Grundfragen der Erkenntnistheorie

Erkenntnistheorie ist eine philosophische Grundrichtung, die der Kantschen Frage "Was kann ich wissen?" folgt. Sie fragt also ...

 

... nach den Wegen, auf denen wir Wirklichkeit erkennen können

 

Heute erscheint es den meisten Menschen als selbstverständlich, dass wir über die Sinneserfahrung (kombiniert mit Rationalität) etwas über die Wirklichkeit erkennen können. Das hat damit zu tun, dass genau dieser Weg höchst erfolgreich von den Erfahrungswissenschaften, v. a. von den Naturwissenschaften, beschritten worden ist. 

 

So mag es uns auf den ersten Blick eigenartig erscheinen, dass genau dies keineswegs zu allen Zeiten so gesehen worden ist. Wie wir schon gesehen haben, legen speziell die "alten Griechen" überhaupt keinen großen Wert auf die Sinneserfahrung, weil sie davon ausgehen, dass die Sinne uns täuschen können und wir uns daher nicht auf sie verlassen können. Großen Wert legen sie hingegen auf die Vernunft (zu der ja beispielsweise die Logik) gehört. 

 

Im Mittelalter kommt eine völlig neue, den Griechen fremde Idee im Hinblick auf die Erkenntnisgewinnung hinzu: die Idee, man könne einfach bei Autoritäten, die die Wahrheit kennen, nachlesen. Allenfalls brauche man die Logik, um Widersprüchlichkeiten zwischen diesen Aussagen aufzulösen oder - wenn dies geht - zumindest zu glätten. Die zentralen Autoritäten sind die Bibel und ein paar griechische Gelehrte, vor allem der Philosoph Aristoteles. 

 

Daneben gibt es im Mittelalter - wie in vielen Kulturen - Richtungen, die sich den Weg zur Erkenntnis völlig anders vorstellen, wie beispielsweise die Mystik. MystikerInnen - eine Verkitschungs- und Vermarktungsorgie muss derzeit die bekannteste Mystikerin, die arme Hildegard von Bingen, über sich ergehen lassen - gehören zu einer christlichen Sondergruppierung, die glaubt, die Wahrheit nicht über den Kopf, sondern über das Herz erkennen zu können. Innere Versenkung, Gebet, Meditation sei der Weg, auf dem Wahrheit erkennbar sei. Problem ist allerdings, dass eine solchermaßen erkannte Wahrheit anderen nur schwer mitteilbar ist, sodass vielleicht Wege zu mystischer Erkenntnis, aber nicht ihre Inhalte mitgeteilt werden können. 

 

... nach den Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit: 

 

Lange Zeit ist man mehr oder weniger selbstverständlich davon ausgegangen, dass es uns Menschen möglich ist, zu erkennen, was "wirklich" ist. Erst relativ spät - genauer: mit den Sophisten - tauchen in der Philosophie Aussagen auf, die daran Zweifel erkennen lassen.

 

Manche Sophisten gehen hier sehr radikal vor. Denken wir beispielsweise an die folgende Aussage, die Gorgias zugeschrieben wird:  

"1. Es existiert nichts

2. Wenn etwas existierte, könnten wir es nicht erkennen

3. Wenn wir es erkennen könnten, könnten wir es nicht mitteilen"

 

Gorgias bezweifelt also genau die auf den ersten Blick logische, auf den zweiten Blick aber ziemlich naive Grundannahme, dass das, was wir für wirklich halten, auch tatsächlich der Wirklichkeit entspricht. So kommen sie und alle anderen, die sich auf solche "Denkspiele" einlassen zu skeptischen oder gar nihilistischen (lat. nihil = nichts) Positionen. 

 

Auch Platon formuliert in seinem berühmten Höhlengleichnis in der "Politeia" die Vorstellung, dass das, was die meisten Menschen für wirklich (real) halten, nur Schattenabbilder der "eigentlichen" Wirklichkeit seien. Im Unterschied zu radikalen Skeptikern (wie die Sophisten) glaubt er allerdings, dass zumindest Philosophen in der Lage seien, "die Wirklichkeit" zu erkennen. 

