Erkenntnistheoretische Ansätze der Neuzeit: Descartes und der Rationalismus

Biographisches und Zeitgeschichtliches

René Descartes oder Cartesius (Bildquelle: Wikipedia)
René Descartes oder Cartesius (Bildquelle: Wikipedia)

Leben

 

Descartes (1596 bis 1650) stammt aus einer altfranzösischen Adelsfamilie; seine Ausbildung erhält er im Jesuitenkolleg von La Fleche, zu dieser Zeit eine der besten Schulen in Europa und vor allem ein Zentrum der mathematischen Bildung. Auf diesen Schulerfahrungen dürfte auch Descartes Vorliebe für Mathematik - v. a. für die Sicherheit, mit der mathematische Rechenoperationen zu wahren Ergebnissen führen - und seine grundlegende Skepsis gegenüber der Erfahrung begründet sein.

 

Descartes Leben pendelt zwischen Perioden eines unsteten und abenteuerlichen Lebens (Descartes beteiligt sich am ausschweifenden gesellschaftlichen Leben von Paris, unternimmt viele Reisen und nimmt am 30jährigen Krieg teil) udn Phasen extremer Zurückgezogenheit.

 

Über 20 Jahre seines Lebens verbringt Descartes im liberalen protestantischen Holland, weil er Angst vor der Inquisition hat.

 

1649 folgt er einer Einladung der schwedischen Königin Christine, die sein Werk gelesen hat,nach Schweden. Wahrscheinlich wegen des ungewohnten Klimas erkrankt er und stirbt kurz darauf an einer Lungenentzündung.

 

 

 Zeitgeschichtlicher Hintergrund

 

Die Zeit, in der Descartes lebt, ist eine Zeit des Übergangs, in der das Alte seine Gültigkeit langsam verliert, das Neue aber noch nicht ausgebildet ist. Die Zeit, in der er lebt, ist aber auch eine Zeit großer sozialer und politischer Unsicherheit. Wichtig sind vor allem  

 

  • das Zerbrechen der christlich-katholischen Glaubensmonopols und die damit verbundene Ambivalenz (Erschütterung über das Zusammenbrechen eines Weltbildes <--> Hoffnung auf Freiheit und Fortschritt)
  • Verteidigung des Macht- und Glaubensmonopols durch die Römische Kirche; Inquisition als Bedrohung für Menschen, die sich von der Kirche emanzipieren; Verurteilung Galileis 1633 als "Schock" 
  • revolutionäre Entdeckungen / Erfindungen in der Astronomie (Kopernikus, Kepler, ...); Entdeckungsfahrten über die Weltmeere mithilfe von Kompass und Sextant; 

Vor diesem Hintergrund ist Descartes verzweifelte Suche nach Klarheit und nach einem sicheren Fixpunkt des Denkens nachvollziehbar

  

Werk

 

  • "Die Welt"; Hauptwerk Descartes, das 1633 fast vollendet ist; als Descartes von der Verurteilung Galileis erfährt, vernichtet er das Werk

  • "Abhandlung über die Methode" (1637); anonym veröffentlicht

  • "Meditationen über die erste Philosophie" (1641); D. versucht darin, die Existenz Gottes zu beweisen und widmet das Buch der theologischen Fakultät der Pariser Universität; trotzdem wird es auf den "Index" gesetzt und sowohl von katholischen als auch evangelischen Theologen als blasphemisch verurteilt. Grund ist der Versuch Galileis, die Existenz Gottes nicht auf Glaubens- sondern auf Verstandesbasis zu stellen; erster methodischer Zweifel an der Existenz Gottes

Textausschnitt: Methoden über die erste Philosophie

Descartes: Meditationen über die erste Philosophie
Descartes: Meditationen über die erste Philosophie

Schon vor Jahren bemerkte ich, wie viel Falsches ich von Jugend auf als wahr hingenommen habe und wie zweifelhaft alles sei, was ich später darauf gründete, darum war ich der Meinung, ich müsse einmal im Leben von Grund auf alles umstürzen und von den ersten Grundlagen an ganz neu anfangen, wenn ich je irgend etwas Festes und Bleibendes in den Wissenschaften aufstellen wollte (...).

