Feldforschung. Beobachtungen im natürlichen Feld. 

Rene Spitz erforscht in einem Heim, wie sich die Heimunterbringung auf die geistige Entwicklung von Kindern auswirkt.
Rene Spitz erforscht in einem Heim, wie sich die Heimunterbringung auf die geistige Entwicklung von Kindern auswirkt.

Manchmal werden wissenschaftliche Untersuchungen nicht in einer künstlichen Laborsituation durchgeführt, sondern im natürlichen Umfeld, beispielsweise in einer Kindergartengruppe oder in einer Schulklasse.


Beispiel: Hospitalismus-Forschungen von Rene Spitz:


Einen "Klassiker" der Feldforschung sind die Hospitalismus-Forschungen von Rene Spitz, die er in einem Kinderpflegeheim, das mit einem Altersheim verbunden war, durchgeführt hat. 


Spitz beobachtet in den 50er-Jahren des 20. Jh. in einem Pflegeheim, dass Kinder, die in diesem Heim untergebracht sind, schwere kognitive und emotionale Defizite entwickeln, obwohl sie körperlich ausreichend versorgt werden. Gleichzeitig bemerkt er, dass ein Teil der Kinder von Frauen in einer angrenzenden Pflegestation "adoptiert" worden sind. Die z. T. dementen und geistig behinderten Frauen können die Kinder intellektuell nicht fördern. Dennoch entwickeln sich genau diese Kinder geistig und emotional sehr viel besser als die Kinder, die nur durch professionelle Pflegerinnen versorgt werden.


Das Phänomen, dass Kinder, die emotional vernachlässigt aufwachsen und die keine Bindung zu einer Bezugsperson herstellen können, schwere körperliche und psychische Defizite entwickeln, nennt man Hospitalismus. Ein anderer Begriff ist anakliktische Depression. 

Dr. Higgins macht aus dem Blumenmädchen Eliza Doolittle eine feine Dame.
Dr. Higgins macht aus dem Blumenmädchen Eliza Doolittle eine feine Dame.

Beispiel: Rosenthal-Effekt

 

Eine anderes Beispiel für eine Feldstudie ist eine Untersuchung, die als "Pygmalion im Unterricht" eine gewisse Berühmtheit erlangt hat. Sie hat wichtige Einsichten zur so genannten Self-Fulfilling-Prophecy gebracht. LehrerInnen hat sie nicht gerade ein Ruhmesblatt ausgestellt.

 

In den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts untersucht der us-amerikanische Psychologe Robert Rosenthal in einer Forschungsserie, wie sich Erwartungshaltungen von Eltern, Lehrern, Autoritätspersonen auf das tatsächliche Verhalten von Menschen auswirken. Unter anderem arbeitet er mit LehrerInnen und ihren Schulklassen.

 

Die klassische Version des Feldversuchs geht so: Am Anfang des Schuljahres erhalten LehrerInnen Informationen über die Intelligenz und über die zu erwartenden schulischen Leistungen von bestimmten SchülerInnen. Manche Schüler werden als besonders leistungsfähig und intelligent charakerisiert; andere als unterdurchschnittlich leistungsbegabt. Die Lehrer wissen aber nicht, dass es zwischen den beiden Gruppen von Schülern im Hinblick auf Intelligenz und Leistungsfähigkeit gar keinen Unterschied gibt. In beiden Gruppen sind ausschließlich durchschnittlich begabte SchülerInnen.

 

Am Ende des Schuljahres werden Leistungsfähigkeit und schulische Noten der angeblich "klugen" und der angeblich "dummen" Schüler verglichen. Und was sich jetzt herausstellt, ist ziemlich dramatisch: Die SchülerInnen, die von den Lehrern für "intelligent" erachtet worden sind, sind in ihren Leistungen tatsächlich signifkant besser als die SchülerInnen, die die Lehrer für "dumm" hielten. Aus den Vorurteilen der Lehrer sind Tatsachen geworden.

 

Erklärt worden ist dieses Ergebnis damit, dass sich die Erwartungshaltung von LehrerInnen auf ihr Verhalten gegenüber den Kindern auswirkt. Dies wiederum beeinflusst das Verhalten des Kindes und somit dessen Lernleistung. Wenn ein Lehrer glaubt, ein Kind sei "intelligent", bekommt es mehr Hilfestellungen und mehr Zeit für eine Antwort, es wird für gute Leistungen mehr belohnt, während schwache Leistungen und Fehler eher nicht so wichtig genommen werden. Das alles stärkt das Selbstbewusstsein und die Leistungsmotivation des Kindes, wodurch es tatsächlich in der Lage ist, bessere Leistungen zu erbringen. Beim vermeintlich "dummen" Kind läuft es tragischerweise genau umgekehrt: Es wird eher kritisiert als gelobt, es bekommt insgesamt weniger Ermutigung, die Lehrer erwarten von ihm gar keine guten Leistungen und spornen es so auch nicht zu mehr Leistung an. Das alles führt dazu, dass das "dumme" Kind irgendwann resigniert und sich mit seinem Schicksal, ein schwacher Schüler zu sein, abfindet.

