Der Mensch als "Gruppenwesen"

Welche Bedeutung spielen Gruppen für unser Leben? Welche Gruppen?

Beispiel für eine Gruppe: Rotes Kreuz (Ehrenamt)
Beispiel für eine Gruppe: Rotes Kreuz (Ehrenamt)

Die sozialen Gebilde, denen wir uns im Laufe unseres Lebens zugehörig fühlen, nennt die Sozialpsychologie Gruppen; zumindest wenn sie durch eine bestimmte Dauerhaftigkeit und durch eine bestimmte Größe gekennzeichnet sind.

 

Die erste soziale Gruppe, zu der wir gehören, ist die Familie. Sie vermittelt uns materielle und soziale Sicherheit (oder sollte das zumindest leisten). In ihr findet aber auch die fundamentale Sozialisation (das Lernen sozialer Regeln) und Enkulturation (das Lernen zentraler Elemente einer Kulturgemeinschaft, z. B. religiöse Regeln, kulturelle Rituale, Feste, Traditionen, Brauchtum, kollektives Wissen, Kulturtechniken wie z. B. Musikinstrument erlernen, ...) statt. Eltern und ältere Geschwister sind wichtige Vorbilder für Kinder. Geschwister sind wichtige "soziale Sparringpartner", wenn es darum geht, zu lernen sich in Gemeinschaften zu bewegen, sich durchzusetzen, sich einzuordnen, nachzugeben, Regeln auszuverhandeln, Allianzen zu bilden, gemeinsame Ziele zu verfolgen, ... Je nachdem gehören auch andere Personen - zum Beispiel Großeltern, Paten, Onkel oder Tanten, Stiefeltern, ...  - zur Familie. Auch diese erfüllen häufig sehr wichtige soziale Funktionen. 

 

Im Laufe der psychosozialen Entwicklung kommen Gleichaltrigen-Gruppen (Kindergarten, Schule, Hobby) dazu. Im Jugendalter und im frühen Erwachsenenalter ist die so genannte Peer-Group für die psychische Entwicklung oft von großer Bedeutung. Sie beeinflusst Interessen, Werthaltungen, Zukunftsvorstellungen, Hobbys, ... und bildet manchmal auch einen Gegenpol zur familiären Sozialisation. So findet zwischen den Polen Familie und Peer-Gruppe die Festigung der eigenen Identität im Jugendalter statt. Peer-Gruppen können - z. B. wenn in ihnen deviantes Verhalten oder religiöser oder poliltischer Extremismus als positive Normen gesetzt sind - auch wesentlich mitbeeinflussen, dass Jugendliche "auf die schiefe Bahn geraten". 

 

Im Leben vieler Erwachsener spielen auch Gruppen, die einen beruflichen Hintergrund haben, eine wichtige Rolle. Aber auch die Zugehörigkeit zu anderen Gruppen (ehrenamtliches Engagement bei der Feuerwehr, Sportverein, Jass-Runde, ...) ist für viele Erwachsene wichtig. 

 

Sozialpsychologen definieren Gruppen vor allem über ganz bestimmte Merkmale. Dazu gehören vor allem Zugehörigkeit, Interaktion, Homogenität (Gleichförmigkeit) und eine differenzierte soziale Struktur, in der einzelne Mitglieder spezifische Rollen übernehmen. 