Alles nämlich, was ich bis heute als ganz wahr hingenommen habe, empfing ich unmittelbar oder mittelbar von den Sinnen; diese aber habe ich bisweilen bei Täuschungen ertappt, und es ist eine Klugheitsregel, niemals denen volles Vertrauen zu schenken, die uns auch nur ein einziges Mal getäuscht haben. Indessen, wenn uns auch die Sinne zuweilen über kleine und ferner liegende Gegenstände täuschen, so ist doch vielleicht das meiste andere derart, dass ein Zweifel ganz unmöglich ist, wiewohl es auch aus den Sinnen herrührt; so z. B. dass ich hier bin, am Ofen sitze, meinen Winterrock anhabe, dieses Papier hier mit den Händen berühre und dergleichen. Mit welchem Recht könnte ich leugnen, dass diese Hände, dieser ganze Körper mein sind? - Ich müsste mich denn mit gewissen Verrückten vergleichen, deren Gehirn ein hartnäckiger melancholischer Dunst so schwächt, dass sie unbeirrt versichern, sie seien Könige, während sie gänzlich arm sind, oder sie trügen Purpur, während sie nackt sind, oder sie hätten einen Kopf von Ton oder seien ganz Kürbisse oder aus Glas geblasen. Allein das sind Wahnsinnige, und ich würde ebenso verrückt erscheinen, wenn ich auf mich anwenden wollte, was von ihnen gilt.

Trefflich fürwahr! Bin ich denn nicht ein Mensch, der nachts zu schlafen pflegt und dann alles das, und oft noch viel Unglaublicheres, im Traum erlebt wie jene im Wachen? Wie oft aber erst glaube ich nachts im Traum ganz Gewöhnliches zu erleben; ich glaube hier zu sein, den Rock anzuhaben und am Ofen zu sitzen - und dabei liege ich entkleidet im Bett!

Jetzt aber schaue ich sicherlich mit ganz wachen Augen auf dieses Papier. Dieser Kopf, den ich bewege, ist nicht vom Schlaf befangen. Mit Überlegung und Bewusstsein strecke ich diese Hand aus und habe Empfindungen dabei. So deutlich würde ich nichts im Schlaf erleben.

Ja, aber erinnere ich mich denn nicht, dass ich auch schon von ähnlichen Gedanken in Träumen getäuscht worden bin? Während ich aufmerksamer hierüber nachdenke, wird mir ganz klar, dass nie durch sichere Merkmale der Schlaf vom Wachen unterschieden werden kann, und dies macht mich so stutzig, dass ich gerade dadurch fast in der Meinung bestärkt werde, dass ich träume. (...) Ich nehme also an, alles, was ich sehe, sei falsch; ich glaube, dass nichts von alledem jemals existiert habe, was mir mein trügerisches Gedächtnis vorführt. Ich habe überhaupt keine Sinne; Körper, Gestalt, Ausdehnung, Bewegung und Ort sind Chimären. Was soll da noch wahr sein? Vielleicht dies eine, dass es nichts Gewisses gibt?

Aber woher weiß ich, dass es nicht noch etwas von allem bereits Angezweifelten Verschiedenes gibt, das auch nicht die geringste Möglichkeit zu einem Zweifel bietet? Gibt es nicht vielleicht einen Gott, oder wie ich ihn sonst nennen soll, der mir diese Gedanken einflößt? Doch wozu soll ich dergleichen annehmen, da ich wohl auch selbst ihr Urheber sein könnte? So aber wäre doch wenigstens Ich etwas? Allein ich habe ja bereits geleugnet, dass ich irgendwelche Sinne und irgendeinen Körper habe. Doch halt, was folgt denn hieraus? Bin ich denn so sehr an den Körper und die Sinne gebunden, dass ich nicht auch ohne sie sein könnte? Aber ich habe in mir die Annahme gefestigt, es gebe gar nichts in der Welt, keinen Himmel, keine Erde, keine Geister, keinen Körper: also bin doch auch ich nicht da? Nein, ganz gewiss war ich da, wenn ich mich von etwas überzeugt habe.

