Freiheit als anthropologische Voraussetzung der Ethik

Warum setzt Ethik die Existenz von Freiheit voraus? 

Dass wir die Frage nach dem richtigen Verhalten in einer konkreten Situation überhaupt sinnvoll stellen können, ist an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Die wichtigste dieser Voraussetzungen ist, dass wir überhaupt eine Wahl haben, dass wir also über die Freiheit, etwas zu tun oder nicht zu tun, verfügen. Denn wer nicht frei ist, zum Beispiel weil er in seinem Verhalten von biologischen Trieben bestimmt wird oder weil sein Gehirn sein Handeln in eine bestimmte Richtung zwingt), kann logischerweise auch nicht entscheiden, wie er wählen soll, also welchen von zumindest zwei möglichen Wegen er einschlagen soll. 

 

Normalerweise gehen wir z. B. davon aus, dass Tiere nicht frei wählen, weil sie in ihrem Verhalten an Instinkte, an biologische Verhaltensprogramme oder an erlernte, aber reflexartig ablaufende Reaktionen (klassische Konditionierungen) gebunden sind. Eine Katze, die eine Maus (oder einen Singvogel) sieht, folgt einem biologischen Programm, wenn sie die Maus jagt, wenn sie ihre Beute nicht möglichst schnell und schmerzfrei tötet, sondern sie verletzt, wieder laufen lässt, wieder einfängt und ihr so auch noch ein stressiges und wahrscheinlich schmerzhaftes Sterben bereitet.


Die Katze denkt (wahrscheinlich) nicht über die Frage nach, ob sie die Maus töten soll oder darf oder muss. Sie wählt nicht zwischen den Alternativen "die Maus schnell und möglichst schmerzfrei töten" oder "die Maus langsam und unter Schmerzen zu Tode kommen lassen" oder "die Maus gar nicht töten, weil es sowieso jeden Tag Dosenfutter gibt". 

 

Im Unterschied dazu können (und müssen) wir Menschen wählen. Wir verfügen - zumindest ist das die tradierte Annahme der Philosophie, auf der auch die Ethik aufbaut, über Freiheit in einem doppelten Sinn: als innere Willensfreiheit und als äußere Handlungsfreiheit. 

Willensfreiheit als "innere Freiheit"

Von Willensfreiheit sprechen wir, wenn wir annehmen, dass Menschen in wesentlichen Bereichen nicht (mehr) direkt trieb- oder instinktgesteuert sind. Sie können zwischen triebhafte (z. B. Hunger) oder emotionale (z. B. Angst) Handlungsimpulse unterbrechen und einen Nachdenk-Prozess dazwischen setzen. Sie können sie fragen, ob sie das, was sie tun wollen, auch tun müssen oder sollen oder dürfen. Und für den Fall, dass die Antwort darauf "Nein" lautet, können sie ihren Handlungsimpuls unterdrücken oder eine alternative, "verträglichere" Ersatzhandlung in Gang setzen. Das gelingt natürlich nicht immer. Oft sind die Handlungsimpulse schneller, dann "gehen uns die Sicherungen durch". Oder die Handlungsimpulse sind stärker, dann erleben wir - gegen besseres Wissen - einen triebhaften oder affektiven "Durchbruch", den wir anschließend in der Regel bereuen. 

 

Beispielsweise können wir, wenn wir am Buffet vor einer großen Auswahl an Nahrungsmitteln stehen und Lust auf ein paniertes Schnitzel verspüren, nachdenken, bevor wir instinktiv zugreifen. (Das heißt nicht, dass wir das müssen. Das heißt auch nicht, dass wir das immer und automatisch tun. Es geht darum, dass wir dazu prinzipiell in der Lage sind). Und wir können uns Fragen, ob unsere Lust auf ein Schnitzel (Kant würde von einer Neigung sprechen) auch mit den Normen und Werten übereinstimmt, die wir verinnerlicht (internalisiert) haben. Wenn wir tierethisch sensibilisiert sind und der Meinung sind, dass man kein Fleisch aus Massentierhaltung esse soll, werden wir wahrscheinlich zögern, das Schnitzel auf den Teller zu laden. Wir werden uns fragen, ob das Tier, dessen Fleisch wir gerne verzehren würden, wohl aus artgerechter Tierhaltung stammt. Wenn wir im Hinblick auf unsere Gesundheit sensibilisiert sind und entsprechende Werte (Man sollte wenig Fett essen. Man sollte nur selten Fleisch essen) internalisiert haben, zögern wir auch; allerdings aus einem anderen Grund und aufgrund anderer ethischer Abwägungen. Und wenn wir ein gläubiger Muslim oder eine orthodoxe Jüdin sind, wird der Impuls, ein Schnitzel zu essen, wahrscheinlich dadurch gebremst, dass unsere Religion die Norm, kein Schweinefleisch zu essen, gesetzt hat. Wie auch immer: wir können die Lust, das panierte Schnitzel zu essen, unterdrücken und anstattdessen etwas anderes auf den Teller laden. 

