Grundlegende Ziele des Strafrechts: Wozu bestraft "der Staat"?

Ob und wie "der Staat" Straftäter bestrafen soll, ist immer wieder Thema rechtsphilosophischer Diskussionen.

 

Eine Extremposition wäre zu sagen, dass der Staat überhaupt nicht sanktionieren oder bestrafen soll. Man könnte diese Position als "Der Täter als Opfer-Position" bezeichnen. Vertreter dieser Extremposition argumentieren meistens in eine von zwei Grundrichtungen: 

 

Begründung 1: Sie behaupten, der Staat benutze das Strafrecht, um "Abweichler" und "Kritiker" mundtot zu machen und seine eigene Macht zu sichern. Dieser Vorwurf gilt für Diktaturen in einem großen Ausmaß. Ob und inwiefern er auch für demokratiche Rechtsstaaten gilt, ist fraglich. Zumindest gibt es gute und gravierende Einwände gegen diese Position in undifferenzierter Form. 

 

Begründung 2: Die zweite Extremposition ist zu sagen, dass Straftäter selbst nicht frei handeln und entscheiden und deshalb für ihre Taten nicht verantwortlich gemacht werden können. Dazu zählt das Argument, dass Straftäter in ganz vielen Fällen aus sozial stark belasteten Milieus kommen, selbst vielfach Opfer gewesen sind, bevor sie zum Täter geworden sind. Auch wenn das nicht in jedem Einzelfall so ist, stimmt dieser Einwand in vielen Fällen. Die Frage ist allerdings, ob wir deshalb auf strafrechtliche Sanktionierung verzichten sollen und können. Es gibt auch moderene neuropsychologische Theorien, die in Frage stellen, ob Menschen in der Lage sind, frei zu handeln und zu entscheiden. Wenn wir das in Frage stellen / verneinen, können wir strafrechtliche Sanktionierungen nicht gut rechtfertigen. 

 

Die andere Extremposition ist zu meinen, man können "Recht und Gesetz" einfach mit möglichst harten Strafen durchsetzen. Man könnte diese Position als Law-and-Order-Position bezeichnen. Diese Position übersieht, dass es viele Gründe gibt, warum Menschen Gesetze verletzen. Und sie übersieht, dass mit "harten Strafen" tiefere Ursachen für Kriminalität, z. B. soziale Ungerechtigkeit oder Chancenlosigkeit, nicht bekämpft werden kann. Vertreter dieser Position verwechseln das Symptom Kriminalität mit den tieferen Ursachen für Kriminalität. 

wichtige Strafrechtstheorien: Warum bestraft "der Staat"? Wie rechtfertigt er die Bestrafung?

Das heutige Strafrecht folgt im Wesentlichen vier rechtsphilosphischen Ansätzen. Es begründet die Notwendigkeit von Strafen (auch von Gefängnisstrafen) mit folgenden vier Aspekten:

 

Strafrechtstheorie 1: Sühnetheorie

 

Die Sühnetheorie geht davon aus, dass ein Straftäter sich durch seine Tat ins Unrecht gesetzt hat. Dieses Unrecht soll durch die Strafe gesühnt werden. Dabei soll die Strafe nicht härter sein als das Unrecht, das mit ihr gesühnt werden soll. Das alte jüdische Prinzip „Ein Auge um ein Auge, ein Zahn um ein Zahn“ – heute oft als „Racheprinzip“ missverstanden – verfolgt genau dieses Ziel.

 

Was im Einzelfall eine gerechte Strafe für eine Straftat ist, kann gesellschaftlich umstritten sein. In den Bundesstaaten in den USA, die die Todesstrafe exekutieren, wird meistens argumentiert, dass ein so genanntes schweres Kapitalverbrechen (Mord) nur gesühnt werden könne, wenn der Täter mit seinem Leben bezahle. In Europa wird demgegenüber gesagt, auch eine lange Haftstrafe sei Sühne genug und die Todesstrafe widerspreche der Menschenwürde. In manchen Strafrechtstheorien wird Sühne als Strafrechtsprinzip überhaupt abgelehnt.


Wichtig ist, dass eine Strafe in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Straftat stehen muss oder soll. Was dabei verhältnismäßig ist, ist manchmal umstritten. Manche Menschen kritisieren z. B., dass "kleine Straftaten" (Ladendiebstahl) unverhältnismäßig schwerer geahndet würden, als Wirtschaftsverbrechen ("White-Collar-Kriminalität"). Manche Menschen kritisieren, dass Eigentumsdelikte im Verhältnis zu Delikten gegen "Leib und Leben" (z. B. körperliche Gewalt, Missbrauch) viel zu schwer bestraft würden. 

 

Welche Strafe Menschen als gerecht (also eigentlich: verhältnismäßig) empfinden, kann auch gesellschaftlichen Veränderungen unterliegen. Das können wir gut im Bereich der Sexualität beobachten. Auf der einen Seite werden Verhaltensweisen, die früher strafrechtlich verfolgt wurden (z. B. Homosexualität im Rahmen des Paragraphen 209) heute gar nicht mehr bestraft, weil sich gesellschaftliche Normen geändert haben.. Andererseits werden sexuelle Übergriffe gegenüber Kindern ("Missbrauch") heute  härter geahndet als früher. Hintergrund dafür ist, dass sich durch öffentliche Diskussion und spektakuläre Fälle das Unrechtsbewusstsein in der Bevölkerung und in der Justiz verstärkt haben. 