 

Im 18. Jahrhundert definiert der deutsche Philosoph Immanuel Kant prinzipielle Grenzen der Erkennbarkeit, die wir nicht überwinden können: Raum, Zeit und Kausalität (Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge) beschreibt er als "angeborene Anschaungsformen des Denkens." Damit meint er, dass unser biologisches Wahrnehmungs- und Denksystem so gestaltet sei, dass wir gar nicht anders können, als die Welt, in der wir leben, in den Kategorien Raum, Zeit, Kausalität zu begreifen. Sie sind sozusagen "in unseren Köpfen" verankert. Und wir werden nie herausfinden, ob und in welcher form es diese Qualitäten auch in der physikalischen Welt gibt. 

 

Insgesamt dominieren aber sehr lange Zeit philosophische Positionen, die davon ausgehen, dass wir die Wirklichkeit erkennen können, "wie sie ist" (was immer das sein soll). Lediglich über die Wege, über die das möglich sein soll, wird gestritten.

 

nach den Gesetzmäßigkeiten des richtigen Denkens (Logik)

 

Die europäische Logik  geht - wie so vieles in unserer Tradition - auf die Entdeckungen der "alten Griechen" zurück. Fundamentale logische Prinzipien zusammengefasst und systematisch dargestellt hat zum ersten Mal Aristoteles. Die aristotelische Logik bleibt denn auch bis ins 20. Jahrhundert konkurrenzlos. In den letzten 100 Jahren sind aber Versuche gestartet worden, die aristotelische Logik zu erweitern oder gar zu überwinden. Fuzzy-Logic, die auf der Wahrscheinlichkeitstheorie beruht und damit nicht mehr an die zwei Wahrheitswerte "wahr" und "falsch" gebunden bleibt, ist ein Beispiel in diesem Zusammenhang.

 

nach der Beziehung zwischen Sprache und Erkenntnis oder Sprache und Wirklichkeit (Sprachphilosophie). 

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kommt es - wie wir schon mehrfach gesehen haben, zu einer Krise in den Wissenschaften, v. a. in der Physik. Unterschiedliche Wissenschaftler und Philosophen suchen nach Lösungsansätzen. Einer dieser Lösungsansätze geht auf die Vertreter des Wiener Kreises (Carnap, Schlick, ...) und Personen in deren Umfeld (vor allem Ludwig Wittgenstein) zurück. Sie gehen davon aus, dass sprachliche Fehler natürlich zu Fehlern in Theorien führen müssen. Daher sei es wichtig, wissenschaftliche Theorien auf mögliche sprachliche Fehler zu untersuchen. Damit wird Sprache (nicht zum ersten Mal, aber zum ersten Mal in einem genuin philosophischen Sinn) zum Gegenstandsbereich der Philosophie. Man nennt dies auch "linguistic turn" in der Philosophie.

 

... nach dem, was Wahrheit überhaupt ist:

 

Die meisten von uns akzeptieren es ohne weiteres Nachdenken, wenn sie hören, es sei wahr, dass die Sonne im Mittelpunkt unseres Sonnensystems stehe, dass dass die Gravitationskraft auf dem Mond ein Sechstel der auf der Gravitationskraft auf der Erde betrage, dass  Atome aus Protonen, Neutronen und Elektronen bestünden, dass die Planeten in ellyptischen Bahnen um die Sonne kreisten, die in einem der beiden Brennpunkte stehe u.s.w. Die meisten von uns würden sich aber ordentlich schwer tun, wenn sie auf die Frage, was es denn nun bedeute, zu sagen, eine Aussage sei wahr, eine Antwort geben müssten. "Na, das ist halt von Wissenschaftlern herausgefunden worden" oder "das hat man halt bewiesen" würden wir sagen. Damit kann sich aber die Philosophie nicht zufrieden geben, weil es viele Bereiche gibt, wo eine Person A behauptet, etwas sei "wahr" oder "bewiesen", während eine Person B. genau das Gegenteil behauptet. Vor allem in den so genannten Grenzgebieten der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen. Beispielsweise können wir an die Homöopathie ("Wirksamkeit bewiesen", behauptet Arzt C, "pseudowissenschaftlicher Blödsinn", sagt Arzt D), an die Frage, ob Elektrosmog, Handymasten, WLan gesundheitsschädlich sei u. a. m. 

 

Durch Diskussionen - z. B. in der Physik zu Beginn des 20. Jahrhunderts - taucht in der Philosophie die Frage auf, was Wahrheit überhaupt sei oder was es bedeute, wenn wir sagen, eine Aussage sei wahr. Ergebnis sind unterschiedliche Wahrheitstheorien, die unterschiedliche Wahrheitsbegriffe "im Hintergrund haben". 

