Die erkenntnistheoretische Wende der Neuzeit

die Wurzeln des modernen wissenschaftlichen Denkens ...

Wie wir gesehen haben, beginnt mit den Vorsokratikern die rein diesseitige Diskussion der Frage nach der Wirklichkeit. Ihre Theorien zeigen unterschiedliche Grundannahmen im Hinblick auf die Frage, was der Ursprung des Seins, und damit die eigentliche Wirklichkeit, sei. Allerdings fragen sich die Vorsokratiker noch nicht, ob und auf welchem Weg es überhaupt möglich sei, etwas über die Wirklichkeit herauszufinden.

 

Die Frage nach der Erkenntnis gerät erst mit den Sophisten ins Zentrum. Während zum Beispiel Protagoras und Xenophon die Möglichkeit, zu sicherer Erkenntnis zu gelangen, prinzipiell bezweifeln - und damit einen skeptischen Ansatz vertreten - glaubt Platon, dass es zumindest den Philosophen möglich sei, die Welt der schattenhaften Erscheinungen zu verlassen und zur wahren Erkenntnis der Ideen zu gelangen. Im Höhlengleichnis taucht zum ersten Mal eine ausdrückliche Diskussion erkenntnistheoretischer Natur auf.

 

Die Vorstellung, dass wir uns der Wirklichkeit über Erfahrung und Vernunft - also das, was in den letzten paar hundert Jahren zu einem gigantischen Erfolg der Erfahrungswissenschaften geführt hat - zumindest annähern können, ist für uns heute so selbstverständlich, dass wir uns kaum vorstellen können, dass dies einmal nicht so gewesen sein könnte. Trotzdem: Gerade diese Vorstellung ist eigentlich eine sehr junge und ganz und gar nicht selbstverständliche. Sie kennzeichnet im Wesentlichen die Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit.

 

Dass gerade dieser Grundansatz heute teilweise wieder in Frage gestellt wird, könnte darauf hindeuten, dass wir uns wieder einem fundamentalen Epochen-Übergang - ähnlich dem zwischen Mittelalter und Neuzeit - nähern. Ob das tatsächlich so ist, werden aber erst die Generationen nach uns entscheiden können. 


der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit als paradigmatische Wende. Der Anfang der modernen Erkenntnistheorie ...

Ebstorfer Weltkarte: Das Weltbild im Mittelalter kennt keine Trennung von Mythos und Logos und keine Trennung von Diesseits und Jenseits.
Ebstorfer Weltkarte: Das Weltbild im Mittelalter kennt keine Trennung von Mythos und Logos und keine Trennung von Diesseits und Jenseits.
Ebstorfer Weltkarte: Gott umfasst die Welt
Ebstorfer Weltkarte: Gott umfasst die Welt

Die mittelalterliche Vorstellung dessen, wie wir zu Erkenntnis gelangen können, unterscheidet sich fundamental von der uns so vertrauten Vorstellung, über Sinneserfahrung und Verstand zu einem stimmigen Bild der Realität gelangen zu können.

 

Zwar knüpft auch die mittelalterliche Philosophie - vor allem die so genannte Scholastik, als deren wichtigster Vertreter Thomas von Aquin (1225 - 1774) gilt - an die griechische Philosophie an. Allerdings haben Philosophen des Mittelalters einen ganz anderen Zugang dazu als wir heute. 

 

Zentrales Kennzeichen der mittelalterlichen Philosophie ist der unhinterfragte Glaube an Autoritäten, allem voran natürlich die Autorität der Bibel, knapp gefolgt von griechischen Autoritäten wie den Philosophen Platon und Aristoteles oder dem Astronomen Ptolemäus. Die Vernunft braucht man, um Glaubenswahrheiten auszulegen und zu interpretieren und um Widersprüche zwischen einzelnen Autoritäten auszubügeln. Sie darf aber niemals gebraucht werden, um die Aussagen von Autoritäten, vor allem der Bibel, in Frage zu stellen. Eine von diesen Autoritäten unabhängige Vernunft hat ebenso wenig eine Chance wie die Sinneserfahrung, auf die sowieso kein großer Wert gelegt wird.

 

So ist es im mittelalterlichen Denken selbstverständlich, die Bibel zu befragen, wenn es um die Frage geht, wie die Welt aufgebaut ist, woher sie kommt, wohin sie geht, welche Stellung der Mensch im Rahmen der "Schöpfung" hat usw. Das können wir zum Beispiel sehen, wenn wir mittelalterliche Weltkarten betrachten. Eines der berühmtesten Beispiele ist die Ebstorfer Weltkarte.  Diesseitiges wie Berge, Flüsse und Städte stehen gleichrangig neben Mythischem wie dem Paradies im Osten oder dem Turm von Babel oder der Arche Noah; Jerusalem wird als die Mitte der Welt gesehen; die ganze Welt wird von Gott gehalten usw.

