Religionen und Glaubenssysteme

Glaube als anthropologische konstante

Venus von Willendorf (Wikipedia)
Venus von Willendorf (Wikipedia)

Höhlenzeichnungen, Gräberfunde, mythologische Geschichten und anderes mehr zeigen uns, dass Menschen schon seit vielen Jahrtausenden versuchen, die Grenzen des "Offensichtlichen" gedanklich zu überschreiten (die Fachmenschen sprechen auch von "transzendieren" = überschreiten). Offenbar sind sie fasziniert vom "Wunder des Lebens", weshalb sie Fruchtbarkeitsgöttinnen verehren. Sie versuchen, die göttlichen Mächte mit rituellen Handlungen positiv zu stimmen. Sie glauben, dass der Tod nicht das Ende, sondern ein Durchgangsstadium in ein anderes Leben sei, weshalb sie verstorbene Ahnen verehren oder ihren verstorbenen Angehörigen Grabbeigaben für die Reise in die andere Welt mitgeben. 

 

Auch finden wir in allen Kulturen weltweit religiöse Überzeugungen. Auch das deutet darauf hin, dass dem Menschen ein tiefes Bedürfnis nach "einem höheren Sinn" innewohnt.

 

PhilosophInnen bezeichnen den Menschen deshalb als ein "metaphysisch begabtes" Lebewesen (Metaphysik = das, was hinter / neben der körperlichen Welt existiert) oder als "transzendent denkendes Lebewesen" (transcedere = überschreiben).  

Elemente von glaubenssystemen und Religionen

Religionen und Glaubenssysteme basieren - so unterschiedlich sie im Einzelnen sein mögen - auf zentralen Grundelementen. 

 

Dazu zählen insbesondere ...

  •  ... Mythen, also Geschichten, die den Menschen Antworten auf philosophische Fragen nach der Herkunft der Welt (Weltentstehungs-Mythen, Schöpfungsmythen), nach dem Wesen des Menschen (anthropologische Mythen), nach dem Bösen in der Welt, nach den "letzten Dingen" (eschatologische Mythen) u.a.m. geben.

  • ... Riten und Rituale, also Handlungssysteme, durch deren Vollzug "die Wahrheit begriffen", das menschliche Schicksal beeinflusst und Gemeinschaft erlebt werden sollen. Dazu zählen beispielsweise Gebete, Meditation, Riten, die Lebensübergänge sichtbar machen sollen, Alltagsriten u.a.m.

  • ... Feste und Feiern, in deren Zentren religiöse Glaubensinhalte und rituelle Handlungen stehen, bei denen aber auch Gemeinschaftserfahrung eine wichtige Rolle spielt. Dazu zählen Messfeiern ebenso wie Feste an bestimmten Wendepunkten des Lebens (Geburt, Hochzeit, ...) oder Feste an bestimmten Punkten des Jahreskreislaufes (Wintersonnenwende, Frühling, ...). ... Normen und Regeln, deren Beachtung dem einzelnen Menschen nicht nur ein gutes und sinnerfülltes Leben, sondern auch Erlösung (häufig allerdings erst in einem anderen Leben) in Aussicht stellt. Darüber hinaus sind Normen und Regeln aber auch wichtige Grundlagen für das soziale Zusammenleben in einer Gesellschaft.

  • ... Transzendenz. Ein wichtiges Element von Glaubenssystemen ist, dass sie sich - in irgendeiner Form - auf eine transzendente (trans-cedere = überschreiten) Macht, mit der der einzelne Mensch in Kontakt treten kann, berufen. In den abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam ist das ein personaler Gott, in vielen anderen Glaubenssystemen (z. B. antike Religionen, hinduistische Religionen) gibt es eine Vielzahl von Göttern, die unterschiedliche Eigenschaften und Aufgabenbereiche haben. In Naturreligionen werden Naturphänomene (Orte, Bäume, Felsen, ...) als quasi göttlich betrachtet oder Ahnen und Geister verehrt. Es gibt aber auch Glaubenssysteme, die abstraktere Vorstellungen des Transzendenten entwickelt haben. Ein Beispiel dafür ist der Buddhismus, der (zumindest im Kern) keine transzendente Gottheit kennt, wohl aber mit dem Karma ein "ewiges Gesetz", mit dem Nirwana eine Form der (wenn auch negativen) (Selbst-)Erlösung.

