Einzelfallstudien in der neurologischen Forschung

Der Fall Phineas Gage

Im Sommer 1848 erleidet ein junger Mann namens Phineas P. Gage einen schweren Arbeitsunfall, bei dem eine Eisenstange den Schädelknochen unterhalb des Auges durchbohrt und an der Schädeldecke wieder austritt. Wie ein Wunder überlebt Gage.


Und wie ein Wunder scheinen auf den ersten Blick alle Fähigkeiten intakt geblieben zu sein. Allerdings stellt sich heraus, dass die Persönlichkeit von Gage sich auf markante Weise verändert hat: Denken und Gefühlsleben scheinen vollkommen unabhängig voneinander zu funktionieren. Sehr bewegende Situationen lösen überhaupt keine Gefühlsreaktion aus. Umgekehrt kann es in emotional neutralen Situationen zu Wut- oder Freudenausbrüchen kommen. Überhaupt verflachen sich die emotionalen Reaktionen. Der Gehirn- und Gedächtnisforscher Alberto Damasio beschreibt diesen Zustand so:


"Der auffälligste Aspekt an dieser unerfreulichen Geschichte ist das Missverhältnis zwischen der normalen Persönlichkeitsstruktur, die Gage vor dem Unfall zeigte, und den anderen Persönlichkeitszügen, die danach zutage traten und wohl auch für den Rest seines Lebens erhalten blieben.  ... Nach dem Unfall kümmerten ihn keine sozialen Konvention mehr, er verstieß gegen moralische Prinzipien, [fluchte, beleidigte Leute, hielt Vereinbarungen nicht ein, ... Anm. ME] und traf Entscheidungen, die seinen Interessen zuwiderliefen. .. Er konnte keine vernünftigen Entscheidungen mehr treffen..."


Ein zweiter wichtiger Aspekt in Gages Geschichte ist das Missverhältnis zwischen dem Verfall seines Charakters und der scheinbaren Unversehrtheit zahlreicher geistiger Fähigkeiten – Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Gedächtnis, Sprache, Intelligenz scheinen intakt, aber das Zusammenspiel scheint nicht mehr zu klappen und das, was man als eine "einheitliche Persönlichkeit" empfindet, scheint nicht mehr zu existieren. Gage scheint sich in unterschiedliche Teilpersönlichkeiten mit unterschiedlichen Charakteren aufgelöst zu haben. Neurologen und Psychologen bezeichnen ein solches Zustandsbild, bei dem beispielsweise Verstand und Emotion auseinanderfallen, als Dissoziation 


In Gehirn-Untersuchungen nach dem Tod von Gage  stellt sich heraus, dass durch den Unfall vor allem zwei Gehirnregionen irreversibel beschädigt worden sind: die so genannte Broca-Region (Teil des linken Frontalhirns) und die so genannte ventromediale Region (ventro = Bauch) des linken Stirnlappens. Daraus schließen Neurologen wie Damasio, dass diese beiden Regionen etwas mit der Verbindung von Emotion und intellektuellen kognitiven Fähigkeiten zu tun haben müssen und dass dies wiederum eine sehr zentrale Voraussetzung für Planungen in die Zukunft darstellt.


Damasio schreibt, "dass die selektiven Schädigungen in den präfrontalen Rindenabschnitten von Phineas Gages Gehirn schuld daran waren, dass er weitgehend die Fähigkeit verloren hatte, seine Zukunft zu planen, sich nach sozialen Regeln zu richten, die er einst gelernt hatte, und die Handlungsabläufe zu wählen, die letztlich für sein Überleben am günstigsten waren."