Aufgaben und Methoden der Philosophie

Wozu brauchen wir Philosophie? Brauchen wir sie überhaupt?

Karl R. Popper (Quelle: Wikipedia)
Karl R. Popper (Quelle: Wikipedia)

Der ursprünglich aus Österreich stammende und v.a. in London arbeitende Philosoph Karl Raimund Popper (1902 bis 1994) schreibt in seinem Buch "Objektive Erkenntnis" (1973): 


"Heutzutage ist es durchaus nötig, sich zu entschuldigen, wenn man sich mit Philosophie in irgendeiner Form beschäftigt. Vielleicht mit Ausnahme einiger Marxisten scheinen die Fachphilosophen die Verbindung mit der Wirklichkeit  verloren zu haben (...).

Nach meiner Auffassung ist der größte Skandal der Philosophie, dass, während um uns herum die Natur - und nicht nur sie - zugrunde geht, die Philosophen weiter darüber reden - manchmal gescheit, manchmal nicht - ob diese Welt existiert. (...) Unter diesen Umständen muss man sich entschuldigen, wenn man Philosoph ist (...).


Welche Entschuldigung habe ich? Folgende. Wir haben alle unsere Philosophien, ob wir dessen gewahr werden oder nicht, und die taugen nicht viel. Aber ihre Auswirkun­gen auf unser Handeln und unser Leben sind oft verheerend. Deshalb ist der Versuch notwendig, unsere Philosophien durch Kritik zu verbessern. Das ist meine einzige Entschuldigung dafür, dass es überhaupt noch Philosophie gibt." 

Krise der Philosophie wegen des Erfolgs der Erfahrungswissenschaften

Krise der Philosophie um 1900. Übersicht im Längsschnitt (e.G)
Krise der Philosophie um 1900. Übersicht im Längsschnitt (e.G)

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schlittert die Philosophie in eine veritable Krise. Der Grund liegt im großen Erfolg wissenschaftlicher Theorien:


Philosophie und Wissenschaft sind über viele Jahrhunderte hinweg keine getrennten Disziplinen. Das ändert sich in der historischen Epoche der Neuzeit (ab dem 16. Jahrhundert) schrittweise, aber radikal. Einzelne Denker - zum Beispiel Forscher wie Nikolaus Kopernikus, Galileo Galilei, Isaak Newton - setzen bei der Suche nach der Antwort auf wichtige Fragen - z. B. ob die Erde im Mittelpunkt des Weltalls steht - nicht mehr auf christliche Autoritäten (Bibel) oder philosophische Autoritäten (der griechische Philosoph Aristoteles). Sie vertrauen der Beobachtung und setzen auf die Sinne. Die kirchlichen Autoritäten wehren sich - wie man am Inquisitionsprozess gegen Galilei 1633 sieht - verteidigen mit aller Kraft ihr Monopol der Wirklichkeitsdeutung mithilfe von Autoritäten wie der Bibel und den griechischen Philosophen Platon und Aristoteles.  Aber die Zeit arbeitet gegen sie.


Was auf der Grundlage der Ideen der neuzeitlichen Naturforscher entsteht, ist eine vollkommen neue Ansicht über Erkenntnis, nämlich ein wissenschaftliches Erkenntnismodell. Theorien werden jetzt nicht mehr - wie in der griechischen Antike - argumentativ durchdiskutiert, sondern darüber hinaus vor allem an der Erfahrung überprüft. "Was messbar ist, messen, was nicht messbar ist, messbar machen", lautet das auf Francis Bacon zurückgehende neue Modell. Damit entsteht das, was wir Wissenschaft nennen.


Und diese neue naturwissenschaftliche Methode ist höchst erfolgreich. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts gelingt es den Physikern scheinbar (allerdings wirklich nur scheinbar, wie wir heute wissen), praktisch alle Fragen der Physik bis auf ein paar wenige Details scheinbar ein für alle mal zu klären. Der Physiker Werner Heisenberg - ein wichtiger Vertreter der Quantenphysik - berichtet in seiner Autobiographie "Der Teil und das Ganze", dass man ihm zu Beginn des 20. Jahrhunderts abgeraten habe, Physik zu studieren: In diesem Fach gebe es nichts mehr zu tun, weil alle Fragen beantwortet seien.


Das physikalische Erfolgsmodell strahlt aus: Nach dem Vorbild der Physik entstehen weitere Naturwissenschaften (Chemie, Biologie, ...), im 19. Jahrhundert zusätzlich Theorien, die sich wissenschaftlich mit dem Menschen als Einzelwesen und als Gesellschaftswesen auseinandersetzen wollen (Medizin, Soziologie, Psychologie ...) 


