Der Mensch als ethisches Wesen. Wie lernen wir Ethik?


Ethische Dilemmata

Das Heinz-Dilemma (Kohlberg): Die Frau von Heinz ist schwer erkrankt, vielleicht wird sie bald sterben. Es gibt ein teures Medikament, das ihr helfen könnte. Aber die Krankenkassen bezahlen es nicht und Heinz hat nicht genügend Geld. Darf er Geld stehlen, um seiner kranken Frau zu helfen? 

 

Das Schoko-Dilemma (nach Kohlberg?): Anna und Paul sind in einem Raum. Paul hat ein Säckchen mit Schoko-Bonbons. Anna hätte auch gerne ein paar Bonbons. Paul verlässt den Raum und vergisst seine Schokolade. Darf Anna ein paar von Pauls Bonbons stibitzen?

 

Ethische Urteile

Die meisten ExpertInnen sind der Meinung, dass nur der Mensch über die Fähigkeit zu moralischen Urteilen verfüge. Tiere orientieren sich dieser Sichtweise zufolge in ihrem Verhalten an Trieben, Instinkten oder an biologischen Reflexen oder an erlernten Reflexen.

 

Die Katze, die einen Singvogel im Garten entdeckt, wird sich an ihn anschleichen und ihn zu fangen versuchen. Sie folgt dabei einem biologischen Verhaltensprogramm. Ob es moralisch legitim und richtig ist, den Vogel zu jagen und zu töten, überlegt sie sich wahrscheinlich nicht. Sie wäre dazu vermutlich auch gar nicht in der Lage. Selbst wenn sie Hunger hätte (was bei modernen Hauskatzen ja ohnedies kaum der Fall ist), wäre sie nicht in der Lage, zwischen ihrem Bedürfnis nach Essen auf der einen Seite und der Tatsache, dass es sich bei der anvisierten Beute z. B. um einen geschützten Singvogel handelt, abzuwägen. 

 

Genau dazu sind wir Menschen prinzipiell in der Lage. 

 

Natürlich haben auch wir unsere Instinkte, unsere Triebe, unsere angeborenen oder erlernten Reflexe. Sie bestimmen, was wir tun wollen. Diesem Wollen können wir folgen. Wir müssen aber nicht. Wir können die Verbindung zwischen Wollen und Handeln unterbrechen und eine Phase des Innehaltens und Nachdenkens dazwischen stellen. Dabei stellen wir uns die Frage, ob wir das, was wir tun WOLLEN auch wirklich tun DÜRFEN. Und das ist die Grundfrage der Ethik. Und wir sind grundsätzlich in der Lage, etwas, was wir eigentlich tun WOLLEN aus ethischen Gründen nicht zu tun. 

 

Babys sind noch nicht in der Lage, ethische Überlegungen anzustellen und ethische Entscheidungen zu treffen. Doch das ändert sich im Laufe der Entwicklungsgeschichte. Wie und warum, untersuchen Verhaltensbiologie und Entwicklungspsychologie. 


Der evolutionsbiologische Blick auf die Ethik ...

Die Evolutionsforschung (Biologie, Psychologie) fragt, warum Menschen in allen Kulturen eine soziale Ethik entwickeln. Denn lange Zeit war man der Meinung, dass der Evolutionstheorie zufolge Menschen eigentlich egoistisch sein müssten und nur an den eigenen Vorteil denken dürften. Denn schließlich wollten sie ja „ihre eigenen Gene“ weitergeben und unliebsame Konkurrenz ausschalten.

 

Doch so einfach ist es nicht.

 

Heute meinen Evolutionsforscher, dass das moralische Bewusstsein in den Jäger- und Sammler-Gesellschaften vor etwa 20000 bis 100000 Jahren entstanden sei. Denn diese können nur erfolgreich sein, wenn Gruppenmitglieder zusammenarbeiten, eigene Interessen zugunsten von Gruppeninteressen zurückstellen können und momentane Interessen aufschieben, wenn langfristige Ziele wichtiger sind.

 

So wird erklärbar, warum Altruismus ein wichtiges soziales Gegenprinzip zum Egoismus ist. Wer ausschließlich an sich selber und an den eigenen Vorteil denkt, riskiert, dass er selbst von den anderen Gruppenmitgliedern nicht unterstützt wird, wenn er das brauchen würde.

