Grundparadigmen im Umgang mit Menschen mit Behinderung

So vielschichtig wie die Ursachen für Behinderungen (genetisch, durch Krankheit erworben, durch Unfälle erworben, als Sekundärfolgen von Krankheiten, altersbedingt, …) und die Formen von Behinderungen sind, so unterschiedlich sind auch Fragen und Aspekte einer Gleichbehandlung von Menschen mit Behinderung. Außer Diskussion steht: Menschen mit Behinderung haben einen Anspruch auf rechtliche Gleichbehandlung. Inwiefern diese Gleichbehandlung eines besonderen Schutzes und besonderer Förderung bedarf, lässt sich nur im Einzelfall diskutieren.

 

Insgesamt lässt sich seit Anfang der 90er-Jahre in Mitteleuropa ein Trend beobachten, der seine Wurzeln in den USA – wo Menschen mit Behinderungen durch den „Disability-Act“ rechtlich seit den 70er-Jahren wesentliche besser geschützt sind als in Europa – hat. Dieser führt zu einem „Paradigmenwechsel“ in der Diskussion um Rechte von Menschen mit Behinderungen.

 

Als zentrale Eckpfeiler könnte man vier Tendenzen beschreiben:

 

Paradigmenwechsel 1: Nicht die gute oder sogar perfekte Betreuung in gesonderten Einrichtungen, sondern die Integration in die Gesellschaft als Ziel.

 

Menschen mit Behinderungen sollen einen selbstverständlichen Platz in der Gesellschaft haben. Sie sollen nicht ausgesondert und gesondert betreut werden. Zentrale Zielsetzungen sind zum Biespiel schulische Integration, Integration in normale Arbeitsstrukturen und Prozesse, …

 

Als diskriminierend empfunden wird es, wenn ….

  • es Schulen und Universitäten gibt, die nicht barrierefrei zugänglich sind
  • Menschen mit Behinderung stark überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen sind
  • Menschen mit Behinderung einen Arbeitsplatz mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht erreichen können, obwohl dies grundsätzlich möglich wäre
  • immer noch viele Firmen lieber eine Ausgleichstaxe zahlen, als einen Menschen mit einer Behinderung einzustellen

 

Als Fortschritt wird gewertet, dass

  • es 1997 ein Diskrimnierungsverbot von Menschen mit Behinderungen in der Verfassung gibt
  • es seit 2006 ein Behindertengleichstellungsgesetz und eine Gleichstellungsanwaltschaft gibt
  • es einen Rechtsanspruch auf schulische Integration gibt
  • es inzwischen viele Modelle der Arbeitsassistenz gibt (z. B. in Vorarlberg: Spagat)
  • es viele Modelle der beruflichen Qualifizierung von Menschen mit Behinderungen gibt, die das Ziel haben, sie in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren (z. B. in Vorarlberg: Spagat)

 

 

Paradigmenwechsel 2: Nicht die optimale Betreuung, sondern ein selbständiges und selbst bestimmtes Leben ist das Ziel

 

Es ist ein Grundbedürfnis und ein Grundrecht von Menschen, selbstbestimmt und selbstständig leben zu können. Das gilt – so weit möglich – auch für Menschen mit Behinderungen. Natürlich können Menschen mit einer Behinderung – je nach Art dieser Behinderung – vielleicht nie vollkommen selbstständig und eigenverantwortlich leben. Aber es soll nicht so sein, dass eine mögliche Selbständigkeit / Eigenverantwortlichkeit an fehlenden äußeren Rahmenbedingungen / Strukturen scheitert. Ansätze sind Forderungen nach Barrierefreiheit, persönliche Assistenzleistungen, ….

 

Als diskriminierend kritisiert wird, wenn

  • Menschen in Heimen sich an Regeln anpassen müssen, die nicht ihren Bedürfnissen, sondern organisatorischen Anforderungen entsprechen
  • Menschen für ihre Arbeit ein „Taschengeld“ anstelle eines Gehalts erhalten
  • Menschen in Heimen untergebracht werden, wenn es auch andere Möglichkeiten, die mehr Selbständigkeit ermöglichen, gäbe (z. B. Wohngemeinschaften)
  • Ampeln nicht mit akustischen Signalen ausgestattet sind
  • Gehsteigkanten nicht abgeschrägt sind
  • nur Treppen und keine Rampen / Lifte als Zugang vorhanden sind
  • Toilettenanlagen nicht den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung entsprechen
  • Menschen in ein Heim eingewiesen werden, weil ihnen die finanziellen Mittel für Assistenzleistungen fehlen
  • RohlstuhlfahrerInnen keine Platz in normalen Waggons finden
  • RollstuhlfahrerInnen in Busse und Züge nicht einsteigen können

 

 

Paradigmenwechsel 3: Vom „Mündel“ zum Menschen mit gleichen Menschen-Rechten

 

Der Umgang mit Menschen mit Behinderungen soll nicht auf „Mitleid“ oder christlicher Nächstenliebe, sondern auf verbrieften und einklagbaren Rechten basieren. Dazu zählen Teilhaberechte (z. B. dass Menschen mit Behinderungen in öffentlichen Gremien selbst ihre Interessen vertreten, …)

 

Als diskriminierend empfunden wird so, wenn

  • Wahllokale, Gemeindeämter, Sitzungssäle, … so ausgestattet sind, dass Menschen mit Behinderung ihre politischen Rechte (aktives und passives Wahlrecht) nicht wahrnehmen können
  • der ORF als öffentlich-rechtlicher Sender Informationssendungen und Nachrichten nur ungenügend untertitelt und wenn die Gebärdensprache im ORF fast nicht angewendet wird
  • Tageszeitungen, Informationsbroschüren, amtliche Formulare, … für blinde und sehbehinderte Menschen nicht zugänglich sind
  • auf die Bedürfnisse von sehbehinderten Menschen bei der Gestaltung von  Internetseiten keine Rücksicht genommen wird
  • Menschen mit einer Behinderung grundlegende Rechte abgesprochen werden
  • viel zu wenig Menschen mit einer Behinderung in Parteien und Organisationen ihre Interessen selbst wahrnehmen können

