Zusammenfassung: Warum die Vorsokratiker wichtig sind ...

Wie wir gesehen haben, beschäftigen sich die Vorsokratiker in höchst spannender Weise mit der Frage nach dem Ursprung des Seins. Dass dabei in kurzer Zeit (das heißt: in etwa in 150 Jahren) höchst spannende und komplexe Ideen entstehen, zeigt, wie fruchtbar ein Denken, das sich schrittweise von mythologischer Gebundenheit löst und Ideen einem Diskussionsprozess unterwirft, ist.

Was ist den Vorsokratikern gemeinsam?

So unterschiedlich die Ideen der Vorsokratiker auf den ersten Blick erscheinen mögen, haben sie doch einiges gemeinsam:

 

die Fragestellung: Alle Vorsokratiker fragen nach dem Ursprung der Wirklichkeit, nach dem Urprinzip des Seins. Gerade dass die Vorsokratiker nach einem einheitlichen Prinzip suchen, mit dessen Hilfe sich die Welt erklären lässt, ist nicht selbstverständlich.

 

die Suche nach einem grundlegenden Prinzip: Die Babylonier haben beispielsweise weitaus umfangreicheres Datenmaterial über die Bewegung der Gestirne in Tabellen gesammelt. Sie kommen aber nicht auf die Idee, nach einer grundlegenden Erklärung für ihre Daten zu suchen. In dem Moment, in dem diese Daten in die Hände griechischer Gelehrter gelangen, beginnt sofort die Suche nach dem hinter diesen Daten stehenden Prinzip oder Gesetz. Die Suche nach einer einheitlichen Erklärung der Welt prägt das abendländische Denken übrigens - z. B. im Unterschied zum asiatischen - bis in die Gegenwart. So sucht man in der Physik Jahrhunderte lang nach der „Weltformel“, d. h. nach einem einheitlichen Erklärungsprinzip für alle physikalischen Erscheinungen.

 

Abkehr vom mythischen Denken; Trennung von Mythos und Logos; Die Abkehr vom mythischen Denken - und damit die Trennung von Religion und Philosophie - erfolgt keineswegs absolut und plötzlich, sie ist ein viele Jahrhunderte andauernder Prozess. Aber es sind die Vorsokratiker, die zum ersten Mal wesentliche Aussagen über das Sein, über die Natur oder über den Menschen wagen, ohne dass Göttliches dabei die zentrale Rolle spielen würde. Manche der Vorsokratiker muss man durchaus auch als religiöse Denker bezeichnen. Andere aber sind religiöse Skeptiker, die den Göttern keine oder zumindest keine wesentliche Funktion zuschreiben.

 

Trennung von Denken und Handeln: Eine griechische Erfindung ist die - für uns durchaus nicht ungewöhnliche - Trennung von Denken und Handeln. Religiöse Riten sind ja Handlungsweisen, durch deren Durchführung der Handlende Erkenntnis erfahren soll. Diese Erkenntnis ist aber meistens sprachlich nicht mitteilbar. Die Erkenntnis der Wirklichkeit wird schon bei den Vorsokratikern ausschließlich über das Denken gesucht. Das ist die Voraussetzung dafür, dass Theorien über die Wirklichkeit sprachlich fassbar und damit diskutierbar werden.

 

Diese Tendenz zur Trennung von Handeln und Denken ist in der Antike aber noch nicht durchgängig. Gegenbewegungen sind  z. B. die Stoiker und die Kyniker der Spätantike, die über einen richtigen Lebenswandel zu Erkenntnis zu kommen versuchten. Auch Sokrates versucht ja noch eine Verbindung von Lebenswandel und Wissen.