Was sind typische Merkmale sozialer Gruppen? (W)

Zugehörigkeit


Von einer Gruppe spricht man erst dann, wenn eine bestimmte Dauerhaftigkjeit besteht. Das setzt voraus, dass die einzelnen Mitglieder sich der Gruppe auch zugehörig fühlen müssen und (idealerweise) ein gewissen Verantwortungsgefühl für das "Funktionieren" dieser Gruppe mitübernehmen. Die Aufnahme in eine Gruppe kann durch einen Formalakt oder durch ein "Aufnahmeritual" sichtbar gemacht werden. Manchmal kommt es auch vor, dass jemand aus einer Gruppe wieder ausgeschlossen wird (z. B. weil er Gruppenregeln nicht beachtet) oder dass er/sie sich selbst von der Gruppe löst (z. B. weil er/sie bestimmte Werthaltungen oder Interessen nicht teilen kann). Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe machen wir manchmal auch durch bestimmte äußere Merkmale (Uniformen, Styling, Accessoirs, ...) sichtbar. Die Gruppenzugehörigkeit bringt Verpflichtungen mit sich: Mitglieder müssen sich den Gruppenregeln unterordnen. Sie müssen ihre eigenen egoistischen Interessen manchmal zugunsten der Gruppeninteressen zurückstellen. Die Gruppenzugehörigkeit bringt aber auch Vorteile und Privilegien. Diese können ideeller Natur sein (Gemeinschaft, Stolz, einer exklusiven Gemeinschaft anzugehören, Privilegien als Gruppenmitglied, Ansehen in der Gesellschaft, ...). Oder sie können sozialer Natur sein (gegenseitige Unterstützung und Solidarität, ...). Manchmal sind sie auch materieller Natur. 

Interaktion

 

Gruppen geben den Mitgliedern viele Möglichkeiten des sozialen Austausches und des sozialen Kontakts. Dazu zählt zum Beispiel, dass in Gruppen Raum und Zeit für gemeinsame Aktivitäten und Kommunikation vorhanden ist. Gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen stärken die Gruppenzusammengehörigkeit, sind aber auch für die einzelnen Mitglieder wertvolle Lernerfahrungen. Soziale Spannungen und Machtkämpfe innerhalb von Gruppen können wichtig für die Weiterentwicklung einer Gruppe sein. Manchmal führen sie aber auch dazu, dass einzelne Mitglieder eine Gruppe verlassen oder dass eine Gruppe überhaupt auseinanderbricht. 

Homogenität (Gleichförmigkeit)

 

Personen, die sich zu einer Gruppe zusammenfinden, haben entweder von Haus aus gemeinsame Werthaltungen und Interessen. Oder sie entwickeln diese im Laufe der Zeit als Folge sozialer Interaktion. 

 

Homogentitätsmerkmale können Äußerlichkeiten sein, beispielsweise ein bestimmtes "Outfit". Oder sie können etwas weniger Sichtbares wie bestimmte ästhetische Vorlieben (Musikgeschmack), bestimmte Werthaltungen (Interesse für Umwelt, soziales Denken) oder bestimmte Neigungen und Interessen (Fußball) sein. In jedem Fall aber binden diese Homogenitäts-Elemente die Gruppenmitglieder an die Gruppe und aneinander (Gruppen-Gefühl, Wir-Gefühl, Korps-Geist, Gemeinschafts-Gefühl). Und sie grenzen die Gruppenmitglieder häufig auch gegen andere Menschen, die eben nicht Mitglieder dieser Gruppe sind und auch nicht sein können oder wollen, ab ("Wir gegen die Anderen"; die "feindliche" Gegenwelt)

Soziale Struktur

 

Mitglieder einer Gruppe übernehmen im Normalfall im Laufe der Zeit bestimmte gruppentypische Rollen. Alle diese Rollen haben eine wichtige Funktion für die Stabilität der Gruppe. Mit diesen Rollen sind ein bestimmter sozialer Status innerhalb der Gruppe, bestimmte Verpflichtungen, teilweise auch bestimmte Privilegien (Vorrechte) verbunden. Typische Rollen sind die des Gruppenleiters / der Gruppenführerin, des Opponenten, des Opportunisten, des Mitläufers, des Außenseiters, des Sündenbocks. 

 

GruppenleiterIn: übernimmt Verantwortung, genießt gewisse Privilegien und v.a. Autorität, hat gruppenstabilisierende Funktion, weil/indem er Mitglieder integriert, Konflikte handelt, ....