  • In vielen (allerdings nicht in allen) Glaubenssystemen gibt es religiöse Quellen, durch die sich den Menschen religiöse Wahrheiten offenbaren. Ursprünglich sind religiöse Lehren vermutlich mündlich durch religiöse Autoritäten wie Schamanen oder PriesterInnen vermittelt und tradiert worden. In den großen Weltreligionen spielen aber religiöse Texte eine ganz zentrale Rolle. Am wichtigsten sind diese Quellentexte wahrscheinlich in den so genannten Buchreligionen Judentum (Thora), Christentum (Bibel) und Islam (Koran), wo davon ausgegangen wird, dass sich in diesen Texten Gott den Menschen offenbart. Aber auch in asiatischen Religionen, beispielsweise in den hinduistischen Religionen (Veden), spielen religiöse Texte eine wichtige Rolle.
  • In vielen Religionen gibt es auch religiöse Autoritäten in Form von SchamanInnen, PriesterInnen, Schriftgelehrten u.a.m.
  • Manche Religionen entwickeln Institutionen und Rechtsinstrumente (z. B. Kirchenrecht, Kirchengerichte, Bildungsinstitutionen), mit deren Hilfe sie ihre Glaubensüberzeugungen gesellschaftlich zu implementieren versuchen. Dann bewegen sie sich in Richtung institutionalisierter Kirchen. Am konsequentesten umgesetzt haben das die großen christlichen Religionen und in Teilbereichen der Islam. Immer wieder haben sie es in bestimmten Staaten oder in bestimmten Zeiträumen geschafft, als Staatsreligionen ihre Normen zur Staatsgrundlage zu machen.

 

Funktionen von glaubenssystemen und Religionen

Michelangelo: Die Erschaffung Adams (Wikipedia)
Michelangelo: Die Erschaffung Adams (Wikipedia)

Im wesentlichen können wir einige zentrale Aufgaben von Religionen und Glaubenssystemen identifizieren: 

 

1. Religionen geben Antworten auf existentielle philosophische Fragen nach der Herkunft der Welt und des Menschen, nach der Stellung des Menschen in der Welt, nach dem Wesen des Todes, nach dem Sinn des menschlichen Lebens, ... Sie geben diese Antworten vor allem in Form von Mythen und von Ritualen. Mythen, die in der jüdisch-christlichen Tradition prägend sind, sind z. B. der Schöpfungsmythos, der Mythos von der Vertreibung aus dem Paradies, der Mythos von Kain und Abel, der Mythos von der Arche Noah und der großen Sintflut uam. Das bekannteste und wichtigste Ritual im Christentum ist das Taufritual. Es ist ein Initiationsritus, also ein Ritus, in dem ein Mensch in die christliche Glaubensgemeinschaft aufgenommen wird. Eine ähnliche Funktion hat das Ritual der Beschneidung von Jungen im Judentum und im Islam.
2. Religionen binden die Menschen zurück an eine höhere Instanz. So helfen sie den Menschen, Ängste, existentielle Unsicherheiten und Krisen zu ertragen. Religiöse Menschen treten durch Rituale und durch Gebete in Kontakt mit höheren transzendenten Mächten oder Kräften. Das können "Geistwesen" (Naturgeister, die Seele von verstorbenen Ahnen, ...) oder Götter sein. Transzendente Mächte sind in vielen Glaubenssystemen ambivalent. Die Menschen sind von ihnen abhängig und auf ihren Schutz angewiesen.