 

Umstritten ist, ob und inwiefern wir soziales Mitgefühl, soziale Verantwortung und ethische Regeln auch auf fremde Menschen mitausdehnen. Wahrscheinlich ist / wäre, dass wir fremde Menschen erst zu Mitgliedern unserer Gemeinschaft machen müssen, damit wir ihnen gegenüber grundlegende ethische Prinzipien anwenden. Und umgekehrt kommt es immer wieder vor, dass wir Menschen aus Gemeinschaften ausschließen und zu Fremden machen, damit wir ihnen gegenüber fundamentale ethische Verpflichtungen nicht mehr einhalten müssen.

 

Viele Beobachtungsdaten zeigen, dass unsere biologisch grundgelegte soziale Verantwortung in einer globalisierten Welt an Grenzen stößt: 

  • Menschen sind in der Lage, andere Menschen, die nicht zu ihrer Gruppe gehören, als Feinde / Konkurrenten auszubeuten (Sklavenarbeit), zu bekämpfen oder gar zu töten (Kriege). Meistens muss aus ihnen davor auch ein Fremder / ein Anderer / ein Feind "gemacht werden".
  • Menschen in großen Städten ignorieren oft, wenn andere Menschen Notsignale aussenden. Zum Beispiel indem sie wegsehen oder nicht hinhören. In kleinen sozialen Gemeinschaften ist das viel weniger der Fall.
  • Es ist relativ leicht, eine bestimmte Personengruppe zu Außenseitern / zu Feindbildern zu machen und sie zu stigmatisieren. Dann brechen fundamentale ethische Prinzipien diesen Menschen gegenüber auch sehr schnell weg.
  • Wir reagieren auf Menschen, die in Not sind, mit Empathie und Mitgefühl, wenn wir uns mit ihnen / mit ihrer Situation identifizieren. Wir reagieren mit Empathie, wenn wir – z. B. auf Bildern – leidende Gesichter oder leidende Körper SEHEN. Fakten, Daten, Zahlen lassen viele Menschen unberührt.  

Der psychologische Blick auf die Ethik ...

Babys und Kleinkinder orientieren sich in ihren Handeln ausschließlich an ihren eigenen Bedürf-nissen. Zu Handlungen,  in denen sie ihre Bedürfnisse gegen die Bedürfnisse anderer abwägen oder in denen sie ihre Bedürfnisse mit moralischen Regeln (Geboten) abwägen, fehlen ihnen noch wichtige Fähigkeiten. Diese werden sie erst im Laufe der Sozialisation erlernen.

 

Z. B. Auf dem Tisch steht ein Kuchen, den Opa für die Geburtstagsfeier am nächsten Tag gebacken hat. Anna ist allein in der Küche. Sie hätte Lust auf ein Stück Kuchen. Sie könnte den Kuchen essen. Sie will den Kuchen essen. Aber sie weiß, dass sie den Kuchen nicht essen darf / soll. Der Konflikt zwischen WOLLEN und DÜRFEN/SOLLEN ist ein ethischer Konflikt. Je nachdem können wir ihn gedanklich unterschiedlich „behandeln“.

 

Der Psychologe Lawrence Kohlberg untersucht ab den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts in Studien, wie Menschen sich in ethischen Dilemma-Situationen verhalten. Er unterscheidet so sechs Stufen der moralischen Entwicklung. Schon Kohlberg ist aber aufgefallen, dass es große individuelle Unterschiede gibt. Auch als erwachsene Menschen fällen wir manchmal ethische Urteile auf „früheren“ Stufen. Und es lernen auch  nicht alle Menschen, ethische Urteile, wie sie in der postkonventionellen Phase möglich werden, zu treffen.

Kleinkind Orientierung an Lust / Bedürfnis / Trieb Es isst den Kuchen, wenn es kann
Präkonventionelle Phase (bis zirka 6 Jahre) Orientierung an Lob und Strafe  "Ich darf den Kuchen nicht Essen, weil Opa sonst schimpft. 
Orientierung an Bedürnfissen "Ich darf den Kuchen nicht essen, weil ich sonst Bauchweh bekomme."
Konventionelle Phase (bis zirka 10) Orientierung an autoritären Personen / an Bezugspersonen Ich darf den Kuchen nicht essen, weil OPA "nein" gesagt hat. 
Orientierung an gesetzten regeln und Gesetzen ("law and order" Man darf nicht essen, was einem nicht gehört. Der Kuchen gehört mir nicht. Ich darf ihn daher nicht essen. 
Postkonventionelle Phase (ab ca. 10 Jahren) Orientierung an geprüften Gesetzen / Regeln. Abwägen von Regeln und Gesetzen. Vergleichen von Regeln und Gesetzen. Kreative Lösungen für moralische Dilemmata suchen. Man darf einen Kuchen nicht essen, wenn er einem nicht gehört. Außer man hätte großen Hunger und nichts zu essen. Oder man würde den Kuchenbesitzer fragen. Oder …
Orientierung an fundamentalen ethischen Prinzipien Man darf das Vertrauen anderer nicht missbrauchen. Niemand würde wollen, wenn man ihm hinter seinem Rücken einen Kuchen wegisst.