 

Vielleicht geraten wir aber auch in ein ethisches Dilemma. Das ist dann der Fall, wenn unsere Norm, kein Schweineschnitzel zu essen, mit einer anderen Norm, die wir ebenfalls für wichtig halten, in Konflikt gerät. Beispielsweise kann das der Fall sein, wenn wir bei einem Freund zu Gast sind, der uns zum Essen eingeladen hat und eigens für uns Schweineschnitzel gemacht hat. Dann sind wir im ethischen Konflikt und müssen überlegen, ob es eine Möglichkeit, beiden Normsystemen in irgendeiner Form gerecht zu werden oder ob wir eine von beiden Normen für dieses Mal verletzen. 

 

Willensfreiheit setzt die Fähigkeit zur Selbstreflexion voraus. Das ist mehr als Selbstbewusstsein, von dem wir heute mit gutem Grund annehmen, dass auch manche Tiere (Primaten, Delphine, Elefanten, ...) darüber verfügen. Selbstreflexion bedeutet, dass man sich selbst mit der Mit-Welt in Bezug setzen kann, dass man gedanklich ein Bild von sich selbst und der eigenen "Wirkmächtigkeit" in der Welt entwerfen kann, dass man die wahrscheinlichen oder möglichen Folgen des eigenen Handelns voraussehen kann. Weil wir zur Selbstreflexion in der Lage sind, können wir gegen unsere Handlungsimpulse und Neigungen dem folgen, was Kant als "Pflicht" bezeichnet. Das ist der Kern der Ethik. 

 

Natürlich gibt es auch Situationen, in denen diese Fähigkeit zur Selbstreflexion oder die kognitiven Fähigkeiten, die dafür Voraussetzung sind, fehlen. Das ist z. B. dann der Fall, wenn unser Gehirn aufgrund von Drogeneinfluss, Vergiftung so geschädigt ist, dass komplexere Denkprozesse nicht mehr gelingen. Das ist bei kleinen Kindern der Fall, die noch zu wenig Normen internalisiert haben und die noch nicht gelernt habe, Handlungsimpulse aufzuschieben. Das ist eventuell auch unter starken Stress und bei extremer emotionaler Belastung der Fall. Doch diese Einschränkungen stellen nicht die grundsätzliche Fähigkeit, über Handlungsmöglichkeiten zu reflektieren, in Frage. 


Handlungsfreiheit als "äußere Freiheit"

Neben der Willensfreiheit spielt natürlich auch die Handlungsfreiheit eine Rolle. Sie bedeutet, dass wir tatsächlich in der Lage sind, eine Wahl zwischen mindestens zwei möglichen Handlungsalternativen zu treffen. Auch die Handlungsfreiheit kann zumindest stark eingeschränkt sein. Denn unsere Umwelt setzt dem, was wir gerne tun würden, weil wir es für richtig halten, oft Grenzen. Und unsere Möglichkeiten, unseren eigenen Normen gerecht zu werden, sind teilweise beschränkt. So würde eine Notärztin, die bei einem Großschadens-Ereignis Erste Hilfe leistet, gerne alle schwer Verletzten, die ihre Hilfe brauchen, betreuen. Aber sie ist dazu wahrscheinlich nicht in der Lage. Sie wird im Extremfall einige Menschen sterben lassen müssen, während sie sich um andere verletzte Menschen kümmert. Ihre Handlungsfreiheit ist durch ihre Energie und durch die ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen beschränkt. Viele Menschen glauben, dass es eine Welt ohne Krieg und ohne Hunger geben sollte. Aber sie sind natürlich nicht in der Lage, den Hunger oder den Krieg zu beenden. Ihre Handlungsfreiheit diesbezüglich ist beschränkt. Das heißt aber nicht, dass sie gar nichts tun können oder sollen. 


Freiheit als Voraussetzung für Verantwortung

Freiheit ist die Voraussetzung für Verantwortung. Nur wenn wir von einem Menschenbild ausgehen, das zumindest in einem eingeschränkten Sinn Platz für freies Handeln lässt, kann auch davon ausgehen, dass jemand, der Böses oder Gutes tut, dafür auch verantwortlich gemacht werden kann. Wer davon ausgeht, dass Menschen "neurologisch programmierte Roboter" oder triebgesteuerte Wesen sind, kann sie für gutes Verhalten nicht schätzen oder belohnen. Und er kann sie für böses Verhalten auch nicht zur Verantwortung ziehen und bestrafen. Denn das würde dann konsequenterweise auch für Politiker gelten, die Machtpositionen anstreben, um sich selbst zu bereichern. Es würde für Menschen gelten, die anderen Menschen Gewalt antun, weil sie ihnen körperlich überlegen sind oder weil sie eine Waffe in der Hand haben. Es würde für  politische Potentaten von Hitler über Stalin bis PolPot gelten. Es würde für Selbstmordattentäter gelten, die Flugzeuge in Hochhäuser steuern, und für Gotteskrieger, die Zivilisten köpfen und Gefangene bei lebendigem Leib verbrennen. Mit dieser Vorstellung haben die meisten Menschen - zu Recht - ein Problem. 

