Die Masse. Faszination und Gefahr

Der Begriff "Masse" (W)

Massenevent Rockkonzert
Massenevent Rockkonzert

Die Sozialpsychologie betrachtet - wie wir gesehen haben - den Menschen nicht primär als Einzelwesen. Sie versucht vielmehr, menschliches Erleben und Verhalten in Bezug auf andere Menschen zu beschreiben.

 

Sozialpsychologische Grundbegriffe sind beispielsweise die Gruppe (durch gewisse Stabilität gekennzeichnet, gemeinsames Ziel, differenzierte Rollen), die Menge (zufälliges Zusammentreffen von vielen Menschen auf engem Raum, z. B. in einem Kaufhaus) und eben die Masse.

 

Eine Menge ist einfach eine mehr oder weniger zufällige Ansammlung von vielen (auf jeden Fall: zahlenmäßig nichtmehr überschaubaren( Anzahl von Menschen an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Typischerweise wären die Menschen, die sich an einem verregneten Samstag Nachmittag im Messepark gegenseitig auf die Zehen stehen, eine Masse. Und auch die Menschen, die sich an einem Sommer-Wochenende zu einem Open-Air-Event am Alten Rhein versammeln, sind zunächst einmal eine Menge.

  

Aus einer Menge kann aber unter bestimmten Bedingungen und für einen bestimmten Zeitraum eine Masse werden. Doch was ist der entscheidende Unterschied zwischen Menge und Masse? Nun. Im Unterschied zu Menschen in einer Menge handeln Menschen in einer Masse gemeinschaftlich, als "Massenkörper" sozusagen. Damit aus einer Menge eine Masse wird, braucht es ganz bestimmte Rahmenbedingungen. Welche, werden wir noch sehen. 

 

Das soziale Handeln von Menschen in einer Masse folgt eigenen Gesetzen. Der Einzelne gibt ein Stück weit seine Handlungsautonomie auf und folgt „der Masse“; geleitet wird er dabei entweder von einer Führerfigur und / oder von bestimmten Symbolen oder Signalen (z. B. Parolen, Fahnen, Musik, Sprechchöre, ...).

 

Eine Masse ist zur Schaffung einer eigenen sozialer Dynamik in der Lage: Es kann zu einer friedlichen Demonstration oder Kundgebung kommen. In einer Masse kann aber auch Panik ausbrechen. Oder eine Massenveranstaltung kann in Aggressivität und Gewalt (Pogrome, Lynchjustiz, …) münden.

 

Soziale Krisen (Teuerungen, Hungersnöte, Seuchen, Bürgerkriege, Invasionen, Landnahmen usw.) führten in der Geschichte immer wieder zu Massenhandeln. Aus einer Massenbewegung kann eine politische Protestbewegung werden (z. B. Widerstandbewegung der Schwarzen in den USA unter Martin L. King). 

 

Massen können – und das macht sie unter anderem auch gefährlich – von demagogischen Führerfiguren instrumentalisiert werden.

 

Als Begründer der Massenpsychologie gilt der französische Soziologe Gustave Le Bon mit seinem Buch „Psychologie der Massen“ (Psychologie des foules, 1895). Le Bon glaubt,

  • dass der einzelne Mensch in der Masse seine rationale Kritikfähigkeit verliere und vor allem auf emotionale Signale reagiere
  • dass eine Masse leicht emotionalisierbar sei
  • dass es dem Einzelnen in der Masse nicht mehr gelinge, autonom und selbstbestimmt zu handeln; der Einzelne handle als Teil eines riesigen „Massen-Körpers“
  • dass Massen leicht durch demagogische Führerfiguren zu steuern seien

 

Eine ähnliche massenpsychologische Theorie entwickelt auch Sigmund Freud. Seiner Meinung nach ersetzt der Einzelne in der Masse sein normgebendes Über-Ich durch ein kollektives Über-Ich. Dadurch kann er auch Verhaltensweisen an den Tag legen, die mit seinem „normalen“ Gewissen unvereinbar wären. Außerdem identifiziert sich der Einzelne mit der Masse oder mit der Führerfigur, um so individuelle Größe zu erleben. Das bedeutet aber auch, dass die Ich-Funktionen des Einzelnen in einer Massensituation extrem geschwächt sind. Er kann sein eigenes Handeln nicht mehr kritisch-rational reflektieren oder beeinflussen.

