„Ohne die bindende Kraft unseres Gedächtnisses würde unser Leben in lauter Einzelmomente ohne Zusammenhang zerfallen. Ohne Gedächtnis gäbe es kein ICH, keine IDENTITÄT.“ Eric Kandel, Gedächtnisforscher

 

Ein Fallbeispiel: Henry G. Molaison. Oder: Wie ein Mensch zum Versuchskaninchen wurde

Henry P. Molaison
Henry P. Molaison

Henry G. Molaison ist 27 Jahre alt und leidet seit geraumer Zeit an starker Epilesie, als er sich im Jahr 1953 mit einer für ihn verhängnisvollen Operation einverstanden erklärt. Am Hartfort Hospital will der Chirurg Wibur B. Scoville durch einen gehirnchirurgischen Eingriff – wie es zu dieser Zeit üblich ist – die epileptischen Anfälle eindämmen.

 

Anders als andere Chirurgen durchtrennt Scoville aber nicht den Balken, also die Verbindung zwischen der rechten und der linken Großhirnrinde, sondern er entfernt Teile des Zwischenhirns, vor allem die so genannten Hippocampi (EZ: Hippocampus = "Seepferdchen"). Nach der Operation stellt sich heraus, dass der Eingriff für H. M. (unter diesem Pseudonym geht er in die Medizin- und Psychologiegeschichte ein) ganz gravierende Folgen hat. Er hat nämlich die Fähigkeit verloren, neue Erfahrungen in seinem Gedächtnis für mehr als ein paar wenige Minuten zu behalten. Alte Erfahrungen aus der Zeit vor der Operation kann H.M. problemlos erinnern. Auch in der unmittelbaren Gegenwart kann er sich orientieren. Aber die Fähigkeit, neue Erfahrungen auf Dauer zu erinnern (heute würden wir sagen: ins Langzeitgedächtnis einzuspeichern) ist ihm bei der Operation amputiert worden.

 

 

Gehirnchirurgische Entfernung des H. bei Molaison
Gehirnchirurgische Entfernung des H. bei Molaison

 

Und damit verliert er auch die Fähigkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und sich in seiner Welt zu orientieren.

 

Wie sich die Zerstörung eines wesentlichen Teils des Gedächtnisses auf die Persönlichkeit und auf das Leben von H. M. auswirkt, dokumentiert in den Jahren danach die Psychologin und Gedächtnisforscherin Brenda Milner. So wird H. M. zu einem der berühmtesten Fallbeispiele in der psychologischen Gedächtnisforschung, was für ihn selbst wohl nur ein schwacher Trost gewesen sein dürfte.

 

Molason stirbt 2008 in einem Pflegeheim. (vgl. Kupferschmidt, 2011; Slater 2005, S 264ff)

 

In diesem Video wird Brenda Millner, die sich als Neuropsychologin intensiv mit H. M. auseinandergesetzt hat, portraitiert. Sie nimmt im Video auch ausführlich zu ihren Forschungen über H. M Stellung. Das Video ist in Englisch. 

Ein zweites Fallbeispiel: Der Fall Benjaman Kyle

Am 31. 8. 2004 wird ein Mann ohne Bekleidung, mit Kopfverletzungen und entzündeten Augen, die ihm das Sehen unmöglich machen, neben einer Steinmauer im US-Bundesstaat Georgia gefunden. Eine Augenoperation macht es möglich, dass er wieder sehen kann. Doch an seine Vorgeschichte kann er sich nicht erinnern. Der Mann nennt sich selbst Benjaman Kyle. 

 

In der Folge bleiben nicht nur alle Bemühungen, durch Medien-Aufrufe und Abgleiche mit Vermissten-Meldungen etwas über seine Vergangenheit herauszufinden erfolglos. Auch alle Versuche, über psychische Methoden wie Hypnose etwas über seine Vergangenheit herauszufinden, scheitern. Allenfalls einzelne Erinnerungs-Bilder tauchen aus seiner Vergangenheit auf. So findet er sich in Restaurants sehr schnell zurecht, was ihn zur Vermutung bringt, er könnte in seinem früheren Leben in diesem Bereich gearbeitet haben. Als größtes Hindernis auf dem Weg zurück in ein Leben mit einer eigenen Identität erweist sich das Problem, dass B. K. keine Sozialversicherungsnummer hat. Ohne diese Nummer bekommt er keinen Aufenthaltstitel, keine Arbeitsgenehmigung, keinen Pass, keinen Führerschein. Für den Staat existiert er nicht. 

