Worum geht es im Fall Daschner?

Am 27.9.2002 wird der Jakob von Metzler, Sohn eines Bankers, entführt. Im Zuge der Ermittlungen wurde Magnus Gäfgen festgenommen. Er gestand die Tat, war aber nicht bereit, den Aufenthaltsort des Kindes zu verraten und berief sich auf sein Recht zu schweigen.

 

Der Polizeipräsident Daschner steht unter enormen Zeit- und Entscheidungsdruck und beschließt durch den ihm untergebenen Kriminalhauptkommissar Ennigkeit unmittelbaren Zwang anzudrohen. Ennigkeit drohte Gäfgen mit „Schmerzen, wie er sie noch nie erlebt hatte“. Daraufhin verriet Gäfgen den Aufenthaltsort des Jungen, doch die Beamten konnten ihn nur noch tot auffinden, was Gäfgen vorher schon wusste. Daschner war sich im Klaren, dass sein Verhalten rechtswidrig war und machte selbst einen Aktenvermerk, welcher der Anstoß zu einem Strafverfahren gegen ihn und Ennigkeit war.

 

Schlussendlich wird Daschner vom Dienst suspendiert und strafrechtlich belangt. Er wird wegen Nötigung in einem besonders schweren Fall rechtskräftig verurteilt. Bemerkenswert ist, dass das Gericht mit einer Geldstrafe von 10000 Euro unter der gesetzlichen Mindeststrafe (einer unbedingten Gefängnisstrafe) bleibt. Staatsanwalt und Daschner nehmen das erstinstanzliche Urteil an.

 

 

Gäfgen ist zwischenzeitlich rechtskräftig verurteilt. Er setzt sein Jus-Studium im Gefängnis fort und ficht das Urteil beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg an und bekommt 2012 teilweise recht. 

Warum wird Daschner zum Angeklagten? Um welche Grundwerte geht es?

Grundwert der Menschenwürde: Deutsches Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.  Menschenwürde als absolute Pflicht, die körperliche und psychische Integrität zu verletzen. Folter ist per definitionem Integritätsverletzung à absolutes Folterverbot; Menschenwürde als Verbot, den Menschen als Mittel zum Zweck zu benutzen à Foltern, um das Leben eines Kindes zu retten bedeutet Güterabwägung; der absolute Anspruch auf Menschenwürde (Prinzip der Unveräußerlichkeit) verbietet aber genau diese Güterabwägung

 

Absolutheit der Menschenwürde / der fundamentalen Menschenrechte: Das Prinzip der Gültigkeit der Menschenwürde ist absolut; deshalb gilt es auch für den (vermutlichen) Kindesentführer Gäfgen

 

Grundwert Rechtsstaat: Staatsorgane haben den gesetzlichen Auftrag, das staatliche Recht zu schützen und durchzusetzen; deshalb dürfen gerade sie nicht gegen geltendes Recht verstoßen bzw. sich über das Recht stellen;

 

Grundwert Rechtsstaat: Als Tatverdächtiger befindet sich Gäfgen in Gewahrsam des Staates; gerade aus diesem Grund gilt für ihn eine besondere Fürsorgepflicht des Staates; als Tatverdächtige hat er Rechte (z. B. das Recht auf Aussageverweigerung); wenn er schweigt, macht er von diesem Recht Gebrauch

 

Grundwert Menschenleben: Es geht darum, das Leben eines entführten Kindes, das sich in einer Notsituation befindet, zu retten. Wichtig ist in diesem Zusammenhang nicht der objektive Sachverhalt (also die Tatsache, dass das Kind vom Entführer getötet worden ist), sondern der subjektive Wissensstand der ermittelnden Beamten.)

 

Die ethische bzw. rechtsphilosophische Debatte

Ist es gerechtfertigt (oder schwächer: akzeptabel, entschuldbar), unmittelbaren Zwang anzuwenden?

 

Oder anders formuliert: 

 

Ist es gerechtfertigt (oder schwächer: akzeptabel, entschuldbar), Gäfgen Folter anzudrohen, damit er sagt, wo sich das entführte Kind befindet? 

 

Pro

Contra

·         Nothilfesituation -> gilt solange bis die bedrohte Person (in dem Fall das Kind) ihre Freiheit wieder erlangt hat

 

·         Weil der Tatverdächtige Gäfgen selbst bestimmt, wann die Situation endet, indem er redet

·         Daschner bezieht sich auf den Fall Dennis aus Bremen, wo unmittelbarer Zwang angewendet wurde und das Kind dadurch gerettet wurde; möglicherweise / wahrscheinlich wäre Daschner nicht angeklagt worden, wenn das Kind lebend gefunden worden wäre (rechtlich in Ordnung wäre sein Verhalten aber dennoch nicht gewesen)

 

·         Daschners Handeln ist im Einzelfall verständlich -> Das Leben des Kindes hat Vorrang vor der Menschenwürde des Täters

 

·         Daschner handelt nicht aus einem Motiv des Machtgewinns heraus. Das unterscheidet die Folterandrohung von „normaler“ Folter, in der es darum geht, den Willen eines Menschen zu brechen um staatliche Machtansprüche durchzusetzen.

·         Ab dem Zeitpunkt der Festnahme haben die Beamten eine Fürsorgepflicht für Gäfgen

 

·         Der Tatverdächtige hat das Recht die Aussage zu verweigern

 

·         Folterandrohung / Folter widerspricht dem Prinzip der Menschenwürde. Menschenwürde ist ein absolutes Prinzip und kein Abwägungsprinzip. Eine Güterabwägung ist nicht erlaubt. Auch nicht im Einzelfall oder im Notfall. (vgl. Gedankeexperiment Flugzeugentführung) 

 

·         Die UN-Anti-Folter-Konvention verbietet Folter absolut und unter allen Umständen. Die BRD hat die Anti-Folter-Konvention ratifizert. Sie bekennt sich damit zu einem absoluten Folterverbot. Daschner bricht durch die Folterandrohung also geltendes Recht und geltende Menschenrechts-Verträge. 

 

·         Daschner nimmt das Gesetz in die eigene Hand -> Er stellt sich über geltendes Recht. Gerade für Staatsbeamte ist das unentschuldbar. Denn sie repräsentieren den Rechtsstaat. 

 

·         Die Grenzen staatlicher Machtausübung müssen eingehalten werden/ rechtsstaatliche Prinzipien müssen gültig bleiben

 

·         Wenn man mit Folter beginnt muss man damit fortfahren. Wenn man Folter in einem Einzelfall duldet, wird man über kurz oder lang einen zweiten, dritten, vierten Einzelfall finden. Das Prinzip erodiert (Schwellenargument, Argument der schiefen Ebene, Türöffner-Argument) 

 

·         Gäfgen ist Tatverdächtiger, nicht Täter. Bis zu einer rechtsgültigen Verurteilung gilt für ihn die Unschuldsvermutung.