Wiener Kreis: Verifikation und Sinnkriterium

Vertreter

Rudolf Carnap (1891 - 1970); Ernst Mach (1838 bis 1916); Otto Neurath (1882 - 1945); Moritz Schlick (1882 - 1936)

Der "Wiener Kreis" ist eine Gruppe von Philosophen und Naturwissenschaftlern, die sich zu Beginn des 20. Jh. in Wien mit wissenschaftstheoretischen Problemen auseinandersetzen. Vertreter sind u. a. Ernst Mach, Rudolf Carnap und Moritz Schlick und Otto Neurath. Ludwig Wittgenstein gehört zum Umfeld, ist aber kein Mitglied. 1936 enden die regelmäßigen Treffen. Nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten im März 1938 verlassen die führenden Mitglieder Wien. Sie beeinflussen in Großbritannien und den USA verschiedene philosophische Strömungen.


Der Ansatz wird auch als Neo-Positivismus oder als logischer Empirismus bezeichnet. Das ist ein Ansatz, der jede metaphysische Spekulation ablehnt und sich an das „positiv Gegebene“ (= Reale) halten möchte.

Das Sinnkriterium des Wiener Kreises

Nach Meinung der Vertreter des Neopositivismus sind die wissenschaftlichen Probleme zu Beginn des 20. Jahrhunderts teilweise Sprachprobleme. Das heißt, sie entstehen dadurch, dass sich in die Theorien problematische - das heißt: fehlerhafte - Sätze eingeschlichen haben. Problematisch sind dabei nicht in erster Linie falsche Sätze, sondern Scheinsätze, das heißt, Sätze, die vorgeben, etwas über die Wirklichkeit auszusagen, die dies aber aufgrund ihrer syntaktischen Struktur gar nicht können. Solche Sätze wären in der Sprache des Wiener Kreises sinnlose Sätze.


Ziel ist also eine Unterscheidung von sinnvollen Sätzen einerseits und problematischen, sinnlosen Sätzen. Denn wenn sich nur scheinbar sinnvolle Sätze in Theorien "einschleichen",  führt das notwendigerweise zu Problemen und Fehlern in der Theorie.  


Problematisch sind Sätze, die so tun, als ob sie Wirklichkeit abbilden würden und "auf der Ebene von wahr oder falsch" seien, obwohl das gar nicht der Fall ist. Solche Sätze werden als sinnlos bezeichnet. 


Sinnlos sind also Sätze, wenn sie nichts positiv Gegebenes abbilden, sondern nur vorgeben, dies zu tun. Nichts abbilden können Sätze, wenn es entweder für ihre Begriffe keine Referenzobjekte (also Gegenstände oder Sachverhalte in der Welt) gibt oder wenn die Begriffe logisch falsch miteinander verknüpft sind, sodass diese Verknüpfung keine Entsprechung in der Realität haben kann.


Beispiele für sinnlose Sätze wären:

  • "Der Baum ist verliebt." (Die Verbindung von "Baum" und "verliebt" kann in der Realität nicht vorkommen.)
  • "Der Mensch nichtet." (Das Verb "nichten" ist ein Scheinverb, das in der Realität nichts abbilden kann)
  • "Du sollst nicht töten!" (Appell)
  • "Töten ist falsch" (ethisches Urteil)
  • "Warum brauchen Lebewesen Wasser?" (Fragen)
  • "Dieses Bild ist misslungen" (ästhetisches Urteil)
  • "Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich morgens wir trinken dich mittags wir trinken dich nachts" (aus dem Gedicht "Todesfuge" von Paul Celan; literarische Sätze)


Daher gibt es drei Gruppen von Sätzen:


  • sinnlose Sätze, die in der Realität nichts abbilden können ("Der Baum ist verliebt"). Diese Sätze sind "jenseits von wahr und falsch"
  • sinnvoll-falsche Sätze, die zwar prinzipiell in der Realität etwas abbilden könnten, dies aber nicht tun ("Bregenz ist die Hauptstadt Österreichs")
  • sinnvoll-wahre Sätze ("Wien ist die Hauptstadt Österreichs"

Wissenschaftliche Theorien dürfen nur aus sinnvollen Sätzen bestehen; sinnlose Sätze müssen identifiziert und entfernt werden. Dafür braucht es ein leicht handhabbares Kriterium. Das Kriterium, das die Vertreter des Wiener Kreises vorschlagen, ist ein Sinnkriterium, in dessen Zentrum das Verifikationsprinzip steht:


Sinn-Kriterium des Wiener Kreises: Ein Satz ist sinnvoll genau dann, wenn er als wahr nachweisbar (verifizierbar) ist.  

Bewertung des Wissenschaftskriteriums des Wiener Kreises

Leistungen


linguistic turn: 

Mit den Diskussionen des Wiener Kreises tritt zum ersten Mal die Sprache ins Zentrum philosophischen Interesses; Sprache wird als wesentliches Element menschlichen Erkenntnisstrebens nicht einfach nur vorausgesetzt, sondern philosophisch reflektiert und philosophisch hinterfragt. Damit steht der Wiener Kreis am Beginn dessen, was man den "linguistic turn" der Philosophie im 20. Jahrhundert nennt.


Kritik der Metaphysik:

Gerade im deutschsprachigen Raum hat sich die Philosophie in der Tradition von Hegel und Fichte in metaphysische Spekulationen über das Sein und das Nichts verstrickt. Welche praktische wissenschaftliche oder gesellschaftliche Relevanz diese Spekulationen haben sollen, ist vielen nicht mehr nachvollziehbar. Der Wiener Kreis bemüht sich, die Philosophie wieder als Grundlagendisziplin für die Naturwissenschaften zu etablieren.



Probleme und Kritikpunkte

  • Die radikale Ablehnung jeglicher Metaphysik reduziert die Philosophie zu einer reinen Hilfsdisziplin der (Natur)wissenschaften. Alle Formen existentieller Philosophie werden als sinnlos abgelehnt. 

  • Das Sinnkriterium des Wiener Kreises ist viel zu hart. Es lässt sich nicht alles, was im Leben zählt, auf die Ebene harter klassischer Naturwissenschaften "herunterbrechen". Denn das Sinnkriterium schließt z. B. auch alle Sätze der Religion, der Literatur, der Kunst überhaupt, der Ethik, ... als sinnlos aus dem Diskurs aus. Was übrig bliebe, wenn wir diesem Kriterium folgten, wäre eine total reduzierte Sprache, in der vieles nur noch "beschwiegen" werden könnte.
  • Der härteste Einwand gegen das Sinnkriterium des Wiener Kreises kommt von K. R. Popper: Der Verifikationsprinzip (Ein Satz ist sinnvoll gdw. er als wahr nachweisbar ist) kann nicht einmal auf die allgemeinsten und fundamentalsten Sätze der Naturwissenschaften angewandt werden. Denn diese Sätze sind All-Aussagen, wie beispielsweise "Alle Metalle dehnen sich bei Erwärmung aus". Solche Sätze sind prinzipiell nicht verifizierbar (als wahr nachweisbar): Denn um nachzuweisen, dass der Satz "Alle Metalle dehnen sich bei Erwärmung aus" wahr ist, müssten wir unendlich viele Fälle überprüfen. Das ist aber prinzipiell unmöglich.



Daher zählt: Der Wiener Kreis ist mit seinem Sinnkriterium und dem Verifikationsprinzip gescheitert. 


Internetlinks, Literatur