 

3. Religion geben den Menschen ethische Richtlinien für ihr Verhalten. Sie geben diese Richtlinien vor allem in Form von ethischen Normen und Geboten. Die ursprünglichsten Normen sind Tabus, vor allem das Inzest-Tabu und das Tabu, Vater oder Mutter zu töten. Aber auch bestimmte "heilige Orte" oder "heilige Zeiten" sind mit Tabus belegt.  Später ergänzen und ersetzen von religiösen Autoritäten (Priester, Schriftgelehrte, ...) erlassene Gebote diese Tabus. Im Judentum sind das die 10 Gebote, die Moses in der Wüste Sinai von Gott erhalten haben soll. Diese sind im Christentum in leicht abgeänderter Form übernommen worden. Im Islam bilden die 5 Säulen des Islam den ethischen Kern. Dazu kommen in vielen Religionen weitere Regeln und Normen, z. B. Speisevorschriften, Bekleidungsvorschriften, Vorschriften das sexuelle Leben betreffend uam.
4. Religion geben den Menschen Gemeinschaftsgefühl und Gemeinschaftserleben. Sie geben diese Form des Halts und der Orientierung entstehen durch ähnliche Glaubensüberzeugungen und durch gemeinschaftlich begangene Rituale. Den Rahmen dafür bilden Alltag (in die kleine Alltagsrituale und religiöse Symbole eingebunden sind) und große Feste und Feiern, die an bestimmten Zeitpunkten im Jahreszyklus (z. B. Sonnenwende) und im Lebenslauf (Geburt, Erwachsen-Werden, Heirat, Tod) stattfinden.  Auch das gemeinschaftliche Gebet und viele Vorschriften wirken gemeinschaftsbildend. Religionen geben Menschen existentielle Sicherheit, weil sie Menschen sagen, wer sie sind (nämlich Teil eine religiösen Gemeinschaft oder "Kind Gottes) und weil sie Abgrenzungen nach außen (gegen Nicht-Religiöse, Andersgläubige) vornehmen. Nicht selten ist dieses Identitätsangebot auch mit einer elitären Haltung (WIR die Auserwählten, die Richtig-Glaubenden) verbunden. Religionen geben außerdem soziale Sicherheit,  weil Menschen in Krisensituationen auf die Solidarität und die Hilfe anderer Mitglieder der religiösen Gemeinschaft vertrauen dürfen. Und sie wirken identitätsstiftend, weil sie dem einzelnen Menschen Antwort auf die Frage nach der eigenen Identität geben. Er bekommt sie nach innen (weil er Teil einer Gruppe ist) und in Abgrenzung nach außen; gegen Andersgläubige oder Nichtgläubige.  

zugänge zu Glaubenssystemen und Religionen in der modernen welt

Dass Glaubenssysteme Antworten auf wichtige Bedürfnisse, die Menschen haben, geben, ist unbestritten. Das sagt über die Richtigkeit oder über die Leistung von Glaubenssystemen oder Religionen nichts aus. Zur abendländischen Geschichte von der griechischen Antike bis in die Gegenwart gehören neben dem Glauben immer auch die Kritik am Glauben und der Zweifel.

 

Heute leben wir speziell in Europa in einer Welt, in der viele grundlegende Fragen durch wissenschaftliche Erklärungsmodelle in Konkurrenz zu den Religionen treten. Und wir haben seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert in allen westeuropäischen Staaten eine politische Tradition der Säkularisierung, die Glaubensfreiheit anerkennt, aber Politik und staatliche Macht nicht durch Glaube und Religion  begründet sehen will. Glaube und Religion ist Privatangelegenheit.