Folgende Fähigkeiten, die Menschen entwickeln müssen, sind Grundvoraussetzungen für ethische Urteilsfähigkeit:

  • Perspektivenwechsel. Fähigkeit, Situationen aus der Perspektive anderer betroffener Menschen (Lebewesen) zu betrachten. Empathiefähigkeit = Fähigkeit, sich in andere Lebewesen hineinzufühlen // mit anderen Lebewesen mitzufühlen
  • Antizipatorisches Denken. Fähigkeit, Folgen von Handlungen abzuschätzen und Handlungsentwürfe in die Zukunft zu entwickeln.
  • Motivationsfähigkeit. Frustrationsfähigkeit. Fähigkeit, auf momentane / kurzfristige Bedürfnisbefriedigung zu verzichten, weil ein zukünftiger und langfristiger Aspekt wichtiger ist.
  • Abstraktes Denken. Fähigkeit, allgemeine Regeln und Prinzipien mit konkreten Situationen und Fragestellungen in Beziehung zu bringen. Fähigkeit, das eigene Handeln an Regeln und Prinzipien auszurichten.
  • Abstraktes Denken. Fähigkeit, Regeln und Prinzipien auf ihre Begründbarkeit und ihre Plausibilität kritisch zu hinterfragen. Fähigkeit, Konfliktsituationen eigenständig und kreativ zu lösen, also neue Lösungswege für ethische Konflikte zu finden.
  • Abstraktes Denken. Argumentationsfähigkeit. Fähigkeit, ethische Handlungsentscheidungen rational kritisch zu durchleuchten und moralische Urteile argumentativ zu begründen.

Heute wissen wir, dass Kinder schon sehr viel früher zu differenzierten sozialen Wahrnehmungen und zu sehr kreativen ethischen Urteilen fähig sind, als Kohlberg dachte. Babys reagieren schon sehr früh auf soziale Signale (Mimik, Stimme) und zeigen auch schon sehr früh Zeichen von sozialem Mitgefühl. Beispielsweise zeigen schon Kinder rund um das erste Lebensjahr, wo sie nach Kohlberg noch nicht zu moralischen Urteilen in der Lage sind, Reaktionen wie Mitweinen, Trösten oder Helfen, wenn ein anderes Kind in Not ist. Kohlberg hat also offenbar übersehen, dass moralisches Handeln auch aus einem Gefühl heraus möglich ist und ein Denkurteil gar nicht unbedingt voraussetzt. Außerdem zeigen Untersuchungen, dass Kinder schon sehr früh Regeln kennen und wissen, was sie eigentlich tun sollten. Wenn es dann darauf ankommt, sind aber kurzfristige und egoistische Interessen oft stärker. Diese Kinder können Wissen noch nicht in Tun umsetzen, weil sie noch zu impulsiv sind und weil sie noch zu wenig Frustrationstoleranz gelernt haben. (Übrigens soll das auch für einen Teil der Erwachsenen gelten).

 


Der neurologische Blick auf die Ethik ...

Die letzten Jahrzehnte standen im Bann der Gehirnforschung. Auch für das Verständnis ethischer Prozesse war das von Bedeutung.

 

Beispielsweise zeigen Studien, dass sich das Gehirn in der Pubertät nochmals grundlegend umstrukturiert. Zuerst baut es zusätzliche graue Masse auf, wodurch ein Überschuss an Nervenverbindungen entsteht. Die Verbindungen zwischen diesen Zellen sind aber wesentlich unkoordinierter und ungezielter als z. B. davor in der späteren Kindheit und danach im Erwachsenenalter.

 

Das erlaubt es den Pubertierenden aber, neue Erfahrungen mit sich selbst und ihrer Umwelt zu machen. Diese Erfahrungen werden dann in neuen Nervenverbindungen verankert. Das Gehirn scheint damit überhaupt erst die Voraussetzung für das zu schaffen, was die Psychologie als Hauptzweck der Pubertät definiert: Löse dich von der Welt deiner Eltern und schaffe dir einen eigenen Kosmos. Dazu gehört auch die Fähigkeit, Widersprüche zwischen Normen und Realität auszuhalten und kreativ und selbstbestimmt mit diesen Widersprüchen umzugehen. 


Internetlinks, Quellen: