Familie im Wandel der Zeit

Der Begriff "Familie" kommt vom lateinischen "familia" und bedeutet zunächst einmal Hausgemeinschaft. In diesem Sinn gehör(t)en zu einer Familie alle Menschen, die "unter einem gemeinsamen Dach" leben. Verwandtschaftsverhältnisse sind dafür keine Voraussetzung. 

 

Im Römischen Recht ist der "Pater familias" demzufolge auch "Herr" nicht nur über Frau und Kinder, sondern auch über Hausangestellte, Sklaven etc. 

 

Erst im Laufe der Zeit entsteht die Vorstellung von der Verwandten-Familie. Diesem Verständnis zufolge gehören zu einer Familie die Menschen, die in einem (mehr oder weniger nahen) Verwandtschaftsverhältnis zueinander stehen, also Eltern, Kinder, Enkelkinder, Tanten, Onkeln etc. 

 

Im Laufe des 19. Jahrhunderts setzt sich vor allem im städtischen Bereich die bürgerliche Kernfamilie (Vater, Mutter, mehrere Kinder)  durch, während auf dem Land noch eher die traditionelle Großfamilie, in der mehrere Generationen zusammenleben, weiter dominant bleibt. 

 

Historisch betrachtet ist die Familie zunächst einmal eine Rechtsgemeinschaft. Das heißt, dass die Mitglieder einer Familie gegenseitig durch bestimmte Rechte (z. B. Unterhaltsrecht, Erbrecht, ...) und Pflichten (Erziehungsverpflichtung, Versorgungspflichten) verbunden sind. Der Kern dieses Rechtsverhältnisses sind die Ehe und aus dieser Ehe stammende Kinder (weshalb die Unterscheidung zwischen ehelichen und nicht-ehelichen Kindern z. B. im Erbrecht in der Geschichte auch sehr fundamental war). Die Vorstellung, dass eine Ehe etwas mit zwei Personen zu tun habe, die ineinander verliebt sind oder sich gegenseitig lieben, ist eine relativ junge Vorstellung, die auf die Zeit der Romantik (18./19. Jahrhundert) zurückgeht. Und auch danach bleibt das Ideal einer "Liebesehe" eher auf bestimmte soziale Nischen beschränkt. Bis ins 20. Jahrhundert hinein ist es viel eher üblich, dass Ehen aus "Vernunftgründen" geschlossen werden. Dazu zählen vor allem wirtschaftliche Interessen, aber auch die Tatsache, dass man noch bis weit ins 20. Jahrhundert in vielen Milieus "heiraten muss", um der Schande, die mit einem unehelichen Kind verbunden wäre, zu entgehen. 

 

Bis in die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts gilt in Österreich im Wesentlichen ein Familienrecht, das auf das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch von 1811 zurückgeht. Der Mann ist das "Oberhaupt der Familie" und Frau und Kinder sind seinen Entscheidungen unterstellt. So darf z. B. der Mann allein den Wohnsitz bestimmen. Frauen dürfen nur mit Zustimmung des Mannes berufstätig sein. Der Mann bestimmt allein über die Ausbildung der Kinder. ...

 

Die Familienrechtsreform der 70er-Jahre (SPÖ-Alleinregierung, Justizminister Broda) setzt in verschiedenen Teilschritten eine rechtliche Gleichheit beider Partner in einer Ehe durch. Außerdem werden uneheliche Kinder rechtlich besser gestellt. 

 

Seit den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts ändert sich außerdem - parallel zu anderen gesellschaftlichen Entwicklungen, z. B. zur Veränderung der Rolle der Frauen in der Gesellschaft und zur Diskussion über Kinderrechte - die soziale Bedeutung von Familie. Die Scheidungsrate nimmt enorm zu, jede dritte Ehe (im städtischen Bereich: jede zweite Ehe) scheitert heute. Viele Paare leben zusammen, ohne dass sie miteinander verheiratet wären. Selten ist es die erste große Liebe auch der Partner fürs Leben, ein Phänomon, wofür ExpertInnen den Begriff der "seriellen Monogamie" oder des "Lebensabschnittspartners" geprägt haben. Neue familiäre Formen (Lebensgemeinschaften, Patchwork-Familien, Alleinerzieher-Familien, Regenbogen-Familien) ergänzen die traditionelle Familie mit zwei Elternteilen und einem oder mehreren Kindern. 

 

Seit den70er-Jahren nimmt die Geburtenrate und damit auch die Anzahl der Kinder in einer Familie stetig ab. Waren in den 60er- oder 70er-Jahren Familien mit drei, vier oder noch mehr Kindern durchaus "normal", leben in der durchschnittlichen Familie heute nur noch ein oder zwei Kinder. Eine Familie, in der mehr als drei Kinder leben, ist inzwischen selten geworden. Dadurch verändert sich auch der Umgang mit Kindern und die Bedeutung, die (die meist wenigen) Kinder in einer Familie haben. 

Funktionen von Familie

Biologische Funktion von Familie

 

Aus biologischer Perspektive betrachtet ist eine Familie zunächst einmal ein sozialer Raum, in dem Kinder in (mehr oder weniger) gesicherten Verhältnissen auf die Welt kommen und aufwachsen können. Aus dieser Perspektive entscheidend ist, dass zu einer Familie mindestens ein Kind und zwei erwachsene Personen - nämlich ein biologischer Vater und eine biologische Mutter - gehören. Evolutionsbiologisch betrachtet geben die biologischen Eltern "ihre Gene" an die nächste Generation weiter und kümmern sich - wie dies bei allen "Nesthockern", insbesondere bei Säugetieren der Fall ist - auch nach der Geburt um ein möglichst gesundes Aufwachsen ihrer Kinder. 

 

Auch biologischer Perspektive betrachtet ist der Mensch ein extremer Nesthocker. Wie kein anderes Lebewesen ist er auf eine lange Zeit sozialer Fürsorge angewiesen, um sich gesund entwickeln zu können. Das ist der "Preis", den wir für unser kompliziertes und unverhältnismäßig großes Gehirn und für unsere "Lernoffenheit" bezahlen. In stabilen sozialen Verhältnissen sind die Chancen für eine Kind, sich gesund entwickeln zu können, ungleich größer als in instabilen Verhältnissen. Die Familie ist aus dieser Perspektive ein soziales System, das Kindern diese Chance bieten soll. 

 

Soziale Funktionen von Familie

 

Aus einem sozialen Blickwinkel betrachtet lässt sich die Aufgabe, Kindern ein "gesundes" Aufwachsen zu ermöglichen, weiter ausdifferenzieren. Nicht zuletzt aufgrund der Vielfalt moderner Lebensformen werden die biologischen Eltern hier häufig durch soziale Eltern (meistens sind es soziale Väter) ergänzt, manchmal auch ersetzt. Dieses Phänomen ist aber keinesfalls neu. Auch früher kam es häufig vor, dass ein biologischer Elternteil zum Beispiel wegen der sehr viel niedrigeren Lebenserwartung "ausfiel" und durch einen sozialen Elternteil (z. B. eine "Stiefmutter") ersetzt wurde. Neben den Eltern spielen heute häufig auch die Großeltern oder andere Verwandte eine wichtige soziale Rolle. Weniger wichtig geworden sind - aufgrund der kleineren Kinderanzahl in den Familien - die Geschwister. Aber in Mehrkind-Familien spielen auch sie eine wichtige Rolle. 

 

Die wichtigste Funktion ist die Sozialisationsfunktion. Unter Sozialisation versteht man den Lernprozess, in dessen Verlauf ein Mensch die zentralen Regeln einer sozialen Gemeinschaft kennen lernt und in dem es lernt, sich in dieser Gemeinschaft zu bewegen. Dazu zählen soziale Regeln (Benimm-Regeln, Regeln, sich anderen Menschen anzunähern, Regeln, die eigenen Interessen zu vertreten; soziale Strukturen wie z. B. eine Zeitstruktur u.a.m). Grundvoraussetzung für eine gelingende Sozialisation ist - wie die Psychologie zeigt - eine sichere soziale Grundbindung (was aber nicht heißt, dass ein Kind mehrere Jahre lang nur von seiner Mutter betreut werden soll). Darauf aufbauend können über eine Balance aus Geborgenheit und Halt einerseits und zunehmend größer werdender Freiheit und Eigenständigkeit die Lernerfahrungen stattfinden, die ein Mensch für eine gesunde Entwicklung der eigenen Persönlichkeit braucht. 

 

Eine weitere wichtige Funktion ist die Kulturationsfunktion. Darunter versteht man den Lernprozess, durch den ein Mensch in die Kultur, in die er hineingeboren worden ist, auch hineinwachsen kann. Dazu gehört, dass ein junger Mensch Grundelemente der eigenen Kultur - aber auch des sozialen Milieus, in dem er aufwächst, oder des Submilieus, in dem die Familie lebt - kennenlernt. Dazu gehören grundlegende Erzählungen (z. B. Märchen), grundlegende Riten und Rituale (z. B. Geburtstag feiern, Gute-Nacht-Geschichte), grundlegende Regeln, die in einer Kultur gelten (z. B. Verhaltensnormen), aber auch grundlegende Weltbilder und Weltdeutungen. Dieser Prozess kann sich (in religiösen Familien) an den "Eckpunkten" einer bestimmten Religion bewegen, er kann sich aber auch an nicht-religiösen Themen orientieren. 

 

Eine weitere Funktion, die Famiien erfüllen, ist die wirtschaftliche Funktion. Darunter versteht man vor allem die materielle Versorgung der Familienmitglieder, die Fürsorge und materielle Absicherung benötigen. In erster Linie sind das natürlich die Kinder. Aber auch ein erkrankter Elternteil oder pflegebedürftige Angehörige können Empfänger materieller und sozialer Fürsorge sein. 

