Beispiel: Der Fall S. B.

Der Fall S. B.

 


Gedankenexperiment: Stelle dir einen Menschen vor, der als Kleinkind erblindet ist. Im Alter von zirka 50 kann er sich einer Operation unterziehen, durch die er wieder sehen kann. Wie geht es diesem Menschen nach der Operation deiner Meinung nach? Wird er die Welt ähnlich wahrnehmen wie Menschen, die immer gesehen haben? Wird er als sehender Mensch glücklicher sein als als blinder Mensch?

Formuliere zu diesen Fragestellungen ein paar Gedanken!


Eine der berühmten Fallgeschichten in der Psychologie ist der Fall S. B.

Sidney Bradford wird im Jahr 1906 geboren. Im Alter von 10 Monaten erblindet er. Er führt trotz seiner Blindheit ein aktives Leben. Mit 52 Jahren erhält er die Möglichkeit, durch eine Augenoperation wieder sehen zu können.

 

Richard Gregory, der in Cambridge Psychologie unterrichtet, beschäftigt sich in der Folge intensiv mit Sidney Bradford. Sehr schnell stellt sich heraus, dass die Operation vom medizinischen Gesichtspunkt aus gelungen ist: Die biologische Sehfähigkeit ist wieder hergestellt worden. Aber trotzdem kann S. B. nicht sehen, zumindest nicht auf eine ähnliche Art wie Menschen, die immer gesehen haben. Beispielsweise kann er Figuren auf Litfass-Säulen nicht von lebenden Menschen unterscheiden. Er kann Entfernungen und Größenverhältnisse nicht einschätzen. Er fühlt sich durch die Fülle optischer Reize meistens völlig überfordert und kann optische Reize nicht "filtern". Vor allem aber stellt sich heraus, dass er sich die Welt als blinder Mensch viel bunter und farbiger vorgestgellt hat, als sie ihm nach seiner Operation erscheint. Er hat das Gefühl, in einer durch und durch grauen Welt zu leben.

 

R. Gregory schreibt über S. B.: 

"Es handelt sich um einen 52jährigen Mann. Als er blind war, war er ein aktiver und intelligenter Mann, der sogar Fahrradtouren machte. Sein Freund führte ihn dabei an der Schulter. Den weißen Blindenstock ließ er oft zuhause, weshalb er manchmal gegen ein parkendes Auto oder einen abgestellten Lieferwagen stieß, wobei er sich gelegentlich verletzte. Er bastelte gern mit einfachen Werkzeugen in seinem Gartenschuppen. Sein ganzes Leben lang versuchte er, sich die Welt vorzustellen, wie sie einem Sehtüchtigen erscheint. Er wusch seines Schwagers Auto und versuchte dabei, sich dessen Form möglichst wirklichkeitsnah einzuprägen. Er sehnte sich nach dem Tag, an dem er sehen könnte, obgleich seine Augen zunächst als hoffnungslos aufgegeben wurden. Kein Chirurg wollte riskieren, eine spendende Hornhaut zu verschwenden. Aber schließlich wurde die Operation doch versucht, und sie gelang. [...] Als er das Krankenhaus verließ, nahmen wir ihn nach London mit und zeigten ihm viele Dinge, die er auch vom Berühren her nicht kannte. Er wurde dabei seltsamerweise sehr mutlos. Im Zoo konnte er die meisten Tiere genau benennen, da er Haustiere gestreichelt und sich erkundigt hatte, wie sich andere Tiere von den Katzen und Hunden, die er vom Berühren her kannte, unterschieden. Außerdem war er auch vertraut mit Spieltieren und Tierfiguren. Er gebrauchte sicherlich seine früheren Tasterfahrungen und Beschreibungen sehender Menschen, um gesehene Objekte zu benennen. Und er tat dies überwiegend dadurch, dass er nach ihren charakteristischen Merkmalen suchte. Doch er fand die Welt eintönig und war beunruhigt durch abblätternde Farben und Flecken an den Dingen. Er liebte helle Farben und wurde niedergeschlagen, wenn ihre Helligkeit verblasste. Seine Aktivitäten ließen immer mehr nach und er wurde schwer depressiv."
  (Quelle: Gregory R.: Auge und Gehirn; München 1966)

 

 

Zum Weiterdenken und Weiter-Recherchieren

A1W: Beschreibe, worum es im Fall SB geht. 

 

A2W/R:  Was könnten die Gründe dafür sein, dass S. B. die Welt nach seiner Operation nicht wie ein Mensch erlebt, der immer gesehen hat? Was könnte der Grund dafür sein, dass es ihm nach der Operation psychisch eher schlechter als zuvor geht? (m: Erkläre [mithilfe der unterschiedlichen Ebenen von Wahrnehmung, warum die Wiederherstellung der körperlichen Sehfäigkeit nicht genügt, damit SB "normal" sehen kann.]

 

A3T: Mit dem Cochlea-Implantat gibt es eine Möglichkeit, Menschen, die gehörlos zur Welt gekommen sind, das Hören zu ermöglichen. Was müssten Ärzte und betroffene Menschen wissen und berücksichtigen, bevor sie sich für eine operative Herstellung der Hörfähgikeit mit einem Cochlea-Implantat entscheiden? 

 

Eine BBC-Radiosendung zum Fall S. B. (Titel: "The Man who was disappointed with what he saw"). Die Sendung zum Nachhören findest du hier. (Allerdings auf Englisch)

 

Grundlegende Informationen zum Cochlea-Implantat findest du z. B. hier (Wikipedia, guter Artikel, auch kritische Aspekte sind angeführt) oder hier (österreichische Schwerhörigen-Selbsthilfe)