Die ersten philosophischen Theorien. Und ihre "Ausstrahlung" bis heute ...

Wie wir gesehen haben, lassen die meisten Philosophie-Historiker die Philsopohie mit den Naturphilosophen, die so ab 600 v.u.Z. im griechischen Kulturraum ihre ersten Theorien entwickelt haben, beginnen. Das fundamental Neue an diesen Theorien ist, dass sie (zumindest im Kern) ohne Rückbezüge auf etwas Göttliches oder Übernatürliches auskommen und auf rein diesseitigen Prinzipen aufbauen. Dadurch werden ihre Aussagen auf der Ebene von "wahr" oder "falsch" diskutierbar. Und dadurch entsteht, wie wir sehen werden, eine bis dahin nicht bekannte Dynamik: Durch das systematische Kritisieren und Hinterfragen von Positionen entwickeln sich die Theorien sehr schnell weiter. Und aus den relativ einfachen (um  nicht zu sagen: primitiven) ersten Theorien entstehen innerhalb von gut 100 Jahren sehr komplexe Vorstellungen darüber, woraus "die Wirklichkeit" eigentlich besteht. 

Die Erste Achse: Materie oder Nicht-Materie (Idee)?

Die milesischen Materialisten. Vor allem Thales

Thales von Milet
Thales von Milet

Leben:

Platon zählt Thales zu den sieben Weisen des Altertums. Als einem der sieben Weisen werden ihm verschiedene Aussprüche zugeschrieben werden, z. B. „Erkenne dich selbst“ und „Unmäßigkeit ist schlecht“Um das Leben von Thales ranken sich zahlreiche Anekdoten. So soll er im Jahre 585 v. u. Z. eine Sonnenfinsternis richtig vorausgesagt haben. Eine etwas weniger schmeichelhafte Anekdote besagt, Thales sei einmal, während er die Sterne betrachtet habe, in einen Brunnen vor seiner Nase gefallen und deshalb von einer thrakischen Magd verspottet worden: Er erkenne zwar den Himmel über sich, nicht aber ein Loch vor seinen Füßen. Weiters wird über Thales berichtet, er sei der Erfinder der Spekulation, weil er einmal in Milet alle Ölpressen günstig zusammengekauft und sie dann zur Olivenerntezeit, als in der ganzen Stadt keine Ölpresse zur Verfügung stand, zu Wucherpreisen vermietet habe. Ebenfalls wird berichtet, dass er weite Reisen, unter anderem nach Ägypten, unternommen habe. Dort soll er aus dem Schatten der Pyramiden deren Höhe berechnet haben. Außerdem soll die Ägyptenreise Impuls gewesen sein, den Satz von Thales (Alle Winkel im Halbkreisbogen sind rechte Winkel = Satz von Thales) zu entdecken. Folglich heißt Halbkreis über der Hypothenuse eines rechtwinkligen Dreiecks Thales-Kreis.

 

Thales-Kreis
Thales-Kreis

Lehre: "Wasser ist der Ursprung allen Seins": Thales sieht als Ursprung allen Seins das Wasser. Es ist das eine Prinzip allen Lebens, aus dem alles andere hervorgeht.

 

