Ein Fallbeispiel: Nigel oder die Frage nach den Grenzen der Medizin

Unterrichtseinheit zum Film "Frühchen zwischen Leben und Tod" (Bob Hop)

Die Situation im Hintergrund ...

Bildquelle: Tagesspiegel.de
Bildquelle: Tagesspiegel.de

Der Dokumentar-Film "Frühchen zwischen Leben und Tod" beschreibt die medizinischen und ethischen Heraus­forderun­gen, mit der Ärzte und PflegerInnen im Neonatologie-Zentrum in den Niederlanden (Maastricht) konfrontiert sind.

 

Viele der zu früh (meist ab der 23./24. Schwangerschaftswoche, in extremen Fällen auch ab der 21./22. Schwangerschaftswoche) oder mit Behinderungen / Schädigungen geborenen Kinder können heute mithilfe der Intensivmedizin am Leben gehalten werden. Über 80 Prozent der Kinder, die intensivmedizinisch betreut werden, entwickeln sich später gesund und (fast) unauffällig. Ein  Teil der Kinder überlebt aber auch mit schweren körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen. Ein Teil der Kinder hat trotz intensivmedizinischer Behandlung langfristig kaum Überlebenschancen, sodass die intensivmedizinische Behandlung u. U. nur ein Hinauszögern des unausweichlichen Todes und eine Verlängerung des Leidens bedeutet.

 

Medizinische Möglichkeiten und Grenzen bei extremen Frühchen:

 

  • Extrem früh geborene Kinder zeigen (frühestens) ab der 21./22. Schwangerschaftswoche vitale Zeichen (z. B. Ansätze der Atmung, Reflexe), sodass sich für Ärzte die Frage stellt, ob mithilfe intensiv­medizinischer Therapie eine Behandlung begonnen werden soll. Die Überlebens­chancen zu diesem Zeitpunkt sind aber sehr gering. Ab der 23./24. Schwangerschaftswoche (d.h. ab einem Geburtsgewicht von ca. 500 Gramm) beträgt die Überlebenschance heute etwas 50 Prozent. (Noch vor wenigen Jahren hätten diese Kinder keine Überlebens­chance gehabt). Ab der 28. Schwangerschaftswoche (oder ab einem Geburtsgewicht von ca. 900 Gramm) ist die Überlebenschance heute bei über 90 Prozent.

 

  • Kinder, die sehr viel zu früh geboren werden, haben ein hohes Risiko für Behinderungen, weil das Gehirn, die Lunge und andere Organe zu diesem Zeitraum noch nicht „ausgereift“ sind. Viele Komplikationen, z. B. das Risiko zu erblinden, hat die Neonatologie inzwischen aber recht gut „im Griff“. Die intensivmedizinische Betreuung (Brutkasten) soll ein „Nachreifen“ ermöglichen. Heute geht die Medizin auch davon aus, dass psychische Nähe und Körperkontakt für die Entwicklung von Frühchen sehr wichtig sind. Entsprechend versucht man, den körperlichen Kontakt zu den Eltern zumindest stundenweise zu ermöglichen (Kanguruing).

 

  • Vor allem wenn zusätzliche Komplikationen (Sauerstoffunterversorgung, Infektionen, Gehirnblutungen, …) auftreten, erhöht sich das Risiko, dass das Kind – wenn überhaupt – nur mit schweren Behinderungen überleben können wird. Spätestens an dieser Stelle stellt sich die Frage, ob und unter welchen Bedingungen ein Behandlungsabbruch ethisch vertretbar oder eventuell sogar richtig ist.

 

 

Der Film ...

Nigel wird in der 25. Schwangerschaftswoche geboren.  Er zeigt vitale Zeichen. Die Ärzte beginnen mit der intensivmedizinischen Betreuung. Allerdings steht fest, dass Nigel vor / während der Geburt nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt gewesen ist. Nach der Geburt ist eine Gehirnblutung aufgetreten. Es sind neurologische Schäden vorhanden, deren Dimension und Auswirkungen aber nicht abgeschätzt werden können. Die Lunge ist nicht ausgereift. Außerdem kämpft das Kind mit einer Infektionserkrankung, die die Ärzte nicht in den Griff bekommen


Nigels Eltern sorgen sich, dass das Kind aufgrund der schweren Behinderungen kein lebenswertes Leben haben wird, wenn es überlebt. Sie sagen, dass sie sich ein Leben mit einem schwerstbehinderten Kind nicht vorstellen können.