 

Und so existieren in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens - in der Philosophie, in der Wissenschaft, in der Politik, ... - religiöse Positionen neben religionsskeptischen und a-religiösen Positionen. Erkenntnistheoretisch bezeichnet man solche Positionen als Atheismus (Überzeugung, dass es keinen Gott / nichts Göttliches gibt) oder als Agnostizismus (a-gnoscere = Nicht-Wissen; Überzeugung ,dass man über Gott nichts wissen und nichts vernünftiges sagen kann)

 

Es gibt aber auch ziemlich viele Menschen, die ihr Leben zwar nicht mehr an einer bestimmten Religion ausrichten, für die Religion und Glaube aber trotzdem etwas sind, was das Leben bereichert. Sie bleiben z. B. als Taufscheinchristen in der Statistik. Teilweise, weil die großen Feste und Feiern dem Leben einen "guten Rahmen" geben (also weil eine kirchliche Hochzeit schöner als eine nur standesamtliche ist).

 

Es gibt auch viele Menschen, die eine Welt, in der alles auf Wissenschaft und Technologie reduziert ist, als zu "kalt" empfinden; sie haben das Bedürfnis nach Spiritualität und suchen sich - oft in ganz unterschiedlichen Religionen und auf dem Esoterik-Markt - das, was diesem Bedürfnis zu entsprechen scheint: Meditation, schamanistische Rituale, religiöse und quasi-religiöse Symbole, ... Diese Tendenz wird - teilweise etwas despektierlich - als "oberflächliche Patchwork-Religiosität" bezeichnet.  Positiv gesehen zeigt sie aber auch, dass Menschen im Hinblick auf ihre religiösen Bedürfnisse autonomer und selbstbewusster geworden sind.

 

Andererseits gibt es auch Menschen, die wissenschaftlichen Erklärungen mit Skepsis oder sogar mit Ablehnung gegenüberstehen. Sie glauben, dass religiöse Wahrheiten - z. B. weil sie von Gott geoffenbart worden seien - absolut seien. Wissenschaftliche Erkenntnisse dürften deshalb nicht akzeptiert werden, wenn sie in Widerspruch zu religiösen Wahrheiten stehen. Eine solche Position bezeichnet man gemeinhin als Fundamentalismus

 

Wiederum andere Menschen denken, dass Glaube und Wissenschaft sich ähnlich wie zwei unterschiedliche Sprachen oder Denksysteme verhalten. Dieser Position zufolge sind religiöse Ideen - vielleicht ähnlich wie literarische Texte oder Bilder - Bezugspunkte, die uns helfen, über uns selbst und die Welt nachzudenken. Ebensowenig, wie es Sinn macht, nach einer Geburtsurkunde für Harry Potter zu suchen, macht es demzufolge Sinn, nach wissenschaftlichen Beweisen für die Existenz von Adam und Eva zu forschen. Trotzdem können wir aus den Geschichten, die von ihnen erzählen, vieles über uns selbst lernen. Eine solche Position könnte man als religiös-säkularen Dualismus bezeichnen.  


Literatur und Links

  • Rentschler, R/Könneker C.: Sinn und Unsinn des Glaubens. Interview  / Kontroverse Diskussion zwischen dem Evolutionsbiologen und Religionsskeptiker Franz Wuketits und dem Theologen Richard Schröder. In "Gehirn und Geist" 4/2009, S. 42 bis 46
  • Tapp, Christian: Vernunft und Glaube. In "Gehirn und Geist" 1/2012, S. 56 bis 63 (Online-Version)
  • Blume, Michael: "Homo Religiosus". In "Gehirn und Geist" 4/2009, S. 32 bis 41
  • de Botton, Alain: "Religion für Atheisten. Vom Nutzen der Religion für das Leben", Frankfurt: S. Fischer 2012
  • Müller H.P.: "Säkularisierung und die Rückkehr der Religion?", bpp, online
  • Youtube-Video: Religionskritik im Überblick
  • Disput Berlin: Ohne Religion wäre die Welt besser dran. Debatte über Problematik und  Nutzen von Religion in der modernen Welt