 

 

Deshalb ist die anthropologische Diskussion um den Menschen als ein prinzipiell zur Freiheit befähigtes oder gar als ein zur Freiheit verurteiltes (vgl. Sartre) Wesen auch für die Ethik höchst relevant. Vielleicht werden Debatten über die Frage, ob und wie frei der Mensch in seinem Handeln eigentlich ist (z. B. moderne Neurologie / Hirnforschung; z. B. Wolf Singer) auch deshalb auch so heftig geführt, weil ForscherInnen, die die Freiheit in Frage stellen, damit auch das Fundament jeder philosophischen Ethik zur Disposition stellen. 


Arbeitsaufgaben

A1: Was bedeutet es, in seinem Willen (Willensfreiheit, Freiheit der Haltung einem bestimmten Phänomen gegenüber) frei zu sein. Suche Beispiele dafür, dass Menschen mithilfe des Willens gegen die eigenen Handlungsimpulse und die eigenen momentanen Bedürfnisse handeln, weil "ihr Gewissen" das von ihnen fordert. Zeige aber auch an konkreten Beispielen, dass die Fähigkeit aus Gewissensgründen gegen die eigenen momentanen Bedürfnisse und Neigungen zu handeln, manchmal auf Grenzen stoßen kann. 

A2: Zeige an konkreten  Beispielen, wodurch die Handlungsfreiheit und damit die Freiheit, den eigenen Gewissensnormen entsprechend zu handeln, oft eingeschränkt wird / sein kann. Wann und wo geht es um echte Einschränkungen der Handlungsfreiheit? Wann und wo machen wir es uns eher nur bequem, indem wir uns sagen, dass "man eh nichts tun kann"? Was passiert, wenn Menschen gerne etwas ethisch Richtiges tun würden, dazu aber aufgrund der Situation oder aufgrund ihrer Fähigkeiten nicht in der Lage sind (wie beim Beispiel mit der Notärztin)

A3: Es gibt immer wieder neurologische Fallbeispiele, die zeigen, dass Menschen aufgrund neurologischer Veränderungen im Gehirn nicht (mehr) in der Lage sind, frei zu entscheiden und zu handeln. Ein berühmtes Fallbeispiel ist Phineas Gage. Ein anderes Fallbeispiel ist Elliot. Zeigen diese Fallbeispiele nach deiner Meinung, dass Freiheit eine Illusion ist und dass in Wirklichkeit "unser Gehirn" determiniert, wie wir uns verhalten? Recherchiere näheres zu den Fallbeispielen. Beziehe zu dieser Frage in einem argumentativen Statement Stellung. 
A4 Gedankenexperiment. Nimm an, Menschen wären in ihrem Handeln grundsätzlich nicht frei, weil Handeln das direkte Resultat (man könnte auch sagen: das "Abfallprodukt) bestimmter neurologischer Prozesse im Gehirn ist, die sie selber nicht steuern können. Was würde das für dein Leben und für die Entscheidungen, die du in deinem Leben zu treffen glaubst, bedeuten. Schreibe dazu einen kurzen Text, in dem es um eine Dilemma-Situation geht. 

A6: Wie lässt sich J. P. Sartres Aussage: "Der Mensch ist verurteilt frei zu sein" und sein Beispiel mit dem Soldaten, der einen Einberufungsbefehl erhält, im Hinblick auf die ethische Frage nach Freiheit und Verantwortung beschreiben. Worin besteht die Freiheit des Soldaten? Warum besteht Sartre darauf, dass der Soldat, der den Einberufungsbefehl bekommt, in seinem Handeln frei ist, weil er eine Wahl hat? Worin besteht die Verantwortung, die der Soldat hat und die sich aus seiner freien Wahl ergibt?

A7: Der deutsche Gehirnforscher Wolf Singer gehört zu den Natur-Wissenschaftlern, die das philosophische Konstrukt der Freiheit auf der Grundlage moderner neurologischer Befunde in Frage stellen. Wie argumentiert Wolf Singer im Interview mit der "Süddeutschen Zeitung"? Welche Aussagen macht er zur Freiheitsfrage?

A8: Welche Fakten sprechen dafür, dass Menschen in ihren Entscheidungen und in ihrem Verhalten weniger frei sind, als man das auf den ersten Blick vielleicht denken würde? Was spricht dafür, dass es die Freiheit, zwischen verschiedenen Wegen / Alternativen zu wählen, sehr wohl gibt? Schreibe zu beiden Seiten ein argumentatives Statement oder entwirf ein Streitgespräch zwischen zwei Personen, von denen die eine (A) die Existenz von Freiheit leugnet und die andere (B) für die Existenz von Freiheit argumentiert.