 

Das behandelnde Pflegeteam überlegt / empfiehlt den Eltern schließlich einen Behandlungsabbruch (Einstellung der Beatmung). Die Eltern willigen ein. Die Beatmung wird eingestellt.

 

Mehrmals wird gesagt, dass Nigel, wenn er überlebt, später kein „lebenswertes“ oder „menschenwürdiges“ Leben haben wird. Es wird aber nicht definiert / erklärt / vertiefend reflektiert, was ein „lebenswertes“ oder „menschenwürdiges“ Leben ausmacht.

 


Die ethische Dimension der Thematik ...

Umgang mit ethischen Konfliktsituationen im Bereich der Neonatologie

 

Grundsätzlich beginnt in Österreich (anders als in den Niederlanden, wo vor der 25. Schwangerschaftswoche geborene Frühchen grundsätzlich nicht behandelt werden) der Schutz des menschlichen Lebens mit der Geburt. Wenn ein Neugeborenes „vitale Zeichen“ zeigt, muss es prinzipiell auch intensivmedizinisch behandelt werden.

 

Ein Behandlungsabbruch ist aber dann möglich bzw. zulässig, wenn „absehbar“ ist, dass das Kind trotz intensivmedizinischer Betreuung kaum Überlebenschancen hat. Denn dann bedeutet die Intensivmedizin nur ein „Hinauszögern“ des Sterbensprozesses und „unnötiges Leid“.


Dazwischen gibt es einen „grauen Bereich“, wo Ärzte / Pflegeteams abschätzen müssen, ob eine Fortsetzung oder ein Abbruch der intensivmedizinischen Behandlung im Einzelfall der ethisch bessere / richtigere Weg ist.

 

Generell haben die meisten Kliniken heute dafür ethische Richtlinien entwickelt, die einen normativen Orientierungsrahmen beschreiben.


Rechtlich entscheidet schlussendlich der behandelnde Arzt / die behandelnde Ärztin über einen eventuellen Therapieabbruch. In vielen Fällen gehen der Entscheidung Teambesprechungen voran, in der alle für die Entscheidung wichtigen Aspekte  besprochen und die jeweiligen Argumente gegeneinander abgewogen werden (v.a. medizinische Prognose, Chancen auf Überleben, Risiken, Situation und Wunsch der Eltern, …)

 

Im Einzelfall kann auch eine Ethikkommission (mit Vertretern aus unterschiedlichen Interessensgruppen, z. B. Juristen, Ethiker, Theologen, Vertreter von Behindertenorganisationen, …) eine Empfehlung aussprechen, die für die entscheidenden Ärzte eine Orientierung sind. 

Diskussion / Arbeitsaufgaben

Die medizinische Entwicklung in den letzten Jahrzehnten hat es möglich gemacht, dass heute extrem früh geborene Kinder (vor der 25. Schwangerschaftswoche) Überlebenschancen haben. Doch an dieser Stelle kommt auch die Ethik ins Spiel. Sie frage, was in Grenzfällen die richtige Entscheidung ist. 

 

A1: Um welche Grundwerte geht es, wenn es um die Frage geht, ob extrem früh geborene Kinder (oder auch Kinder mit schweren Missbildungen) intensivmedizinisch betreut werden sollen und so eine Chance auf  Überlebenbekommen sollen 

 

A2: Wer ist von der Entscheidung grundsätzlich betroffen? 

 

A3: Welche Handlungsalternativen ergeben sich im Fall Nigel? Was könnten ÄrztiInnen tun?

 

A4: Wie / auf welchem Weg können ÄrztInnen im Konfliktfall zu guten Entscheidungen kommen? 



Quellen, Links