Aber es gibt doch irgendeinen sehr mächtigen, sehr schlauen Betrüger, der mit Absicht mich immer täuscht; mag er mich nun täuschen, soviel er kann, so wird er doch nie bewirken können, dass ich nicht sei, solange ich denke, ich sei etwas. Nachdem ich so alles genug und übergenug erwogen habe, muss ich schließlich festhalten, dass der Satz "Ich bin, ich existiere", sooft ich ihn ausspreche oder im Geiste auffasse, notwendig wahr sei.


Arbeitsaufgaben zum Text

A1: Welche Frage stellt Descartes? Welche Bedeutung hat diese Frage (auch vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund)
A2: Descartes nennt die Methode, die er anwendet, um seine Frage zu beantworten, "Methode des radikalen Zweifels". Worin besteht diese Methode? 
A3: Welche Antwort findet Descartes mithilfe seiner Methode des radikalen Zweifels? Was hat er mit dieser Antwort "gewonnen"? Was ist von dieser Antwort zu halten?

erster Kommentar zu Descartes Methode und zum Satz: "Ich denke, also bin ich"

zweiter Kommentar zu Descartes Methode und zum Satz: "Ich denke, also bin ich"

Descartes' Idee:

Descartes Grundidee ist folgende: Wenn ich einen absolut sicheren, von niemandem bezweifelbaren (= evidenten) Satz gefunden habe, kann ich aus diesem Satz mit Hilfe logischer Verfahren (genauer: der Deduktion) weitere Sätze ableiten, die ebenso evident sind wie dieser erste Satz. Deshalb macht sich Descartes auf die Suche nach einem solchen Satz. Mit seinem berühmt gewordenen Satz „Cogito ergo sum“ ("Ich denke, also bin ich") glaubt er, diesen evident wahren Satz gefunden zu haben.

 

 

Den Satz "Cogito ergo sum" braucht er als Ausgangsthese für einen deduktiven Schluss (Deduktion: deducere = herausführen; Schluss vom Allgemeinen zum Besonderen). Wenn wir das verstehen wollen, müssen wir einen kleinen Ausflug in die Logik unternehmen:

 

Deduktion als logisches Schlussverfahren

 

Allgemeiner Satz (w):    "Alle Menschen sind sterblich"

Randbedingung (w):      "Sokrates ist ein Mensch"

                               ____________________________

deduktiver Schluss:        "Sokrates ist sterblich."

 

Wenn der Allgemeine Satz und die Randbedingung wahr sind, kann ich mit hundertprozentiger Sicherheit davon ausgehen, dass auch der Schluss "Sokrates ist ein Mensch" wahr sein muss. (Genauso wie ich davon ausgehen kann, dass zwei Äpfel und zwei Äpfel vier Äpfel ergeben, ohne dass ich eigens nachzählen muss).

 

 

Ein analoges Verfahren versucht Descartes. Dafür braucht er den Satz "Cogito ergo sum" als Allgemeinen Satz. Sein Schluss schaut - etwas vereinfacht - folgendermaßen aus:

 

Allgemeiner Satz             "Cogito ergo sum" (= Ich existiere)

Randbedingung                "Alles, was existiert, braucht eine Ursache.

Meine Ursache sind meine Eltern. Deren Ursache sind deren Eltern u.s.w. Allerdings muss diese Ursachenkette einmal einen Anfang genommen haben. Es braucht also eine Ursache, die selbst nicht verursacht ist. Es gibt nur etwas, was Ursache sein kann, selbst aber keine Ursache braucht: Gott

                               _______________________________________________________________________________

deduktiver Schluss         "Gott existiert"

 

Und mit einem bewiesenermaßen existierenden Gott hat Descartes wiederum einen Allgemeinen Satz, mit dessen Hilfe er praktisch auch alles andere logisch messerscharf beweisen kann.  Denn was wäre das für ein Gott, der uns laufend an der Nase herumführte und uns Tiere, Pflanzen, andere Menschen und vieles mehr vorgaukelte, was in Wirklichkeit gar nicht existiert?...