In den 70er-Jahren wurde in Österreich die lebenslange Haftstrafe abgeschafft. Die längste Strafdauer ist bei 25 Jahren.

 

Strafrechtstheorie 2: Abschreckungstheorie ( = Generalprävention)

 

Die Abschreckungstheorie geht davon aus, dass eine möglichst hohe Strafandrohung dazu führt, dass ein potentieller Täter in einer Risikoabwägung auf sein kriminelles Vorhaben verzichtet.

 

Wenn jemand also für Ladendiebstahl hart bestraft wird, wird das auch andere Menschen, die potentiell mit dem Gedanken spielen, in einem Geschäft eventuell etwas mitgehen zu lassen, abschrecken, weil ihnen das Risiko zu hoch erscheint.

 

In den letzten Jahren sind in Vorarlberg z. B. für Verkehrsunfälle unter Alkoholeinfluss, bei denen Menschen zu Schaden gekommen sind, absichtlich harte Strafen (unbedingte Gefängnisstrafen bei Todesfolge) verhängt worden, um in der Bevölkerung ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Alkohol am Steuer kein „Kavaliersdelikt“ ist.

 

Die Abschreckungsfunktion von Strafandrohungen und Strafen wirkt dann, wenn eine Tat geplant werden muss und das Risiko, erwischt zu werden, relativ hoch ist. Wenn es um Affekttaten geht, greift diese Theorie allerdings nicht.

 

Das Jugendstrafrecht in Österreich kennt keine Generalprävention.

 

Ein Vorteil des Ansatzes der Generalprävention ist, dass sie das Rechtsbewusstsein in der Bevölkerung generell stärkt. Eine Gefahr könnte sein, dass jemand aus generalpräventiven Überlegungen heraus – z. B. wenn ein Fall viel öffentliches Aufsehen erhält - besonders hart bestraft wird. In den USA wird die Todesstrafe teilweise auch mit dem Argument auf generalpräventive Abschreckung verteidigt. Europäische Staaten und Menschenrechtsorganisationen bezweifeln die abschreckende Wirkung der Todesstrafe entschieden.

 

Strafrechtstheorie 3: Schutzfunktion der Strafe (Individualprävention)

 

Nicht zuletzt hat (Gefängnis)strafe die Funktion, die Gesellschaft vor gefährlichen Gewalttätern zu schützen. Wenn jemand vom Staat für eine bestimmte Verhaltensweise bestraft wird, wird ihm damit auch klar gemacht, dass der Staat dieses Verhalten nicht duldet. Wenn eine Person eine Gefahr für andere Menschen, deren Gesundheit, deren Leben, deren psychische und körperliche Integrität ist, hat der Staat die Verpflichtung, andere Menschen vor solchen Personen – im Extremfall durch Einsperren – zu schützen.

 

Unter Umständen kann es passieren, dass jemand, obwohl er seine Strafe abgebüßt hat oder – wegen Zurechnungsunfähigkeit zum Tatzeitpunkt - gar nicht verurteilt wird, aber dennoch nicht in Freiheit entlassen wird, sondern in so genannte Sicherheitsverwahrung (meist in einer geschlossenen forensisch-psychiatrischen Abteilung) kommt. Hier geht es dann nicht um Strafe, sondern ausschließlich um die Frage, ob eine Person ein Sicherheitsrisiko für andere Menschen ist. Vor allem ist das bei einem Teil der sexuell abnormen Triebtätern der Fall, weil bei ihnen lt. heutiger Lehrmeinung ein sehr hohes Rückfallrisiko existiert.

 

Strafrechtstheorie 4:  (Re)sozialisierungstheorie (Strafe als Mittel, Täter in die Gesellschaft zu (re)integrieren

Diese Theorie besagt, dass ein Straftäter durch den Strafvollzug gebessert werden soll. Er soll durch besondere Maßnahmen im Strafvollzug (z. B. Arbeit, psychosoziale Betreuung, ...) seine Persönlichkeit weiterentwickeln können, Persönlichkeitsdefizite ausgleichen können und lernen, nach der Haftentlassung in der Gesellschaft ohne Straffälligkeit zu leben.

In den 70er-Jahren des 20. Jh. (in Österreich: Justizminister Broda) ist dieser Resozialisierungsgedanke sehr stark. Er führt zu grundlegenden Veränderungen im Strafvollzug. Zum Beispiel wird ein eigenes Jugendstrafrecht geschaffen, bei dem die Zielsetzung der Resozialisierung besonders stark betont wird. So muss jugendlichen Gefangenen eine Berufsausbildung ermöglicht werden. Auch im Erwachsenenstrafvollzug versucht man neue Ansätze (Haftfreigänge, psychologische Betreuung von Gefangenen, offener Strafvollzug, ...)

 

Bei Straftätern mit halbwegs „gesunder“ Persönlichkeitsstruktur ist dieser Ansatz auch heute noch erfolgreich. Bei bestimmten Tätern mit schweren Persönlichkeitsstörungen zweifelt man aber heute an der (Re)sozialisierbarkeit. Vor allem einzelne Fälle misslungener Resozialisierung (am bekanntesten ist in Österreich wohl der Fall Jack Unterweger) haben dazu geführt, dass man heute nicht mehr unbedingt immer an die Resozialisierbarkeit von Straftätern glaubt.