OpponentIn/StörerIn/Stinktier: in manchen Gruppen gibt es Personen, die die Position des Gruppenleiters angreifen und dessen/deren Autorität in Frage stellen. Oder sie kritisieren das, was "die Gruppe" plant, ohne selbst konstruktive Gegenvorschläge zu machen. Im Extremfall kommt es zum Machtkampf. 

OpportunistIn: ist in der Gruppe, weil er eigene Vorteile sieht; führt oft zu Konflikten; im Extremfall stellen die anderen Mitglieder die Forderung nach Anpassung oder Ausscheiden

MitläuferIn: ordnet sich in die Gruppe ein, macht mit, entwickelt aber keine eigene Initiative

AußenseiterIn: gehört zur Gruppe, wird aber nicht von allen Gruppenmitglieder akzeptiert; steht in der Gruppenhierarchie unten; seine Vorschläge werden nicht beachtet oder bekämpft

Sündenbock: gehört zur Gruppe, ist in der sozialen Hierarchie wie der Außenseiter ganz unten und wird außerdem von einzelnen Gruppenmitgliedern aktiv bekämpft; oft weicht er in bestimmten für die Gruppe wichtigen Attributen von der Norm ab, ist irgendwie anders; er wird (fälschlicherweise) für Probleme oder Konflikte verantwortlich gemacht. 

Wie entwickeln sich Gruppen typischerweise. Oder die Frage nach der Gruppendynamik?

Gruppen entwickeln sich nach bestimmten Grundmustern (naja: mehr oder weniger. Zumindest können wir uns an den entsprechenden Modellen, die PsychologInnen entwickelt haben. orientieren, wenn wir konkrete Gruppen betrachten). Und Gruppenmitglieder übernehmen bestimmte gruppentypische Grundrollen, die sich Grundtypen zuschreiben lassen. Auch dieses Wissen kann uns helfen, das, was in Gruppen passiert, etwas besser zu verstehen). 

 

Gruppenentwicklung (nach Bruce Tuckman und König / Schattenhofer)

 

Gruppen durchlaufen im prototypischen Normalfall fünf spezifische Phasen: 

Phase 1: Forming: eine Gruppe bildet sich entweder durch äußere Umstände (eine Schulklasse; Mitglieder werden von außen zugeteilt) oder durch einen schleichenden Prozess (von der Freundschaft zur Peergroup) oder durch Gruppengründung (Vereinsgründung, Einladung mitzumachen an bestimmte Personen) 

 

Phase 2: Storming: innerhalb der Gruppe bilden sich soziale Strukturen und ein Gruppengefühl bzw. Gruppenzusammenhalt; einzelne Mitglieder übernehmen spezifische Rollen innerhalb der Gruppe

 

Phase 3: Norming: die Gruppe entwickelt spezifische formelle oder informelle Regeln und Normen, mit denen die Gruppenmitglieder sich identifzieren ("Verhaltenskodex", informelle Regeln, ...

 

Phase 4: Performing: die Gruppe erfüllt eine wichtige Funktion im Leben der Gruppenmitglieder und erfüllt einen bestimmten psychischen / sozialen Zweck

 

Phase 5: Adjourning oder Re-Forming: in der Gruppe entstehen Spannungen und Probleme, zentrale Mitglieder verlassen die Gruppe, wodurch die Gruppendynamik sich stark verändert, die Gruppe gerät sonst aus irgendwelchen Gründen in eine Krise; sie bricht dann entweder auseinander oder sie formt sich neu. Der Prozess beginnt dann wieder von vorne. 

