Soziale Bindungsforschung

Allgemeines (W)

Die Versuche, die Harlow mit seinen Rhesus-Äffchen in den 50er-Jahren gemacht hat, zeigen: höhere Säugetiere - egal ob Rhesus-Äffchen oder Mensch - sind in ihrer Entwicklung auf sozialen Kontakt und soziale Beziehungen angewiesen. Es reicht nicht, die biologischen Bedürfnisse eines Babys zu erfüllen. Es braucht Körperkontakt und Kommunikation, um sich sozial gesund entwickeln zu können. 

 

Es gibt aber auch noch andere Forscher, die sich mit der Bedeutung sozialer Beziehungen und sozialer Bindung für die Entwicklung von Menschen auseinandergesetzt haben. Am bekanntesten sind Rene Spitz mit seiner Hospitalismusforschung (Feldforschung) und John Bowlby und Mary Ainsworth, die auf der Grundlage vieler Experimente und Feldbeobachtungen eine komplexe Bindungstheorie entwickelt haben. 

Hospitalismusforschung von Rene Spitz (W)

Heimunterbringung von Kindern
Heimunterbringung von Kindern

Begriff Hospitalismus

Hospitalismus (Hospital = Krankenhaus) ist ein Begriff für psychische und körperliche Schäden und Defizite, die Kinder entwickeln, wenn sie über längere Zeit in Krankenhäusern oder Heimen untergebracht sind, wo sie zwar körperlich versorgt werden, aber kaum persönliche Zuwendung erfahren und wo ihnen vor allem die Beziehung zu einer konstanten Bezugsperson fehlt.

 

Früher wurde bei der Heimunterbringung von Kindern oder bei längeren Krankenhausaufenthalten auf die psychischen Bedürfnisse von Kindern kaum geachtet. Wechselndes Pfegepersonal, das "seinen Job erledigt", aber aufgrund der Arbeitsstruktur nicht in der Lage ist, eine persönliche Beziehung zu den untergebrachten Kindern aufzubauen, war die Regel. Vor allem der Psychanalytiker René A. Spitz hat in den 20er- und 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts in Feldstudien untersucht, wie sich eine solche Unterbringung auf die psychische Entwicklung von Kindern auswirkt.

 

Die typische Reaktion, die Kinder entwickeln, die unter solchen Bedingungen aufwachsen, nennt man auch anaklitische Depression (anaklitisch: von griech.: anaklinein = sich anlehnen können). Betroffene Kinder bleiben fast allen Entwicklungsbereichen, beispielsweise in ihrer Intelligenzentwicklung und in ihrer sprachlichen Entwicklung weit hinter ihren eigenen biologischen Möglichkeiten zurück. Außerdem entwickeln sie soziale Defizite wie autistische Symptome, das heißt, sie nehmen nach einer bestimmten Zeit keinen Kontakt mit anderen Menschen mehr auf und ziehen sich mehr oder weniger vollständig zurück. Auch in der motorischen Entwicklung bleiben sie zurück. Sehr typisch sind auch sehr monotone, immer wieder durchgeführte Bewegungen, z. B. Schaukebewegungen.

 

Die Psychologie geht heute auch davon aus, dass schwere soziale Defizite im Erwachsenenalter, also zum Beispiel fehlende Empathiefähigkeit (Empathie = Einfühlungsvermögen), d. i. die fehlende Fähigkeit, sich in die Erfahrungs- und Erlebenswelt eines anderen Menschen hineinzufühlen, häufig auf Hospitalisierungserfahrungen in den ersten Lebensjahren zurückzuführen sind.

 

Bhospitalisiertes Kindesonders dramatisch sind Hospitalisierungssymptome bei Kindern, die auch auf einer anderen Ebene beeinträchtigt sind, z. B. weil sie körperlich krank sind oder eine angeborene oder erworbene Behinderung haben.