 

So lautet zumindest die Theorie. Genauere Untersuchungen haben in der Folge aber gezeigt, dass der Rosenthal-Effekt nicht so stark ist, wie Rosenthal selbst angenommen hat, und dass er nur unter ganz bestimmten Rahmenbedingungen systematisch zu beobachten ist.

 

Das Phänomen ist inzwischen allgemein als Self-fullfilling-Prophecy (oder in Deutsch: als Sich-selbst-erfüllende-Prophezeiung) bekannt. Weil der Dichter George Bernard Shaw in seiner Komödie "Pygmalion" mit Professor Higgins und dem Blumenmäden Eliza eine ähnliche Situation beschreibt, nennt man den Effekt auch Pygmalion-Effekt. Bekannt geworden ist der Stoff vor allem durch das gleichnamige Musical. Im Hintergrund ist eine Figur aus der griechischen Mythologie: Der Bildhauer Pygmalion meißelt sich seine Traumfrau aus Stein (oder Elfenbein oder Marmor?).

 

Selfullfilling-Prophecy-Effekte kennen wir wahrscheinlich auch aus unserer eigenen Erfahrung. Manchmal machen wir uns auch selbst zum Opfer von Self-Fullfilling-Vorurteilen. Beispielsweise wenn wir annehmen, dass wir etwas nicht können oder in einem bestimmten Feld besonders "unbegabt" seien: Wenn ich der Meinung bin, dass ich ein unsportlicher Mensch bin, werde ich vielleicht sportliche Herausforderungen eher meiden und ihnen aus dem Weg gehen. Das führt aber dazu, dass ich meine Muskeln nicht trainiere, keine Sicherheit im Umgang mit Bällen entwickle, ... Der Glaube, dass ich unsportlich bin, führt dazu, dass ich mit der Zeit immer unsportlicher werde.  Umgekehrt gibt es natürlich zum Glück auch positive Effekte: Wenn ich der Meinung bin, dass Psychologie ganz spannend ist, werde ich mich viel mit psychologischen Fragen und Themen auseinandersetzen. Ich werde ein gutes Grundwissen erwerben und verschiedene Fragen mit der Zeit immer besser verstehen. ...

Sich-selbst-erfüllende-Prophezeiungen spielen in der Psychotherapie, in der Pädagogik, aber auch in der Wirtschaft (Börsen-Hausse und Börsencrash; Rückwirkungen von Konjunkturerwartungen von Unternehmen und Konsumenten auf die tatsächliche wirtschaftliche Konjunktur, ...) eine zentrale (und theoretisch nur schwer kalkulierbare) Rolle.

Vor- und Nachteile von Feldstudien

Vorteile und Stärken der Feldforschung

  • Das Verhalten von Menschen wird in ihrem natürlichen Umfeld untersucht. Das Problem, dass durch Experimente in Laborsituationen beeindruckende theoretische Daten gewonnen werden, die sich dann aber nicht in die Praxis übertragen lassen, kann so minimiert werden.
  • Weil Menschen, deren Verhalten in Feldstudien untersucht wird, nicht aus ihrem natürlichen Umfeld herausgenommen und in eine "künstliche Umgebung" gebracht und "getestet" werden, verändern sie ihr Verhalten aufgrund der Untersuchungssituation auch nicht (oder nur sehr kurzfristig, weil schnell eine Gewöhnung eintritt). 

Nachteile und Schwächen der Feldforschung

  • Weil eine Feldsituation prinzipiell "offen" ist, kann es sein, dass unterschiedliche Beobachter auch Unterschiedliches beobachten. Damit wäre die Objektivität aber eingeschränkt. (Das Item "Lob" wird von unterschiedlichen Beobachtern vielleicht unterschiedlich interpretiert. Beobachter A. bewertet Blickkontakt als Lob, Beobachter B. als neutrale Reaktion)
  • Weil keine Laborsituation vorliegt, sind auch nicht alle Einflussfaktoren bekannt und kontrollierbar. Beispielsweise können TeilnehmerInnen an Feldforschung meistens nicht systematisch in Untersuchungsgruppen und Kontrollgruppen unterteilt werden. Feldforschungen sind also oft nur bedingt kontrollierbar. (Bei den Rosenthal-Untersuchungen ist z. B. nicht wirklich nachvollziehbar, welche Faktoren die Leistungsentwicklung der SchülerInnen beeinflusst haben, weil prinzipiell sehr viele Einflussfaktoren wie das Verhalten der MitschülerInnen, das Verhalten der Eltern, eigene Interessen und Motivationen, frühere Lernerfahrungen vorhanden sind und die Situation beeinflussen.
  • Wenn nicht alle Einflussfaktoren bekannt oder gar kontrollierbar sind, kann eine Felduntersuchung - im Unterschied zum Experiment - logischerweise auch nicht unter denselben Bedingungen reproduziert werden. Es gibt keine zweite Schulklasse, die genau dieselben Bedingungen aufweist wie die Schulklasse, mit der Rosenthal ursprünglich gearbeitet hat. Ob sich in seine Forschungen Messfehler oder Ungenauigkeiten eingeschlichen haben, wird sich daher mit Sicherheit nicht mehr klären lassen. Die Ergebnisse können daher nur als "schwach" bewertet werden. (Dieser Effekt kann aber durch äußere logische Konsistenz, also durch die Kontrolle durch andere Feldforschungen und / oder Experimente abgefedert werden)