 

Nach seinem "Aufwachen" neben der Steinmauer in Georgia funktioniert das Gedächtnis von Benjaman Kyle - mit Einschränkungen - normal. Er kann dadurch eine neue Identität mit einer neuen Geschichte, die allerdings erst im Erwachsenenalter beginnt, aufbauen. Seine erste Identität bleibt bisher im Dunkeln. 

 

Hintergrundinformationen über B. K.: 

 

Ein drittes Fallbeispiel: Das Fallbeispiel Jill Price

Die us-amerikanerin Jill Price verkörpert in gewisser Hinsicht das gegenteilige Extrem zu B. K.: Sie erinnert sich an praktisch jeder Ereignis in ihrem Leben seit ihrer Pubertät. Sie kann also nichts von dem vergessen, was sie jemals erfahren oder erlebt hat. Auch an zeitgeschichtliche Ereignisse, die sich während ihres Lebens zugetragten haben, erinnert sie sich so, als ob keine zeitliche Distanz dazwischen liegen würde. 

 

Das nahezu perfekte Gedächtnis von Jill Price bezieht sich nur auf das so genannte episodische Gedächtnis, also das Gedächtnis-System, über das wir biographische Erinnerungen (vor allem in Form von Bildern oder "Szenen") abspeichern. Ihr so genanntes semantischesGedächtnis, in dem wir Begriffe und Faktenwissen abspeichern, ist lediglich durchschnittlich. Auch ihr prozedurales Gedächntis, in dem Bewegungsabläufe eingespeichert sind, ist durchschnittlich. 

 

Woran es liegt, dass Jill Price nichts vergessen kann, was sie jemals erlebt hat, ist für die Forschung ein Rätsel. 

 

Bevor wir uns jetzt denken, dass das wunderbar ist, sollten wir kurz innehalten. Denn  für Jill Price ist ihr nahezu perfektes biographisches Gedächtnis vor allem eine Belastung. Warum?  

 

(Hintergrundinformationen: Der Spiegel)

Arbeitsaufgaben und Vorüberlegungen

 

A1W: Die folgenden Begriffe stehen in unmittelbarer Beziehung zum Thema Gedächtnis und Erinnern. Lege dazu ein Glossar oder ein MindMap an und kläre diese Begriffe: Amnesie (auch: unterschiedliche Formen von Amnesie), Blackout, Demenz, Flashback, Trigger, Mnemotechnik, Eidetik/eidetisches Gedächtnis.

 

A2W/R: Beschreibe die Fallbeispiele Henry Molaison und Benjaman Kyle. Vergleiche das Schicksal der beiden Personen, die an einer schweren Form der Amnesie leiden. Zeige an beiden Beispielen, warum und inwiefern ein "funktionierendes Gedächtnis" für die eigene Identität und für die aktive Lebensgestaltung fundamental ist. 

 

A3R/T: Wann / in welchen Situationen / in Zusammenhang mit welchen Erkrankungen sind Menschen mit Störungen ihres Gedächtnisses konfrontiert? Wie wirken sich diese Störungen auf ihr Leben / ihre Lebensgestaltung häufig aus? 

 

A4 Z: Auf dieser Internetseite findest du eine Reihe interessanter Artikel zum Thema Gedächtnis und Gedächtnisforschung. Lies einen der Artikel durch und fasse wesentliche Erkenntnisse / Informationen in knapper Form (Exzerpt, MindMap) zusammen. 

 

Download
Arbeitsblatt zur Aufgabe A3: Benjaman Kyle und Henry Molaison
arbeitsblatt_kyle_molaison.docx
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