Der Einzelne in der Masse (W)

Massenevent Fußball
Massenevent Fußball

Kennzeichnend für den Einzelnen in der Masse ist, dass er für einen bestimmten Zeitraum sein eigenes Denken und eigenes Entscheiden zurückstellt und den Entscheidungen und Bewegungen der Masse unterordnet. In der Masse kann ein extremes Gefühl von Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit und Stärke / Macht entstehen. Insofern kann eine Masse durchaus rauschhaften Charakter haben. Ein gemeinsames Ziel – das kann konstruktiv, aber auch zerstörerisch sein – rückt für einen begrenzten Zeitraum ins Zentrum des Interesses eines Einzelnen. Im Normalfall sinkt auch die Hemmschwelle für das persönliche Verhalten (sozial, ethisch) Letzteres ist es auch, was die Masse einerseits so faszinierend, andererseits aber auch gefährlich machen kann.

Die Masse. Faszination und Gefahr (W)

NS: Nürnberger Parteitage als Massenevents
NS: Nürnberger Parteitage als Massenevents

Wenn aus einer Menge eine Masse wird, geben Menschen - zumindest vorübergehend - die Kontrolle über ihr eigenes Verhalten auf. Das macht sie empfänglich für die Instruktionen von Führer-Figuren.

 

Manchmal sind solche Instruktionen harmlos. Und es ist einfach ein schön-berauschendes Erlebnis, sich während eines Konzerts von der Stimmung in der Konzerthalle mitreißen zu lassen oder bei einem Fußballspiel in den Schlachtgesang der vielen Fans einzustimmen.

 

Dass die Empfänglichkeit für Instruktionen aber auch eine sehr problematische Komponente hat, ist offensichtlich. Und demagogische Führerfiguren - beispielsweise Diktatoren Hitler, Mussolini oder Stalin; aber auch religiöse Demagogen - haben immer wieder bewusst Massenveranstaltungen inszenziert, um Menschen zu manipulieren und oder zu fanatisieren.

 

Dass Massen steuer- und lenkbar sind, ist aber auch ein wichtiger Schutzfaktor, der z. B. in einer brenzligen Situation bei einem Massen-Event eine Massen-Panik verhindern kann. Wenn es z. B. bei einem Konzert zu einem Zwischenfall kommt, müssen die Menschen im Publikum sehr konkret und sehr genau angeleitet werden, damit sie die Konzerthalle in Ruhe und ohne Panik über die Notausgänge verlassen können. Weil man aus tragischen Ereignissen in der Vergangenheit gelernt hat (Berg Isel, Duisburg), sind Großveranstalter hier heute meistens besser vorbereitet.

Der Begriff "Masse" (W)

Fluchtmasse: Während der Street-Parade in Duisburg kommt es zu einer Massenpanik. Menschen werden zu Tode getrampelt
Fluchtmasse: Während der Street-Parade in Duisburg kommt es zu einer Massenpanik. Menschen werden zu Tode getrampelt

Die Sozialpsychologie unterscheidet unterschiedliche Grundtypen von Massen. Ein paar Beispiele: 

 

  • Gerichtete Masse: spontane oder provozierte Ausschreitungen, zielgerichtet gegen abweichende Einzelne oder kleine Gruppen
  • Indifferente Masse: die Masse schlägt in ihrer Meinung ins Gegenteil um: die Euphorie wird zum Hass und zur Aggression ("Hosianna-Kreuzige-Effekt")
  • Hetzmasse: Demagogie und Hetze vermögen Minderwertigkeitsgefühle auf andere zu projizieren; die Gewissheit der Zugehörigkeit zu den "Guten" erleichtert das Vorgehen gegen die minderwertigen anderen bis zur Bereitschaft ihrer Vernichtung
  • Fluchtmasse: in Momenten drohender Gefahr reagiert die Fluchtmasse irrational; sie richtet ihre Bewegung nicht vernünftiger Erwägung aus, sondern vergrößert mitunter die Bedrohung
  • Verbotsmasse: das Aufbegehren gegen Benachteiligungen lässt eine Verbotsmasse entstehen: eine fest organisierte Masse (z.B. in einem Streik)
  • Umkehrungsmasse: Eine unterdrückte Masse wird Umkehrungsmasse genannt, wenn sie gewaltsam gegen ihre Unterdrücker vorgeht, um die Verhältnisse umzukehren (z.B. Rebellion).