 

Die Trennung von Denken und Handeln durchzieht das abendländische Denken wie ein roter Faden. Sie führt u. a. zu einem Ausgliedern der Ethik aus der Wissenschaft

 

Rationalität (Vernunft, Argumentation) als Mittel der Erkenntnis: Alle Theorien der Vorsokratiker lassen sich rational diskutieren und hinterfragen, damit wird es möglich, Fehler in den Theorien zu entdecken und widersprüchliche Theorien miteinander in Bezug zu bringen und zu verbinden. Auffallend ist das weit gehende Fehlen von Empirie (Überprüfung von Thesen anhand der Erfahrung) im griechischen Denken.  (Vom griechischen Philosophen Aristoteles wird z. B. eine Anekdote überliefert, wonach er mit messerscharfer Argumentation bewiesen habe, dass seine Frau genau 54 Zähne im Mund habe. Auf die Idee nachzuzählen ist damals offensichtlich niemand gekommen.) Das Fehlen von Empirie ist wohl auch der wesentliche Grund dafür, dass in der Antike der Schritt von der Naturphilosophie zur Naturwissenschaft noch nicht gemacht werden kann.

 

Wo befinden sich grundlegende Unterschiede im Denken der Vorsokratiker?

Einerseits kann man im Denken der Vorsokrater - wie wir gesehen haben - eine Fülle von Gemeinsamkeiten entdecken. Andererseits gibt es auf ähnliche Fragestellungen durchaus unterschiedliche Antworten:

 

 

Auf der einen Seite gibt es Positionen mit einem statischen Grundprinzip (Parmenides). Diesen stehen dynamische Prinzipien gegenüber (Heraklit).

 

Einige Schulen nehmen eine materielle Basis der Wirklichkeit an (Parmenides). Andere schließen auf eine ideelle bzw. immaterielle Basis der Wirklichkeit (Idealismus z. B. bei den Pythagoräern)

Welche Verbindungslinien gibt es von den Vorsokratikern in die wissenschaftliche Tradition der Neuzeit und der Gegenwart?

Auf den ersten Blick scheinen die Thesen der Vorsokratiker mit unserem modernen naturwissenschaftlichen Denken nicht allzu viel zu tun zu haben. Bei näherer Betrachtung sehen wir jedoch, dass auch die modernen Naturwissenschaften viele Grundideen der Vorsokratiker aufgreifen und dass diese Ideen weiterhin Basis für viele Theorien sind, oft ohne dass uns dies bewusst würde.


  • In der modernen Naturwissenschaft (Beispiel Physik) finden wir eine fundamentale Trennung von Mythos (Religion, Kunst) und Logos (Philosophie, Wissenschaft). Wissenschaft funktioniert nur unter Verzicht auf metaphysische Prinzipien der Weltdeutung. Allerdings finden sich bei einigen WissenschaftlerInnen und PhilosophInnen (z. B. Paul Feyerabend) heute auch Versuche der Überwindung dieser Trennung von Mythos und Logos.

  • Ohne Rationalität könnte es keine Wissenschaft geben. Allerdings ist das Prinzip der Raitonalität seit der Neuzeit durch das Prinzip der Empirie ergänzt worden. Darin liegt der wesentliche Unterschied zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft.

  •  Gemeinsam mit den Vorsokratikern sind den modernen Naturwissenschaften auch grundlegende Fragestellungen (Gibt es kleinste materielle Teilchen? Vorstellung, wenn ich das Elementare kenne, kann ich auch das Ganze erfassen --> Atomisierung der Wirklichkeit im europäischen Denken; gekennzeichnet durch Zergliederung des Ganzen in immer kleinere Einzelteile)

  • Das abendländische Denken basiert auf einer zweiwertigen Logik (Denken in den Kategorien wahr - falsch; "A ist wahr" oder "A ist falsch"; A und Nicht-A können nicht gleichermaßen wahr sein). Ein solches Denken ist uns so selbstverständlich, dass wir wahrscheinlich gar nicht auf die Idee kämen, dass es auch eine andere Logik geben könnte. Andere Logik-Systeme gibt es aber, beispielsweise ist im Asiatischen eine vierwertige Logik (A ist wahr; A ist falsch; A ist sowohl wahr als auch falsch; A ist weder wahr noch falsch) vorherrschend. In einer solchen Denktradition erübrigen sich Streitereien über die Wahrheit und Falschheit von Thesen von selbst, das wird mit ein Grund dafür sein, dass die europäische und nicht die chinesische Philosophie Basis für die Entstehung von Wissenschaft sein konnte.