 

Ähnliche Hopsitalisierungs-Symptome wie Heimkinder entwickeln auch Kinder, die zwar in einer Familie aufwachsen, die dort aber - aus welchen Gründen auch immer - kaum Ansprache oder Zuwendung erfahren.

 

Je jünger das Kind ist, das unter solchen Zuständen aufwachsen muss, und je länger es unter solchen Umständen leben muss, desto schwerer und unkorrigierbarer sind meistens auch die Symptome, die es entwickelt.

 

Heute versucht man in den Ländern, in denen es ein gut ausgebautes Gesundheits- und Sozialsystem gibt, bei Krankenhausaufenthalten von Kindern darauf zu achten, dass eine Bezugsperson des Kindes mit im Krankenhaus anwesend sein oder zumindest in intensivem Kontakt mit dem Kind sein kann. Wenn Kinder vorübergehend oder auf Dauer fremduntergebracht werden können, versucht man familienähnliche Strukturen (Pflegefamilien, Wohnheime mit wenigen, aber konstanten Pflegepersonen) herzustellen, um Hospitalisierungserscheinungen möglichst zu vermeiden. Trotzdem gibt es auch bei uns noch heimuntergebrachte Kinder, die solche Symptome entwickeln. Vor allem aber aus Ländern wie beispielsweise Rumänien oder Bulgarien oder aus außereuropäischen Staaten kennt man immer noch sehr viele erschreckende Schicksale von Kindern, die als Folge von Heimunterbringungen schwere psychische Schädigungen aufweisen.

 

Manchmal spricht man anstatt von Hospitalismus auch von Deprivationsstörung. (Deprivation = Reizentzug, Isolation, Vernachlässigung)

 

Hospitalismusforschung René Spitz

 

Renè Arpas Spitz (1887 bis 1974) stammt aus einer ungarisch-jüdischen Familie. Er wächst teilweise in Ungarn, teilweise in Wien auf, macht ein Medizinstudium und in Wien eine Ausbildung als Psychoanalytiker. Unter dem Einfluss von Sigmund Freuds Tochter Anna Freud interessiert er sich vor allem für die so genannte Kinder-Psychoanalyse. Nach der erzwungenen Emigration in die USA arbeitet er als Psychoanalytiker und Forscher u.a. in unterschiedlichen Kinderkrankenhäusern.

 

Schon vor der Zeit, als Harlow mit seinen Rhesus-Affen-Versuchen beginnt, beschäftigt auch Spitz sich intensiv mit der Frage, wie sich die frühe Trennung von Kindern von ihren Müttern, die ja im Normalfall deren zentrale Bezugspersonen sind, auf die körperliche und psychische Entwicklung auswirkt. Am Anfang steht dabei (angeblich, die Quellen sind schwer recherchierbar) eine zufällige Beobachtung, die Spitz in einem Heim macht, in dem neben Kindern auch psychisch kranke Frauen untergebracht sind. Er beobachtet, dass ein Teil dieser Frauen Kinder aus der Kinderstation quasi "adoptiert" haben, während andere Kinder nur von professionellen Pflegerinnen betreut werden. Bei genauerem Hinsehen entdeckt er, dass die Kinder, die eine persönliche Bezugsperson in Form einer psychisch oder geistig behinderten Frau gefunden haben, sich in fast allen Bereichen wesentlich besser und "gesunder" entwickeln als die Kinder, die keine solche Bezugsperson haben. Da die meisten dieser Frauen "ihre" Kinder intellektuell kaum fördern können, schließt er, dass es vor allem die emotionale Zuwendung und die Aufmerkamkeit für die positive Entwicklung dieser Kinder ausschlaggebend sind.

 

Die erschütternden Filme, die Rene Spitz vom Leben von Heimkindern anfertigt und veröffentlicht lösen in den USA eine heftige Debatte über die gesellschaftliche Verantwortung für die Erziehung von Kindern aus.