               

Durch die Entdeckung neuer Kontinente, von denen weder Aristoteles noch die Bibel irgendetwas geahnt haben, vor allem aber durch Entdeckungen von Astronomen wie Kopernikus, Galilei oder Kepler gerät dieses Weltbild aber ins Wanken. Die römische Kirche fürchtet - mit Recht - um ihr Monopol auf Wirklichkeitsdeutung. Nachzuvollziehen ist dieser Konflikt vielfach. Literarisch bearbeitet wurde dieser Konflikt z. B. von Bert Brecht in "Leben des Galilei" oder von Umberto Eco in "Der Name der Rose".

 

Eine Gegenbewegung zum mittelalterlichen Scholastik ist auch die Mystik (myein = griech.: "die Augen und den Mund schließen), die den Weg zur Erkenntnis über meditative Übungen sucht und somit einen ganzheitlichen, nicht vom Verstand geleiteten erkenntnistheoretischen Ansatz versucht. Bekannteste Mystikerin ist Hildegard von Bingen. Die mystischen Übungen dürften teilweise zu ähnlichen Erfahrungen wie unter psychogen wirkenden Drogen geführt haben. Ähnliche Ansätze gibt es in vielen Religionen, vor allem auch in der asiatischen Philosophie bzw. Religion.

 

Die Krise des mittelalterlichen Modells der Erkenntnisgewinnung führt zu Versuchen, Alternativen zur autoritären Begründung von Erkenntnis zu finden. Seit dem 17. Jahrhundert kristallisieren sich zwei zunächst voneinander getrennte Wege heraus: Nur über den Verstand kann ich Wirklichkeit erkennen, sagen die Rationalisten (ratio = lat.: Vernunft, Verstand), allen voran Rene Descartes. Nur über die Sinneserfahrung kann ich die Wirklichkeit erkennen, sagen die Empiristen (empirikos = griech: erfahrungsbedingt), beispielsweise John Locke und David Hume. Immanuel Kant führt beide Positionen zusammen.

 

Eine Wissenschaft, so wie wir sie heute für selbstverständlich erachten, wäre ohne diese Ansätze niemals möglich geworden. Während viele Denker bis ins 20. Jahrhundert davon ausgehen, dass der wissenschaftliche Blick auf die Welt und die Veränderungen in der Welt, die durch diese Erkenntnisse erst möglich geworden sind, die Welt zum Positiven verändern kann, dominieren seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts eher wissenschafts-skeptische Positionen.

 

Einerseits sprengen vor allem Erkenntnisse in der Physik um 1900 (Relativitätstheorie, Quantenphysik) die klassischen Vorstellungen in Bezug auf unsere Fähigkeit, Wirklichkeit zu erkennen. Zum anderen führen die negativen Folgen der wissenschaftlichen und technischen Veränderungen im 20. Jahrhundert dazu, dass man versucht, den klassischen wissenschaftlichen Ansatz wieder um emotionale und vor allem ethische Elemente - beides liegt außerhalb des neuzeitlich-wissenschaftlichen Modells - zu erweitern. Anregungen finden PhilosophInnen in der asiatischen Philosophie, in der Kunst, zum Teil auch wieder in der Religion.


Arbeitsaufgaben

A1: Schau dir die Ebstorfer Weltkarte genauer an. Erkläre dann in einem kurzen Statement, was das Denken gebildeter Menschen im Mittelalter kennzeichnet, wie sie sich die Welt vorstellen und woher sie ihr Wissen über die Welt beziehen. Du kannst auch den "Erschaffer" der Ebstorfer Weltkarte, wahrscheinlich ein frommer und gelehrter Mönch, interviewen oder ihn ein Referat oder eine Rede halten lassen. 

A2: Recherchiere den Inhalt zu einem der folgenden Werke:

* "Die Wende" von St. Grennblatt

* "Der Name der Rose" von U. Eco

* "Leben des Galilei" von B. Brecht

Erkläre, inwiefern es in diesen Werken um den Übergang zwischen mittelalterlichem und neuzeitlichem Denken geht. 

A3: Erkläre die folgenden Begriffe kurz mithilfe von Internetquellen: Scholastik, Mystik, Dogmatik, kopernikanische Wende, Rationalismus, Empirismus
A4: Stell dir vor, du würdest wie ein frommer Mensch in einem mittelalterlichen Kloster nichts über neuzeitliche wissenschaftliche Entdeckungen wissen. Die zentrale Wissensquelle wären Autoritäten wie Priester oder die Bibel oder anerkannter Autoritäten. Wie würdest du dir die Welt vorstellen? Wie würdest du dir Krankheiten oder Naturkatastrophen erklären? Was würdest du über die Entstehung der Welt denken? ... Formuliere dazu ein paar Gedanken. 
A5: Es gibt auch heute noch Denksysteme, die glauben, über autoritäre Schriften oder die Lehre von Autoritäten könne man die Wirklichkeit erkennen. Dem wissenschaftlichen Denken begegnet man in diesen Gruppierungen oft mit großem Misstrauen. Was wären dafür Beispiele? Beschreibe eine solche Gruppe und ihr Weltbild näher. 

Literaturquellen und Internettipps