Soziale Bindungsforschung

Bindungsforschung; Bindungstypen (W)

Bindungsforschung
Bindungsforschung

Hintergrund

Die Bindungstheorie geht auf die Forschungen des britischen Psychiaters John Bowlby und der kanadischen Ethnologin und Psychologin Mary Ainsworth zurück. Sie baut auf ethnologischen (= völkerkundlichen), entwicklungspsychologischen und psychoanalytischen (Psychoanalyse = Grundrichtung in der Psychologie) Erkenntnissen auf.

 

zentrale Thesen der Bindungstheorie

Die Bindungstheorie geht davon aus, dass bereits zwischen einem Neugeborenen und seiner engsten Bezugspreson eine enge emotionale Bindung besteht, die in den ersten Lebensmonaten zusätzlich geprägt wird. Diese Bindung ist genetisch vorgeprägt und durch die Tatsache beeinflusst, dass ein menschliches Neugeborenes (noch mehr als andere Säugetiere) auf Fürsorge angewiesen ist, damit es sich körperlich und psychisch gesund entwickeln kann; die Bindung zur Bezugsperson ermöglicht dem Neugeborenen bzw. Kleinkind Schutz und Beruhigung in subjektiv oder objektiv bedrohlichen Situationen und gibt dem Kind später die Sicherheit, die Umwelt schrittweise erobern zu können.

 

Das Bindungsverhalten des Kindes umfasst Weinen, Lächeln (Kindchen-Schema), Festklammern und alle Äußerungen, die in einer Verbindung zum kindlichen Bedürfnis nach sozialen Kontakt stehen.

 

Das Bindungsverhalten eines Neugeborenen entsteht durch die Anpassung an das Verhalten der Bezugspersonen (im Normalfall die Mutter); die stärkste Prägung findet innerhalb der ersten sechs Lebensmonate statt; später können fundamentale Bindungsstörungen (oft allerdings nur noch teilweise und v. a. mit sehr hohem Aufwand) kompensiert werden. Das frühkindlich erworbene Bindungsverhalten prägt auch die Erwachsenenpersönlichkeit (z. B. in Beziehungsmustern oder im Umgang mit eigenen Kindern)

 

Das Bindungsverhalten entwickelt sich im ersten Lebensjahr. Bis zum dritten Lebensmonat ist nicht die Anwesenheit einer bestimmten Bezugsperson, sondern Körperkontakt, Wärme, menschliche Ansprache entscheidend. Ab dem dritten Lebensmonat entsteht eine feste Bindung zu konkreten Bezugspersonen (Mutter, Vater); ab dem 7./8. Lebensmonat (Fremdeln) kann das Kind sich aktiv Bezugspersonen zuwenden oder sich von unbekannten und fremden Personen abwenden; ab dem zweiten Lebensjahr kann das Kind sich allmählich von der körperlichen Präsenz seiner Bezugspersonen lösen, weil es eine innere Repräsentanz (Objektkonstanz) entwickelt. Häufig dient ein Übergangsobjekt (Stofftier) in Zeiten der Trennung als „Sicherheitsanker“

 

Ab dem 7./8. Lebensmonat wechseln sich Bindungsverhalten und Erkundungsverhalten (Fachbegriff: Explorationsverhalten) ab, wobei das Erkundungsverhalten, bei dem das Kind sich von der Bezugsperson löst und sich aktiv seiner Umgebung zuwendet, schrittweise zunimmt. Das Bindungsverhalten wird insbesondere in Situationen aktiviert, in denen das Kind sich bedroht fühlt oder verunsichert ist (Alleinsein, Schmerz, Furcht, unbekannte Umgebung,); der körperliche Kontakt zur Bezugsperson beendet die Verunsicherung und ermöglicht dem Kind erneutes Erkundungsverhalten.

 

Ein bindungssicheres Kind wagt es schrittweise immer mehr, sich von der Bezugsperson zu entfernen und die Welt aus eigenem Antrieb zu erobern; allerdings braucht es immer wieder die Rückversicherung durch die Bezugsperson (Blicke, Rufen,...)

 

Die Bindungstheorie vertritt die These, dass nur ein bindungssicheres Kind in der Lage ist, einzelne weitere Schritte in die Selbständigkeit zu unternehmen (allein schlafen, allein spielen, Kindergarten, Schule, Ferienlager, ...)