 

Als Fortschritt wird gewertet, dass

  • Mit dem Pflegegeld eine soziale Grundsicherung für Menschen mit Behinderung gegeben ist (auch wenn der Begriff kritisiert wird / kritisiert wird)
  • Mit dem Unterbringungsgesetz von 1990 rechtlich sicher gestellt wird, dass Menschen mit psychischen Krankheiten / Behinderungen nicht ohne Zustimmung behandelt werden dürfen und nicht gegen ihren Willen in Anstalten eingesperrt werden dürfen;
  • seit 1997 ein Diskriminierungsverbot in der Verfassung festgeschrieben ist
  • die Gebärdensprache seit 2005 als Sprache anerkannt ist (Kommunikation auf Ämtern, in Bildungseinrichtungen, …

 

Paradigmenwechsel 4: Imagekorrektur vom „armen Hascherl“ zum „erwachsenen Menschen mit einer Behinderung“

 

Viele Menschen haben ein Bild im Kopf, wonach Menschen mit Behinderung „arme und hilfsbedürftige Hascherln“ sind, die Mitleid verdienen und bemitleidet werden müssen. Dieses Bild wird nicht selten durch Medienberichterstattung zusätzlich verstärkt.

 

Als diskriminierend empfunden wird, wenn

 

  • Menschen mit Behinderung auf ihre Behinderung reduziert werden („die Behinderten“ anstatt „Menschen mit einer Behinderung“
  • Menschen mit Behinderung nicht wie andere erwachsene Menschen behandelt werden (z. B. mit „du“ und dem Vornamen angesprochen werden)
  • Menschen mit Behinderungen in den Medien nicht oder nur auf ihre Behinderung reduziert vorkommen; weshalb kann ein Mensch im Rollstuhl oder ein Mensch mit einer Sinnesbehinderung z. B. kein Arzt sein? (als vorbildhaft: „Lindenstraße“)
  • Diskriminierende Begriffe verwendet werden („taubstumm“ anstatt „gehörlos“; „an den Rollstuhl gefesselt“)
  • Menschen mit Behinderungen als „arme Hascherln“ dargestellt werden // an das Mitleid von Menschen appelliert wird („Licht ins Dunkel“)

Arbeitsaufgaben

A1: Erkläre, ob und inwiefern die vier Paradigmen im Dokumentarfilm über Alison Lapper als Thema / Folie im Hintergrund eine Rolle spielen. Wo und inwiefern geht es um Inklusion (Integration)? Wo und inwiefern geht es um Autonomie und ein selbstbestimmtes / selbstgestaltetes Leben? Wo und inwiefern geht es um Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und Rechtsansprüche? Wo und inwiefern geht es um die Bekämpfung von "Diskriminierung in den Köpfen" und "Begegnung auf Augenhöhe"? Mache einen tabellarischen Überblick. 

 

A2: Stell dir vor, du wärst als Sachverständige(r) beauftragt, zu hinterfragen, ob und inwiefern unsere Schule den Ansprüchen auf Nicht-Diskriminierung gerecht wird. Welche Vorschläge zur Verbesserung würdest du auf den vier paradigmatischen Ebenen (Teilhabe, Autonomie und Selbstbestimmung, gleiche Rechte, Begegnung auf Augenhöhe) machen? Wo gibt es nach deiner Meinung den größten Handlungsbedarf? 

 

A3: Stell dir vor, in die 3. Klasse soll ein Kind mit einer Sinnesbehinderung (Sehen, Hören) aufgenommen werden. Ein Teil der Eltern und der LehrerInnen meldet Bedenken und Vorbehalte an. Sie meinen, das Kind wäre in einer Sonderschule besser "aufgehoben". Außerdem bestehe die Gefahr, dass das Kind von seinen Mitschülern gemobbt würde. Als Anti-Diskriminierungsbeauftragte ist es deine Aufgabe, den Eltern und LehrerInnen, die Bedenken äußern, klar zu machen, dass es in Widerspruch zum Gleichheitsprinzip - also eine Form der Diskriminierung - wäre, wenn dem Kind ein Platz an der Schule verweigert wird. Wie argumentierst du? 

 

A4: Reflektiere, ob und inwiefern die Werbekampagne für "Licht ins Dunkel" aus Sicht von Kritikern diskriminierend sein könnte. Berücksichtige auch, was in den "Inserts" als Kritik angemerkt ist. Was wäre aus deiner Sicht eine adäquatere und weniger diskriminierende Bild-Sprache bzw. Botschaft? Wie bewertest du Aktionen wie "Licht ins Dunkel"? Schau dich auch auf der Webseite von "Licht ins Dunkel" um und reflektiere, ob und inwiefern die Präsentation der Forderung nach "Begegnung auf Augenhöhe" und nach Rechtsgleichheit anstatt Mitleid genügt. 

A5: Das folgende Plakat gehört zur Kampagne, die "Aktion Mensch" 2012 zum Thema Nicht-Diskriminierung macht. Analysiere das Plakat im Hinblick auf Bildsprache und Botschaft. Reflektiere, ob und inwiefern es dem Anspruch, Diskriminerung in den Köpfen entgegenzuwirken, genügt. Besuche die Webseite von "Aktion Mensch". Vergleiche die Webseite mit der von "Licht ins Dunkel"

Internetquellen und Links