Was verstehen wir unter Gedächtnis?

Ein kleines Experiment ...

Mit dem Einbein-Experiment kannst du dein eigenes Gedächtnis testen ...

 

Viel Spaß

Was ist Gedächtnis?

altes Gedächtnismodell: Nürnberger Trichter
altes Gedächtnismodell: Nürnberger Trichter

Früher hat man sich das Gedächtnis wie eine Art "Schachtel" oder "Gefäß" vorgestellt, das sich im Laufe des Lebens mit "Erfahrungen" füllt. Das nannte man Lernen. Der berühmt-berüchtigte "Nürnberger Trichter" symbolisiert dieses Lern-Modell. 

 

Und wenn jemand dann eine bestimmte Erinnerung braucht, greift er in die Schachtel und holt die entsprechende Erfahrung wieder heraus. Das nannte man Erinnerung. 

 

Beides zusammen stellte man sich unter Gedächtnis vor. 

 

Doch heute weiß man: Dieses Bild von Lernen, Erinnern und Gedächtnis ist nicht nur grob vereinfacht. Es ist auf mehreren Ebenen fundamental falsch. 

 

Grunderkenntnis 1: Es gibt keinen spezifischen Ort im Gehirn, in dem Erfahrungen abgespeichert werden. Vielmehr landet (fast) jede Einzelerfahrung in unterschiedlichen Bereichen des Gehirns, je nachdem, welche Bedeutungsqualität oder welche sinnliche Qualität sie hat. Diese Bereiche befinden sich vor allem im Großhirn (Neokortex), genauer: in den so genannten Rindenfeldern. Dort gibt es mehrere Bereiche für die visuelle Qualität (Farben, Form, Gestalt, ...), für die haptische Qualität (Oberflächenstruktur), für die akustische Qualität, für die Begriffsbedeutung, für die grammatische Struktur .... Dazu wird eine Verbindung zu motorischen Abläufen (z. B. Schreibbewegung) hergestellt. Diese ist v.a. im Kleinhirn lokalisiert. Dazu kommen bestimmte emotionale Grundfärbungen. Die laufen über Verschaltungen ins Zwischenhirn (Amygdala) u.s.w. Jeder einzelne Begriff wird so schon beim Einspeichern ins Gehirn vieldimensional vernetzt. Die Neurologen und Gedächtnisforscher sprechen in diesem Zusammenhang von neuronalen Netzen. (Nur beim schulischen Lernen machen wir manchmal den Fehler, sehr eindimensional zu lernen, indem wir Begriffe miteinander verbinden, uns aber unter den Begriffen nichts vorstellen. Vgl. Zweibein-Übung)

 

Grunderkenntnis 2: Beim Lernen geht unser Gehirn sehr selektiv vor. Es filtert ständig aus. Was das Gehirn als nicht-relevant empfindet, wird auf mehreren Ebenen ausgefiltert. So gelangt meistens gar nicht bis ins Großhirn, wo es dauerhaft verankert werden könnte.  Und was das Gehirn für relevant hält, muss nicht mit dem identisch sein, was wir selbst für relevant empfinden. (Für SchülerInnen heißt das meistens: Sie haben nur mit dem Kurzzeitgedächtnis, das bis zum nächsten Test ausreicht, gelernt. Schon zwei Stunden nach dem Test haben sie den Großteil des Gelernten wieder vergessen)

 

Grunderkenntnis 3: Beim Lernen können wir selbst sehr stark mitbeeinflussen, ob etwas gut verankert in unserem Langzeitgedächtnis landet oder ob wir es nur teilweise oder nur sehr oberflächlich abspeichern. Um etwas langfristig zu lernen, müssen wir drei grundlegende Prinzipien beachten: 

  • Entweder wir müssen es sehr oft wiederholen und üben. Dann können wir auch "sinnloses" Material dauerhaft lernen. 
  • Oder wir müssen etwas, was wir lernen wollen, mit (möglichst positiven) Gefühlen verbinden. 
  • Oder wir müssen es mit Sinn und Bedeutung versehen. Das heißt: Wir müssen es verstehen und mit früheren, bereits gut verankerten Lerninhalten in Verbindung setzen. (Zweibein-Übung)

 

Auch das Reproduzieren, also beim Abrufen von Erinnerungen und Gedächtnisinhalten, ist ein recht komplexes Phänomen, bei dem viele Faktoren eine Rolle spielen. 