Was also einmal Philosophie war, ist spätestens um 1900 herum Wissenschaft geworden. Und diese Wissenschaften sind unendlich erfolgreicher als die philosophischen Richtungen, die 2500 Jahr nach Platon und Aristoteles immer noch über dieselben Fragen diskutieren, ohne eine endgültige Antwort dafür gefunden zu haben. Wissenschaft ist Fortschritt. Die Philosophie tritt auf der Stelle oder dreht sich im Kreis. Für die Philosophie scheint keine Aufgabe mehr übrig geblieben zu sein. 


Die zentrale Frage lautetum 1900 daher: Welche Funktion kann die Philosophie in einer durch Wissenschaften geprägten Welt noch haben? Hat sie überhaupt noch eine Existenzberechtigung?

 

Neubestimmung der Aufgaben der Philosophie

Position 1: Forderung nach Selbstabschaffung der Philosophie.

 

Manche KritikerInnen der Philosophie - zum Beispiel Emile Cioran - ziehen aus dieser Situation die radikale Schlussfolgerung, dass Philosophie (vielleicht ähnlich wie die Religion) ihre historische Aufgabe erfüllt habe und nicht mehr gebraucht werde. Man könne sie ohne Bedauern abschaffen. Am besten wäre, sie würde sich gleich selbst abschaffen. Denn die Wissenschaften erledigten die Aufgaben, die die Philosophie traditionellerweise behandelt habe, viel erfolgreicher.


Zudem habe Philosophie sich in metaphysischen Scheinproblemen verfangen verfangen, die ohne praktische Bedeutung seien. Ihre Überflüssigkeit und inhaltliche Leere werde dadurch verschleiert, dass die Philosophie eine aufgeblasene Geheimsprache rund um inhaltsleere Begriffe wie "das Nichts" entwickelt habe, die außerhalb des philosophischen Elfenbeinturms niemand verstehe und niemand interessiere.


Auf Sprach- und Relevanzprobleme bezieht sich auch der erste Teil von Poppers Antwort auf die Frage, warum Philosophie wichtig sei. 

 

Position 2: Neubestimmung: Philosophie als "Magd der Wissenschaft"

 

Doch die Meinung, die Philosophie habe sich überlebt und gehöre abgeschafft, bleibt in der Minderheit. Denn bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass für Philosophie trotz (oder wegen) des Erfolgs der Erfahrungswissenschaften eine Menge an Herausforderungen und Aufgaben übrig bleiben. Aber sie müssen genau bestimmt werden. Und es sind andere Aufgaben als die der Erfahrungswissenschaften. Vor allem soll die Philosophie die Erkenntnisprozesse in den Erfahrungswissenschaften kritisch mitbegleiten und diese ergänzen. 


Zum Beispiel

 

  • Philosophie soll die  sprachlichen Grundannahmen der Wissenschaften (z. B. Grundbegriffe) untersuchen und überprüfen, ob Probleme in den Theorien durch Fehler auf sprachlicher Ebene (unklare, widersprüchliche Begriffe) verursacht werden. Man nennt das "Linguistic Turn" (= sprachwissenschaftliche Wende). Ein Zentrum der Sprachphilosophie ist bis ca. 1935 Wien (Wittgenstein, analytische Philosophie des Wiener Kreis) 

  • Wissenschaftstheorie: Philosophie soll sozusagen zur "Magd der Wissenschaft" werden, indem sie grundlegende Konzepte der Wissenschaft klärt und verbessert. Dabei geht es z. B. um die Frage, was eine Wissenschaft von einer Nicht-Wissenschaft unterscheidet, welche Merkmale wissenschaftliche Theorien aufweisen müssen, was man unter "Wahrheit" verstehen kann und was nicht usw.