 

Funktionen / Positionen innerhalb von Gruppen (nach Raoul Schindler) 

 

Der Psychologe Raoul Schindler entwickelt das Modell der Rollen innerhalb von Gruppen in eine bestimmte Richtung weiter, indem er Gruppenmitglieder vier bestimmten Grundtypen zuordnet. Diese Positionen sind für die Dynamik innerhalb von Gruppen ganz wichtig. Damit eine Gruppe gut funktioniert, müssen unterschiedliche Rollen besetzt sein. Das Modell orientiert sich an Arbeitsgruppen in Unternehmen, deren MItglieder ein bestimmtes gemeinsames Ziel verfolgen und die konkrete Projekte realisieren müssen. Das Modell lässt sich aber (zumindest in Grundzügen) auch auf andere Gruppensituationen übertragen. 

 

Alpha-Position (AnführerIn): beansprucht/hat/übernimmt die Führungsposition innerhalb der Gruppe; regelt die Abläufe, macht Vorschläge, leitet Kommunikation, vermittelt zwischen unterschiedlichen Perspektiven, kommunziert mit der Außenwelt, "managet" die Gruppe

 

Beta-Position (ExpertIn): hat Autorität aufgrund bestimmter Leistungen und / oder bestimmten Expertenwissens, das die Gruppe braucht; die Beziehung zu Alpha-Mitgliedern ist manchmal spannungsgeladen, vor allem dann, wenn die Alpha-Person die (andere) Autorität der Beta-Person nicht würdigt; oder wenn die Alpha-Person Entscheidungen durchsetzt, die aus Sicht der Beta-Person fachlich falsch sind. Im Extremfall "rebelliert" die Beta-Person gegen die Alpha-Person und versucht einen Putsch. 

 

Gamma-Position (Mitarbeiter): Gamma-Mitglieder sind die einfachen Gruppenmitglieder, die ihre Aufgabe erfüllen, aber keinen besonderen Führungsanspruch erheben. Im Normalfall sind sie dem Alpha-Mitglied gegenüber loyal und unterstützen dessen Ziele. In Konfliktsituaitonen (Alpha/Beta/Gamma-Figuren) geraten sie in einen Loyalitätskonflikt. Wenn der Konflikt andauert, stehen sie massiv unter Spannung und unter Druck. Sie gehen dann entweder in die "innere Emigration" (das heißt, sie ziehen sich zurück und machen "Dienst nach Vorschrift"; "innere Kündigung") oder sie solidarisieren sich mit einer der Figuren. 

 

Omega-Position (StörerIn, SkeptikerIn, KritikerIn, in der destruktiven Form "Stinktier"): Die Omega-Figur greift vor allem die Autorität der Alpha-Figur an. Sie kritisiert ihren Führungsstil und ihre Entscheidungen. Und sie macht auf Fehler, Defizite und mögliche Schwierigkeiten aufmerksam. In einer gut funktionierenden und stabilen Gruppe kann die Omega-Figur eine sehr wichtige und konstruktive Rolle einnehmen, weil sie (frühzeitig) auf blinde Flecken und Fehlentwicklungen aufmerksam macht. In vielen Fällen nimmt die Kritik aber eine nicht-konstruktive Form an, z. B. weil es gar nicht um die Sache, sondern um persönliche Konflikte im Hintergrund geht. 

 

Ob und inwiefern eine Gruppe (Arbeitsteam, Schulklasse) stabil und arbeitsfähig bleibt, hängt vor allem von der Frage ab, wie die anderen Gruppenmitglieder (vor allem die Alpha-Figur!) mit der Omega-Figur umgehen. Im Idealfall wird die Kritik der Omega-Figur aufgenommen und in der Gruppe reflektiert. In der Praxis kommt es aber häufig vor, dass die  anderen Gruppenmitglieder die Omega-Figur aggressiv angreifen und bekämpfen (manchmal auch mobben). Wenn die Omega-Figur die Gruppe verlässt, stabilisiert sich die Gruppe, in der Konflikte nicht offen bearbeitet werden, meistens nur vorübergehend. Und über kurz oder lang rutscht ein anderes Mitglied in die Rolle der bekämpften Omega-Figur.