 

Was von den alten Gedächtnis-Modellen geblieben ist, lässt sich mehr oder weniger auf die grundlegenden Teilfunktionen Einspeichern (also: Lernen), Behalten (also: Merken) und Reproduzieren (also: Erinnern) reduzieren. 

 

 

Teilfunktionen von Gedächtnis

Gedächtnis ist ein komplexes Phänomen, das (zumindest) aus drei Teilfunktionen besteht: 

 

1. Einspeichern = Lernen = Encodieren

 

Die Lerninhalte müssen den Weg über die Wahrnehmungskanäle durch bestimmte Gehirnregionen - beispielsweise den Hippocampus und den so genannten medialen Schläfenlappen (Temporallappen) - gefiltert und in bestimmte Regionen der Großhirnrinde (die so genannten Rindenfelder) gelangen. Was passiert, wenn der Hippocampus beschädigt ist, sehen wir am tragischen Schicksal von Henry Molaison. 

 

2. Behalten = Speichern

 

Informationen werden in unsterschiedlichen Regionen des Gehirns eingespeichert. Besonders sind das die so genannten Rindenfelder im Großhirn (Neokortex) spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Für die Speicherung von Bewegungsabläufen ist das Kleinhirn zentral. Emotionen werden teilweise in subkortikalen Gehirnregionen (Zwischenhirn, limbisches System) mitverarbeitet. 

 

Wichtig ist, dass wir Informationen nicht einfach nur an einem Ort abspeichern, sondern so genannte neuronale Netzwerke bilden. Ein Begriff wie "Pferd" ist beispielsweise im akustischen Rindenfeld (hören; Klang), im optischen Rindenfeld (Gestalt), in der Broca-Region (Sprachzentrum; Verbindung von Begriff und Bedeutung, grammatische Dimension von Begriffen), in motorischen Feldern (Schreiben des Begriffs) u.v.a.m. "verankert". Je vielschichtiger ein Begriff verankert ist, desto besser können wir ihn im Normalfall erinnern. 

 

 

3. Abrufen = Erinnern = Reproduzieren 

 

Schließlich kommt es darauf an, die gespeicherten Informationen wieder abrufen zu können. Das gelingt uns keinesfalls immer. Der Fall Benjaman Kyle ist wohl ein extremes Beispiel dafür, dass der Zugang zu einem ganz bestimmten Teil der gespeicherten Informationen blockiert sein kann.  Der Fall Jill Price zeigt, dass auch der Zwang, sich zu erinnern, und sich aufdrängende Erinnerungen für den Lebensalltag zu einem Problem werden können.

Arbeitsaufgaben und Übungen

A4: Auf dieser Seite von Quarks & Co findet ihr interessante Informationen rund ums Thema "Gedächtnis". Setze dich mit einem Thema näher auseinander und fasse ein paar zentrale Erkenntnisse zusammen. 

 

A5: Versuche mithilfe der drei angeführten Grunderkenntnisse zu erklären, wieso es möglich ist. die Zweibein-Geschichte nach nur einmaligem Hören zu merken, wenn man sie in "Bilder" übersetzt, während wir sie uns nicht langfristig merken können, wenn wir uns Zahlen-Folgen einzuprägen versuchen. 

 

A6: Welche (vielleicht vorläufigen) Schlussfolgerungen könnten wir aus diesen Grunderkenntnissen über schulisches Lernen ziehen? Denke dabei an unterschiedliche Lernaufgaben, wie sie für unterschiedliche Fächer typisch sind.