 

Unterschiedliche Bindungstypen

 

Innerhalb der Bindungstheorie werden unterschiedliche kindliche Bindungstypen unterschieden:

 

Die sichere Bindung (B-Bindung): Sicher gebundene Kinder entwickeln Zuversichtlichkeit in Bezug auf die Verfügbarkeit der Bindungsperson. Sie sind dadurch auch immer mehr in der Lage, mittels Erkundungsverhalten auf "Entdeckungsreise" zu gehen und sich ihrer Umwelt zuzuwenden.

 

Die unsicher-ambivalente (ängstlich-widerstrebende; resistente, ambivalente) Bindung (C-Bindung): Unsicher-ambivalent gebundene Kinder zeigen sich ängstlich und abhängig von ihrer Bindungsperson; sie „klammern“. Häufig reagieren diese Kinder schon mit Stress, wenn die Abwesenheit der Bezugsperson „droht“ (z. B. wenn die Mutter den Mantel anzieht).

 

Die unsicher-vermeidende Bindung (A-Bindung): Unsicher-vermeidende Kinder reagieren scheinbar unbeeindruckt, wenn sie allein gelassen werden und reagieren kaum auf die Anwesenheit der Bezugsperson. Es ist aber eher so, dass sie ihre Unsicherheit und ihren Stress resignativerweise nicht (mehr) zeigen.

 

Die desorganisiert/desorientiert erscheinende (D-Bindung): dieser Bindungstyp wurde erst später erkannt; Kinder zeigen oft „nicht-klassifizierbare“ Verhaltensweisen, beispielsweise stereotype Verhaltensmuster; vermutet wird, dass dieses Bindungsmuster durch frühkindliche Traumatisierungen und durch „Double-Bind-Situationen“ (die schützende Bezugsperson ist auch gleichzeitig die Bedrohung) ausgelöst wird.


 

Belastungs- und Schutzfaktoren (R)


Der zentrale Faktor für die Entwicklung einer sicheren Bindung, die ihrerseits wiederum die Voraussetzung dafür ist, dass das Kind sich zutraut, sich allmählich von der Bezugsperson zu lösen und "die Welt auf eigene Faust zu erkunden", ist die enge Bindung an eine oder einige wenige Bezugspersonen vor allem in den ersten Lebensmonaten. 

 

Verschiedene Faktoren können die Entstehung einer sicheren Bindung aber erschweren. Dazu zählen beispielsweise

  • eine frühe und / oder lange Trennung des Kindes von zentralen Bezugspersonen (Wichtig als Gegenmaßnahmen sind vor allem der Körperkontakt zwischen Mutter und Neugeborenem, Stillen, Rooming-In, …)
  • ambivalentes Verhalten der Bezugsperson, z. B. bei postpartaler Depression der Mutter, wenn das Kind unerwünscht ist, bei Überforderung der Mutter, … (Hier ist wichtig, dass entsprechende Verhaltensauffälligkeiten bei Müttern möglichst früh erkannt werden und dass diese Mütter möglichst rasch Unterstützung und Hilfe erfahren.)
  • Bezugspersonen, die - aus welchen Gründen auch immer - auf die kommunikativen Signale des Kindes nicht reagieren
  • später: das Fehlen eines überschaubaren Kreises von konstanten Bezugspersonen
  • später: unberechenbares Verhalten der Bezugspersonen
  • später: überängstliches oder überbehütendes Verhalten der Bezugsperson
  • später: Beziehungsabbrüche (z. B. bei Trennungen auf der Eltern/Stiefeltern-Ebene)

 

Schutzfaktoren:

  • Wichtig ist, dass das Kind - wenn immer medizinisch verantwortbar - unmittelbar nach der Geburt Körperkontakt mit der Mutter / dem Vater aufnehmen kann. Wenn die Geburt schwierig verläuft, das Leben des Kindes gefährdet ist oder das Kind zu früh auf die Welt kommt und im Brutkasten versorgt werden muss, ist dies nicht immer möglich. Aber auch in solchen Fällen versucht man, den neugeborenen Kindern möglichst oft den körperlichen Kontakt mit den Eltern zu ermöglichen, beispielsweise indem man die Kinder den Eltern regelmäßig an die Brust legt, auch wenn sie z. B. noch nicht in der Lage sind, selbständig von der Brust der Mutter zu trinken) Man nennt dies Känguruing.
  • Wichtig ist, dass das Kind in der ersten Lebensphase eine "überschaubare" Menge von engen Bezugspersonen hat. 
  • Wichtig ist, dass die Bezugspersonen mit den Kindern kommunizieren und interagieren, also auf die körpersprachlichen Signale der Kinder (Mimik, Lächeln, ...) reagieren. 
  • Wichtig ist, dass die Bezugspersonen "verlässlich" sind, also sich auf eine "vorhersehbare" Weise dem Kind gegenüber verhalten.
  • ...

Arbeitsaufgaben: Reflexion und Transfer

A1: Das Bild gehört zu einem FAZ-Artikel, der sich mit der Bindungsforschung und den Bindungstypen auseinandersetzt. Beschreibe ausgehend von diesem Bild, was die jeweiligen Bindungstypen kennzeichnet. Ordne die Bindungstypen den vier Kindern im Raum zu. Begründe, warum du welches Kind welchem Bindungstyp zurechnest. (Die Lösung findest du im Artikel)


A2: Du kannst eine logische Beziehung zwischen der Theorie der Bindungsforschung einerseits und den Experimenten, die Harry Harlow mit seinen Rhesusäffchen andererseits gemacht hat, herstellen. Inwiefern passen die beiden Theorien zusammen bzw. inwiefern ergänzen sie sich?


A3: Aus den Erkenntnissen der Bindungsforschung und der Hospitalismusforschung und aus den Experimenten von Harlow wird oft die Schlussfolgerung gezogen, dass es für die psychische Entwicklung eines Kindes gut sei, wenn die Mutter möglichst lange (mindestens ein Jahr, manche sagen: besser drei Jahre) als konstante Bezugsperson für das Kind da sei und das Kind betreue. Ist diese Schlussfolgerung gerechtfertigt? Wie werden Befürworter dieser Person argumentieren? Wie werden Skeptiker argumentieren? Wie ließe sich diese Frage eventuell empirisch untersuchen oder belegen?


A4: Wenn ein Kind - aus welchen Gründen auch immer - einen unsicher-ambivalenten Bindungsstil entwickelt hat: Was braucht dieses Kind vermutlich, damit es sich gut entwickeln und Bindungsvertrauen aufbauen kann?


A6: Was sind Elemente der frühkindlichen Kommunikation? Wie kommuniziert eine Bezugsperson mit ihrem Kind? Wie kommuniziert das Kind mit seinen Bezugspersonen? Inwiefern kann es zu Problemen (oder zu Störungen) im Kommunikationsprozess kommen?


A6: Erkläre die folgenden Begriffe: 

  • Übergangsobjekt
  • Bindungsverhalten
  • Erkundungsverhalten = Explorationsverhalten

A7: Erkläre die vier Bindungstypen. Überlege, wie sich diese vier Grundmuster des Bindungsverhaltens ev. bei erwachsenen Personen manifestieren könnten. Denke z. B. an das Verhalten in Beziehungen oder an das Verhalten eigenen Kindern gegenüber oder an das Verhalten gegenüber fremden Menschen / in Gruppen. (Aber Achtung: entgegen dem, was viele Menschen alltagypsychologisch meinen und was manchmal leider auch die akademisch gebildete "ExpertInnen" behaupten, gibt es keinen "Automatismus". Der Mensch "funktioniert" nicht nach einfachen "wenn-dann"-Gesetzen.)


Internetlinks, Quellen

  • "Frühe Bindung, spätes Leid". Artikel über Bindungsforschung in der FAZ
  • BR2: Webseite zu verschiedenen Radiosendungen zum Thema Bindung, Eltern-Kind-Beziehung, frühkindliche Entwicklung. Kurzer Begleittext
  • genauere Beschreibung (kritisch-reflektierende Überlegungen eingeschlossen) zur Bindungstheorie und zu den Bindungstypen (kindegartenpädagogik.de)
  • Wikipedia über Bindungstheorie. Der Artikel enthält auch kritische Überlegungen zur Frage, ob das Kind in den ersten drei Lebensjahren kontinuierliche Betreuung durch "die Mutter" brauche.