 

 

Kommentar zur Bedeutung Descartes

Descartes Scheitern

 

Aber um es kurz zu machen: So funktioniert das nicht. Zwar mag der Allgemeine Satz "Cogito ergo sum" evident sein. Die Randbedingung (das Argument mit dem ersten Beweger) ist es aber keinesfalls. Die Annahme, es gebe etwas, was Ursache sein könne ohne selbst eine Ursache zu brauchen, ist nicht evidenter als beispielsweise die Annahm eines unendlichen Regresses, also die Annahme, es gehe in alle Ewigkeit so weiter.

 

Descartes scheitert also in seinem Bemühen, zu sicherer Erkenntnis zu gelangen (auch wenn er das selbst wahrscheinlich anders gesehen hätte)

 

Außerdem ist es nicht gerade sinnvoll, auf Sinneserfahrung vollständig verzichten zu wollen, nur weil die Sinne uns - zugegebenermaßen - manchmal täuschen mögen.

 

Descartes Bedeutung

 

Obwohl Descartes Methode nicht funktioniert und er in seinem Bemühen, sichere Erkenntnis zu finden, scheitert, ist das, was sie bewirkt, revolutionär und bis heute bedeutsam:

 

Methodische Offenheit: Descartes verwendet eine offene Methode, die prinzipiell jedem Menschen zugänglich ist. Im Unterschied zur mittelalterlichen an Autoritäten orientierten Erkenntnismethode ist Descartes Methode für jeden offen: jeder Mensch verfügt (zumindest potentiell) über Verstand. Damit ist auch jeder einzelne Mensch für sich selbst in der Lage, nach der Wahrheit zu suchen, ohne auf Autoritäten und damit auf Glauben angewiesen zu sein.

 

Rationale Begründbarkeit: Descartes Aussagen sind rational begründbar, weil sie ohne etwas Übernatürliches und ohne Rekurs auf Autoritäten auskommen. Sowohl Ausgangsthesen als auch Schlussfolgerungen Descartes sind können daher auch einer rationalen Kritik unterzogen werden.

 

Verbindung von Mathematik / Logik und Erfahrungswissen: Eine mittelalterliche Abhandlung über ein physikalisches Phänomen gleicht einer komplexen Erlebniserzählung. Damit bleibt sie in jedem Fall mehrdeutig und interpretationsoffen. Eine wissenschaftliche Diskussion ist auf einer solchen Basis nicht möglich. Erst eine Formalisierung  naturwissenschaftlicher Aussagen (in mathematisierbaren Gesetzen) schafft die Eindeutigkeit, die eine klare Überprüfung zulässt. Diese Formalisierung beginnt mit Descartes.

 

Cartesianische Spaltung: Ob das, was unter "Cartesianischer Spaltung" in die Geschichte der Philosophie eingegangen ist, eher ein Schwachpunkt oder eher eine Stärke ist, lässt sich nicht so eindeutig sagen. Deshalb wollen wir dies unter einem eigenen Punkt abhandeln. 

 Descartes trennt - ähnlich wie Platon - in zwei Seinsbereiche: eine materielle Welt (räumlich, zeitlich, veränderlich), die er RES EXTENSA (= ausgedehnte Sache) nennt und eine nicht-materielle Welt, die RES COGITANS. Ziel jedes Bemühens um Erkenntnis ist es, mithilfe der Res Cogitans etwas über die physikalische Welt, also die materielle Welt, zu erfahren. Descartes zufolge gelingt dies mithilfe der Logik und mithilfe des Mathematik. Damit formuliert Descartes das wissenschaftliche Ideal der Objektivität, das ja bekanntermaßen darin besteht, zu vom Beobachter unabhängigen Erkenntnissen zu gelangen. Wissenschaft wäre ohne dieses Grundprinzip nie möglich geworden.

 

 

Descartes Trennung zwischen Res Cogitans und Res Extensa führt aber auch dazu, dass schrittweise alles aus den Wissenschaften entfernt wird, was sich diesem Erkenntnisideal entzieht, beispielsweise alles Emotionale oder die Ethik. Aus heutiger Sicht ist das in vielen Bereic


  • Wikipedia über René Descartes
  • Wikipedia über den Cartesianischen Dualismus (Res Cogitans - Res Extensa)
  • Blog "Zeit für die Schule" über Rene Descartes (mit Links zu Youtube-Filmen über Descartes Philosophie