 

... nach dem, was eine Wissenschaft kennzeichnet und eine Wissenschaft von einer Nicht-Wissenschaft unterscheidet (Wissenschaftstheorie)

 

Dass die Physik eine Wissenschaft ist, wird niemand bestreiten. Es gibt aber auch Disziplinen, wo eine Zuordnung nicht so einfach ist. Das gilt beispielsweise schon einmal für die Theologie (Kann eine Disziplin, die sich mit der Frage nach Gott auseinandersetzt, überhaupt eine Wissenschaft sein?), dann aber auch für verschiedene psychologische Richtungen (beispielsweise für die Psychoanalyse oder für die Analytische Psychologie Jungs) oder für unterschiedliche theoretische Ansätze im Umfeld der Medizin (die Homöopathie haben wir schon erwähnt). Die Frage nach den Grenzen zwischen dem, was Wissenschaft ist und Wissenschaft kennzeichnet, und nicht-wissenschaftlichen Disziplinen (z. B. der Kunst, der Literatur, ...) oder die Frage nach den Grenzen zwischen Wissenschaft und Pseudo-Wissenschaft stehen im Zentrum der Wissenschaftstheorie. Sie führen zu Fragen nach Einteilungsmöglichkeiten von Wissenschaft (Naturwissenschaft - Formalwissenschaft wie Logik oder Mathematik - Geschichtswissenschaft - ...), nach den Minimal-Kriterien, die eine wissenschaftliche Disziplin oder eine wissenschaftliche Theorie erfüllen muss, nach dem Wahrheitsgehalt wissenschaftlicher Theorien etc. 

 

Jede akademische Disziplin hat heute auch ihre ganz spezielle Wissenschaftstheorie. So gibt es zum Beispiel eine eigene Wissenschaftstheorie der Mathematik (die sich mit mathematischen Grenzfällen wie dem Russellschen Paradoxon oder dem Gödelschen Unvollständigkeitssatz auseinandersetzt), eine Wissenschaftstheorie der Physik, eine Wissenschaftstheorie der Medizin etc. 


Arbeitsaufgaben

A1: Verfasse ein Übersichtsblatt (Tabelle, Mindmap) zur Frage: "Was ist Erkenntnistheorie?". Das Blatt sollte folgende Aspekte beinhalten:
* Definition Erkenntnistheorie

* Grundfragen der Erkenntnistheorie im Überblick

* Wichtige Grundrichtungen der Erkenntnistheorie: Rationalismus, Empirismus, Kritizismus,  Skeptizismus, Nihilismus

* Wichtige Begriffe aus dem Kontext der Erkenntnistheorie: Glauben, Wissen, Meinen, Erkennen, Kritik, Skepsis, Wahrheit, Wissenschaft

A2: Eine wichtige moderne Richtung in der Erkenntnistheorie ist die Evolutionäre Erkenntnistheorie. Wer sind Vertreter? Was ist ihr grundlegender Zugang zu Erkenntnistheoretischen Fragen oder Problemen? 
A3: Erkenntnistheorie ist seit dem 20. Jahrhundert vor allem auch Sprachphilosophie bzw. Sprachkritik. Welchen grundlegenden Zusammenhang gibt es zwischen Sprache und Erkenntnis? Wie beeinflusst die Sprache, die wir verwenden, das was wir erkennen (oder nicht erkennen)?
A4: Karl Jaspers definiert das Zweifeln als einen der Ursprünge der Philosophie. Inwiefern ist Zweifeln eine wichtige Grundvoraussetzung für Erkennen? Was wären (historische oder aktuelle) Beispiele dafür, dass Menschen etwas, was den meisten anderen Menschen selbstverständlich erscheint, in Zweifel gezogen haben und dadurch die Welt (zumindest ein kleines bisschen) verändert haben? 
A5: Eine wichtige erkenntnistheoretische Frage ist, ob es Fragen gibt, die sich prinzipiell nicht beantworten lassen. Gibt es deiner Meinung nach prinzipielle Grenzen der Erkennbarkeit? Gibt es nach deiner Überzeugung Phänomene / Fragen / Probleme, die prinzipiell unbeantwortbar sind? Welche? Warum?