 

Schlussendlich ist auch in der heutigen Zeit die Familie eine Rechtsinstitution. Das heißt, dass an die Familienzugehörigkeit bestimmte rechtliche Attribute geknüpft sind. So wird beispielsweise die Staatsbürgerschaft eines Kindes in Österreich zunächst einmal von der Staatsangehörigkeit seiner Eltern abhängig gemacht. Nur wenn mindestens ein Elternteil die österreichische Staatsbürgerschaft hat, bekommt auch ein Kind automatisch diese Staatsangehörigkeit. Außerdem gibt es ein Grundrecht auf Familienzusammenführung. Wenn also einer der Ehepartner die österreichische Staatsbürgerschaft hat, haben auch der andere Ehepartner und die Kinder eeinen grundsätzlichen Anspruch auf einen Aufenthaltstitel in Österreich, selbst wenn sie Staatsbürger eines Landes (v.a. außerhalb der EU) sind, für die sonst ein solches Aufenthaltsrecht nicht besteht.  Auch andere rechtliche Bestimmungen, beispielsweise das Recht auf Auskunft bei Krankheit oder Unfall oder das Zeugnisverweigerungsrecht vor Gericht,  sind an die Familienzugehörigkeit gebunden.

 

Der Tatsache, dass es immer mehr Paare gibt, die mit oder ohne gemeinsame Kinder ohne Trauschein zusammen leben, trägt der Gesetzgeber insofern Rechnung, als dass Paare in Lebensgemeinschaft einem verheirateten Paar heute in vielen Bereichen gleichgestellt sind (Partnerschaftsgesetz, eingetragene Partnerschaft bei gleichgeschlechtlichen Paaren). Der österreichische Staat geht im Unterschied zu anderen europäischen Staaten allerdings nicht so weit, Familie nicht mehr vom (Ehe)paar aus, sondern von der Fürsorgeverfplichtung für ein Kind her zu definieren. Deshalb gibt es zum Beispiel nach wie vor Unterschiede in der rechtlichen Bewertung im Adiptionsrecht, nach dem nach wie vor grundsätzlich nur Ehepaare in Österreich iein Kind adoptieren können. 

Arbeitsaufgaben

A1: Fasse zentrale Aussagen des Textes in einem Mindmap zusammen. Verwende folgende Hauptäste: Begriff Familie, Familie im geschichtlichen Wandel, biologische Aufgaben, soziale Aufgaben (Sozialisation, Kulturation, wirtschaftliche Funktion), Rechtliches

 

A2: Es gibt heute ganz unterschiedliche Familienformen. Erkläre die folgenden Begriffe und erkläre, inwiefern diese Familienformen heute eine Rolle spielen: 

  • Großfamilie, Mehr-Generationen-Familie
  • Kleinfamilie
  • Patchwork-Familie
  • Alleinerzieher-Familie, Ein-Eltern-Familie
  • Regenbogen-Familie

A3: Familien haben sich in den letzten 100 Jahren sehr stark verändert. Stelle "prototypische" eine bürgerliche Großfamilie oder eine bäuerliche Familie aus der ersten Hälfte des 20. Jh. einer modernen Familie gegenüber. Suche dazu zwei (oder mehr) Fotos im Internet. Kommentiere diese Fotos. Du kannst auch deine eigene Familie als Beispiel für eine moderne Familie nehmen und diese mit der Familie, in der ein Großeltern-Teil aufgewachsen ist, vergleichen. Eventuell musst du Oma oder Opa dazu befragen.

 

Reflektiere auch, welchen Einfluss folgende Faktoren auf die Veränderung der Familie gehabt haben: 

  • Bildung, Mädchen und Frauen sind heute sehr viel gebildeter als vor 100 Jahren
  • rechtliche Gleichstellung von Männern und Frauen
  • freierer Umgang mit Sexualität
  • Berufswelt
  • Zugang zu sicheren Empfängnisverhütungsmitteln (Pille!); Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in den 70er-Jahren des 20. Jh.
  • Betonung der individuellen Freiheit

A4: In den letzten Jahrzehnten haben die Scheidungszahlen extrem zugenommen. Heute wird in Österreich fast jede zweite Ehe wieder geschieden, im städtischen Bereich ist es jede zweite Ehe. Welche Ursachen hat dieses Phänomen? Welche Folgen hat es für die von Scheidung betroffenen Kinder? Findest du, dass Kinder unter der Scheidung/Trennung ihrer Eltern leiden? Inwiefern? Was ist wichtig, damit Kinder gegebenenfalls eine Scheidung gut verarbeiten können? Hast du selbst Erfahrungen mit Scheidungen (eigene Betroffenheit, FreundInnen)? Wenn ja: Welche Tipps würdest du Eltern geben? Welche Tipps würdest du einem Freund / einer Freundin geben, deren Eltern sich gerade trennen? 

 


Internetlinks