Erläuterungen dazu: Die Behauptung, dass Wasser der Ursprung allen Seins sein soll, scheint - v. a. für jemanden, der in einer Gegend lebt, in der es nicht jeden Tag regnet - durchaus nahe liegend: Wasser ist die Voraussetzung dafür, dass aus einem Samenkorn ein kleines Pflänzchen wird, Wasser ist die Voraussetzung dafür, dass aus dem Pflänzchen vielleicht einmal ein Olivenbaum werden kann. Ohne Wasser können weder Pflanzen, noch Tiere, noch Menschen überleben. Wasser kann außerdem in unterschiedlichen Formen des Seins (gasförmig, flüssig, fest) auftreten. Also ist sogar die Vermutung, dass Wasser sich auch dort verbirgt, wo wir es auf den ersten Blick nicht vermuten, etwa in Holz oder in Keramik (die ja aus Lehm besteht), nicht so weit hergeholt. Außerdem glauben "die alten Griechen" ja, dass Okeanos, der Ur-Ozean, die gesamte Erde umgibt und dass die Erde auch aus diesem Okeanos entstanden sei. Insofern könnte Wasser für Thales auch eine Art Ur-Substanz sein, aus dem alles Andere entstanden ist.Die Aussage, dass Wasser der Urstoff allen Seins sei, scheint aber auf den ersten Blick nicht wirklich revolutionär zu sein. Sie ist äußerst einfach, um nicht zu sagen: primitiv, und außerdem noch nicht einmal richtig (wenn wir z. B. an Metalle denken). Warum ist sie also so revolutionär, dass wir sagen können, mit ihr beginne die Philosophie?


Das Revolutionäre an dieser Idee ist, dass sie rein diesseitig ist und ohne irgendeine Bezugnahme auf Göttliches auskommt. Dadurch wird sie zu einer rational diskutierbaren These. Und sowohl Schüler des Thales (die sie weiterentwickeln) als auch Gegner des Thales nehmen auf sie Bezug, weisen auf Schwachstellen hin, versuchen ihr mit Gegenthesen gegenüberzutreten. So beginnt ein Diskussionsprozess, an dessen vorläufigem Ende ungefähr 150 Jahre später - wie wir noch sehen werden - ein höchst komplexes Atommodell steht. An dieses - ausschließlich durch Diskussionen entstandene - Modell können die Physiker fast 2500 Jahre später wieder anschließen, als sie beginnen, sich wissenschaftlich mit der Frage nach den kleinsten Teilchen, den Atomen eben, zu beschäftigen.


Typisch griechisch ist der Versuch Thales' alles Sein (und das umfasst tatsächlich alles - unbelebte Natur, Lebewesen, ja sogar Psychisches - auf ein Grundprinzip zurückzuführen. Das ist keineswegs selbstverständlich und hängt mit der griechischen Vorstellung von einem Prinzip (griech: archè) zusammen. Ebenfalls typisch griechisch ist die Vorstellung, alles Sein folge einem bestimmten Ordnungsprinzip (griech: kosmos), das wir mithilfe des Verstandes erkennen könnten.

Im Unterschied zu den so genannten Idealisten (z. B. Pythagoras) setzt Thales einen materiellen Stoff als Ursprung. Daher kann man seine Theorie - ebenso wie die Theorien seiner Schüler Anaximander und Anaximenes als Materialisten bezeichnen.

 

Lehre: "Da alles von den Göttern ist, ist in allem Leben und Seele".

Erläuterung zu dieser These: Diese zweite Thales zugeschriebene Aussage zeigt, dass Thales sich vom Mythischen noch nicht ganz gelöst hat. Nach wie vor bezieht er Göttliches ist seine Aussagen ein. Allerdings hat das Göttliche hier wohl eher erklärende Funktion, es soll zeigen, dass sich im Inneren der materiellen und sinnlich wahrnehmbaren Objekte (Dinge und der Lebewesen) etwas Zweites, Nicht-Sinnliches, "Seelisches" verbirgt, das das Sichtbare jedoch erst zu dem macht, was es an sich ist.

Die Pythagoreer. Vor allem Pythagoras

Pythagoras
Pythagoras

Leben:

Am bekanntesten ist Pythagoras aus heutiger Sicht als Mathematiker, als Entdecker des Pythagoräischen Lehrsatzes (a2 + b2 = c2). Allerdings entdeckt Pythagoras - die Griechen kennen ja die irrationalen Zahlen wie Pi nicht - nur Sonderfälle des Pythagoräischen Lehrsatzes. Eigentlich hätte Pythagoras aber als erster Guru in die Weltgeschichte eingehen müssen. Und wie Gurus so sind, scheint auch Pythagoras ziemlich exzentrisch und ziemlich narzistisch gewesen zu sein. Er stammt ursprünglich aus Samos, verkracht sich aber mit dem dortigen Tyrannen Polykrates und flieht zuerst nach Milet und dann nach Kroton in Unteritalien, wo er seine Fans ums sich schart und mit ihnen in einer Art Sekte zusammenlebt. Nur der innerste Kreis darf an den hehren Erkenntnissen des Pythagoras teilnehmen. Und für seine Jünger stellt Pythagoras eine Reihe von ziemlich eigenartigen Lebensregeln, die er als Guru ja nicht begründen muss, auf. Dazu zählen beispielsweise die Regel, keine Saubohnen zu essen, die Regel, keinen weißen Hahn zu berühren, oder die Regel, nach dem Aufstehen keinen Abdruck im Bett zu hinterlassen. Auch sorgt Pythagoras dafür, dass ihm schon bald übernatürliche Kräfte und Wundertaten zugesprochen werden.

 

Die Heilige Zahl 10
Die Heilige Zahl 10

Lehre: Pythagoras sieht den Grundbaustein der Wirklichkeit in der Zahl Eins. Sie, die alles andere in sich birgt und hervorbringt, ist Ursprung und Wesen der Dinge, der Welt und ihrer Ordnung; alles, was sich erkennen lässt, lässt sich auf eine Zahl zurückführen. Die heiligste Zahl ist die Zahl Eins, denn sie ist der Ursprung allen Seins. Aber auch die Zahlen Zwei, Drei und Vier sind heilige Zahlen. Und aus ihnen entsteht – oh Wunder – die heilige Zahl 10, das göttliche Dreieck.

 

Kommentar dazu: Manche Philosophiehistoriker bezweifeln, dass Pythagoras überhaupt jemals gelebt hat, so legendenhaft ist seine Figur. Tatsache ist aber, dass die Schule der Pythagoräer in Unteritalien viel Einfluss hat und dass viele Ideen Platons pythagoräische Züge tragen. Ebenfalls umstritten ist, ob Pythagoras jetzt eher als Mathematiker, als Philosoph oder als religiöser Spinner zu betrachten sei. Für uns ist wichtig, dass seine Lehre einen wichtigen Gegenpol zu den materialistischen Theorien des Thales und seinen Schülern bildet. Denn die Zahl Eins, die er als  Ursprung des Seins begreift, ist etwas Nicht-Materielles oder Ideelles. Auf den ersten Blick scheint die Idee des Thales vielleicht etwas weit hergeholt zu wirken. Andererseits kennt auch die moderne Physik Nicht-Materielles - denken wir zum Beispiel an Wellen, an Kräfte oder an elektrische Ladungen - als wesentliche Momente der physikalischen Welt. Auch wenn wir über die Frage diskutieren, was Geistiges oder Psychisches sein mag und uns auf das so genannte Leib-Seele-Problem einlassen, werden wir mit Ideen von Nicht-Materiellem als Entitäten konfrontiert. (Von der religiösen Idee eines Schöpfergottes und der Idee einer Seele, die ohne Körper existieren könne, jetzt einmal ganz abgesehen.)


Arbeitsaufgabe

A1: Recherchiere ein paar Daten / Details zu Thales und seinen Schülern und zu Pythagoras und seinen Schülern / Anhängern. 
A2: Stelle die Theorien von Thales und Pythagoras einander in einer Tabelle gegenüber. Kläre in diesem Zusammenhang die Begriffe "Materialismus" und "Idealismus". Orientiere dich an folgenden Fragen / Punkten: 
* Ausgangsfrage / Ausgangsproblem
* zentrale These / Aussage
* Grundprinzip, auf das die These hinausläuft
* moderne Deutungsmöglichkeiten // Veranschaulichungen dieser These / des Grundprinzips (Physik, andere Naturwissenschaften) 
A3: Wer hat Recht: Thales oder Pythagoras? Beziehe Stellung und begründe deine Position. 

Literatur und Internet-Links