen religiösen Überzeugungen (Familie, Sexualität, ...) die praktische Politik prägen. Das finden Menschen, die sich der Aufklärung und dem Liberalismus verpflichtet fühlen, natürlich als Bedrohung. 

 

(b) Atheisten, die den Kreationismus bekämpfen (Dawking): Gehen davon aus, dass die alten Mythen mit modernen wissenschaftlichen Theorien unverträglich und  wissenschaftlich widerlegt sind. Deshalb muss man sie nicht mehr ernst nehmen. In einem modernen Schulsystem haben sie ihrer Meinung nach nichts zu suchen. 

 

(c) Zwei-Wege-Theorie: Viele liberale religiöse Menschen und viele (Natur)wissenschaftlerInnen oder PhilosophInnen sehen keinen Widerspruch zwischen Evolutionstheorie/Urknall-Theorie und religiösen Mythen. Sie gehen vielmehr davon aus, dass beide grundlegend unterschiedliche Denkmodelle sind. Wissenschaften funktionieren nach den Prinzipien der Wissenschaft. Das heißt, wissenschaftliche Theorien dürfen nicht von Autoritäten ausgehen, sie müssen sich durch empirische Daten belegen lassen. Sie müssen prinzipiell widerlegbar (falsifizierbar) sein. Mythen sind Erzählungen, die - ähnlich wie ein Kunstwerk oder ein literarischer Text - Fragen aufwerfen, zum Nachdenken anregen, komplexe und abstrakte Themen mit Symbolen und Bildern veranschaulichen, ... Aber sie sind "jenseits von wahr und falsch" in einem wissenschaftlichen Sinn. Es macht ebenso wenig Sinn zu fragen, ob Adam und Eva existiert haben, wie es Sinn macht, nach Beweisen für die Existenz einer literarischen Figur wie Goethes Werther oder seiner Geliebten Lotte zu suchen. Sie sind Modelle, Ideen, Denkfiguren, in denen sich Grundthemen der menschlichen Existenz spiegeln. 


Dokumente und Arbeitsaufgaben

Download
biblische Schöpfungsgeschichte; Adam, Eva, die Schlange und das Paradies
In diesem Dokument findest du eine (gekürzte) Version der biblischen Geschichte vom Paradies und Arbeitsaufgaben dazu.
5_Schöfungsmythos_Arbeitsaufgaben.pdf
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MindMap Schöpfungsmythos
MindMap Schöpfungsmythos

Internetlinks und Quellen

  • Wikipedia über den Begriff "Mythos"
  • Wikipedia über Schöpfungsmythen in unterschiedlichen Kulturen
  • Einblick in unterschiedliche Mythen aus unterschiedlichen Kulturkreisen erhältst du auf der Seite "Mythologien-Net"
  • Einen interessanten Einblick in die "Logik" mythologischer Erzählungen gibt der Psychoanalytiker Erich Fromm in seinem Buch "Märchen, Mythen, Träume"
  • Religiöse Fundamentalisten und Kreationisten beharren meistens auf einem quasi wissenschaftlichen Wahrheitsverständnis von Mythen. Sie sehen die Mythen in einem Widerspruch vor allem zur Urknall-Theorie und zur Evolutionstheorie. Diese Sendung von planet-wissen.de setzt sich kritisch mit dem Kreationismus und seinen Vertretern auseinander.