  • Ethische Reflexion wissenschaftlicher Prozesse: Spätestens mit dem Abwurf der Atombomben auf Hieroshima und Nagasaki am Ende des Zweiten Weltkriegs wird vielen Menschen klar, dass eine "wertfreie Wissenschaft", die noch im 19. Jahrhundert als großer Fortschritt gegolten hat, sehr problematische Folgen haben kann. Aber die Erfahrungswissenschaft mit ihren Methoden kann sich diesen ethischen Problemen nicht stellen. Dafür braucht es andere Disziplinen. Und weil die Philosophie hier - anders als Religionen - Zugänge für alle Menschen bieten, bekommt sie hier eine wichtige Funktion. Auch moderne wissenschaftliche Erkenntnisse in der Biologie durch Genforschung (Genmanipulation von Pflanzen, transgene Tiere, Gentherapie, ...) oder Erkenntnisse über Lebensbeginn (PID) und Lebensende (z. B. Organtransplantationen)  oder über die genetische Nähe zwischen Menschen und Tieren werfen ethische Fragen auf, die die Wissenschaft Biologie mit ihren Methoden selbst nicht diskutieren kann. 

Position 3: Neubestimmung: Philosophie als Ergänzung zu Wissenschaft (und Religion): Philosophie als Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen. Philosophie als Anleitung zu einem "guten Leben"


Darüber hinaus gibt es Fragen, die Menschen beschäftigen und die sich aus prinzipiellen Gründen wissenschaftlich nicht erfassen lassen. Dazu gehören beispielsweise existentielle Fragen nach dem Sinn und dem Ziel menschlichen Lebens oder nach dem guten Leben oder dem Glück. Traditionellerweise haben Religionen diese Fragen thematisiert und beantwortet. Aber in einer säkular geprägten Welt sind die Antworten der Religion für viele Menschen nicht mehr befriedigend. Die Philosophie versucht hier Ergänzungen oder Ersatz zu sein. 

 


Arbeitsaufgaben

A1: Popper behauptet, dass wir alle unsere Alltags-Philosophien hätten. Was gehört zu den Philosophien, die Menschen haben / entwickelt haben? Um welche Themen geht es? Um welche Fragen geht es? Um welche Ansichten / Ideen geht es? Woher kommen diese Alltags-Philosophien? Vielleicht kannst du deine eigene Alltagsphilosophie / deine Lebensphilosophie / dein Weltbild kurz skizzieren. Worin ähnelt es den Lebensphilosophien anderer Menschen? Inwiefern unterscheidet es sich von Lebensphilosophien anderer Menschen? 


 A2: Popper behauptet, die meisten Alltags-Philosophien würden "nicht viel taugen". Damit meint er wohl, sie seien von fragwürdigen Vorannahmen, Denkfehlern, logischen Widersprüchen geprägt. Hat Popper damit recht? Suche Beispiele für problematische oder fragwürdige Alltagsphilosophien und erkläre, worin ihre Problematik liegt!

A3: In der geschichtlichen Entwicklung haben Erfahrungswissenschaften wie die Physik oder die Chemie oder die Biologie (samt Medizin) philosophische Theorien "abgelöst". Welche Beispiele für diese Entwicklung könnten wir anführen? Was ist der Unterschied zwischen einer philosophischen Theorie (oder Aussage) und einer wissenschaftlichen Theorie zur selben Thematik? 

A4: Gedankenexperiment: Wäre es gut gewesen, wenn die Philosophie sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts selbst abgeschafft hätte? Wäre das überhaupt möglich gewesen? Formuliere dazu ein paar Gedanken oder einen kurzen Dialog zwischen einem Verteidiger der Philosophie und einem radikalen Kritiker der Philosophie. 

A5: Zeige an einem konkreten Beispiel (z. B. PID, Forschung mit embryonalen Stammzellen, Gehirnforschung mit bildgebenden Verfahren, Atomforschung, ...) Berührungspunkte zwischen Wissenschaft und Philosophie.


A6: Wo und in welchen Zusammenhängen werden Menschen in der heutigen Zeit mit Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach Glück, nach einem guten Leben, ... konfrontiert? Warum geben Wissenschaften (auch Humanwissenschaften wie die Psychologie) keine Antworten auf diese Fragen? Wie kann Philosophie Menschen helfen, für sich eine Antwort auf solche Fragen zu finden? Welche Gemeinsamkeit gibt es zur Religion? Welchen Unterschied gibt es? 

Literaturtipps:

Karl Raimund Popper: "Alles Leben ist Problemlösen"

Werner Heisenberg: "Physik und Philosophie"

Albert Einstein: "Mein Weltbild"

Erwin Chargaff: "Die Feuer des Heraklit" (gibt es auch als Audio-CD)

Eric Kandell: "Auf der Suche nach dem Gedächtnis"  und  "Das Zeitalter der Erkenntnis"

Wilhelm Schmidt: "Mit sich selbst befreundet sein" und andere

Richard David Precht: "Wer bin ich und wenn ja wieviele?" und andere