Philosophische Ethik. Einstieg

Was ist Ethik?

Ethik lässt sich am besten mit der Kantschen Frage: 

"Was sollen wir tun?" 

umschreiben. Das heißt, es geht dabei nicht nur um Fragen des Erkennens oder des Definierens, also um rein theoretische Fragen. Es geht - zumindest im Wesentlichen - um praktisches Handeln, um Tun. Deshalb bezeichnet man die Ethik manchmal auch als "praktische Philosophie"

 

 

Damit fragen wir ...

 

  • ... nach den Normen, an denen wir uns in unserem Verhalten orientieren sollten. Normen sind allgemeine Handlungsregeln wie z. B. "Du sollst nicht lügen.", "Ich darf andere Menschen nicht schädigen", "Ich muss bei eine Kreuzung bei Rot anhalten."

  • ... nach der Begründung und der Begründbarkeit von Normen. Genau dabei geht es um den Kern philosophischer Ethik. Denn Philosophie erhebt ja den Anspruch, dass Aussagen bestimmten qualitativen Kriterien genügen und rational begründbar sein müssen. Philosophische Ethik stellt also den (durchaus anspruchsvollen) Anspruch, Verfahren zu entwickeln, über die wir ethische Normen begründen können. Sie fragt also: WIE können wir Normen begründen? Dazu gehört natürlich auch die Frage, WARUM wir bestimmte Normen verbindlich einhalten müssen (während andere Normen eine Frage der persönlichen Haltung oder des persönlichen Geschmacks sind)

    Dabei lässt die philosophische Ethik bestimmte Begründungsverfahren, die wir in der Praxis häufig anwenden, nicht gelten. Dazu zählt vor allem die Berufung auf Traditionen ("Das haben wir schon immer so gemacht.", "Das hat sich in der Vergangenheit bewährt."), die Berufung auf die Mehrheit ("Das machen alle so.") oder die Berufung auf Autoritäten ("Gott verlangt das.", "Der Staat schreibt das vor." "Das ist Vorschrift")

    Übrig bleiben dann Begründungsverfahren, die auf bestimmten anerkannten Werten (z. B. Frieden, Menschenwürde, Glück, ...), die wir für wichtig halten, aufbauen. 

  • ... nach den Werten, die bestimmten Normen zu Grunde liegen. 

 

  • ... nach dem ethisch richtigen Handeln in konflikthaften Situationen (Dilemma-Situationen): Ethisch herausfordernd sind vor allem Situationen, in den wir mit Normkonflikten oder mit Wertkonflikten konfrontiert sind. Man nennt solche Situationen ethische Dilemmata (EZ: Dilemma).  Dabei stellt sich die Frage, wie wir Konflikte entscheiden und welche von zwei Handlungsalternativen, die eigentlich (im positiven Sinn) beide gut wären oder die (im negativen Sinn) beide ethisch problematisch sind, wir wählen sollen. Dafür hat die Philosophie unterschiedliche philosophische Handlungstheorien entwickelt. Dazu zählen die deontologischen Theorien (to deon = die Pflicht; am berühmtesten ist die Ethik von Kant mit dem Kategorischen Imperativ im Zentrum). Dazu zählen teleologische Handlungstheorien (telos = Ziel, Zweck), die über die Folgen von Handlungen argumentieren und eine Folgen-Abwägung versuchen. Am bekanntesten ist der ethische  Utilitarismus. Einer der bekanntesten Vertreter des Utilitarismus ist der australische Philosoph Peter Singer. Und dazu zählt als neuerer Ansatz die Diskursethik, die durch den deutschen Philosophen Jürgen Habermas begründet worden ist. 

 

 

Wenn Edward Snowden als Mitarbeiter des US-Geheimdienstes NSA Kenntnis hat von nach seiner Meinung problematischen und rechtlich nicht gedeckter Daten-Schnüffelei, steht er vor einem Handlungs-Dilemma mit zwei Handlungsalternativen: Er kann sein Wissen für sich behalten und schweigen (A1). Oder er kann mit seinem Wissen an die Öffentlichkeit gehen (A2). Wahrscheinlich hat Edward Snowden sich mit der Kantschen Frage: "Was soll ich tun?" konfrontiert gesehen. Vielleicht wäre seine Neigung gewesen, zu schweigen. Denn das wäre vermutlich bequemer gewesen. Er hätte seinen vermutlich gut bezahlten Job behalten. Er hätte viele Menschen, die ihm vertraut haben, nicht enttäuscht. Er hätte sich nicht in Konflikt mit dem Strafrecht gebracht und sich nicht dem Risiko ausgesetzt, in den USA vor Gericht gestellt und zu vielen Jahren Gefängnis verurteilt zu werden. Und vielleicht hat er entgegen seiner Neigung die Pflicht verspürt, sein Wissen zu veröffentlichen; in der Erwartung, dass durch den Druck der Öffentlichkeit der NSA seine Spionage-Praxis ändern muss oder in der Hoffnung dass die Geheimdienst-Tätigkeiten in Zukunft rechtlich klarer geregelt werden oder in der Befürchtung, dass durch die Tätigkeit der NSA Menschen zu Schaden kommen. 

 

Möglicherweise hat Snowden sich in seiner Entscheidung, das Berufsgeheimnis zu verletzen und zum Whistleblower zu werden, von grundlegenden Werten leiten lassen. Das könnten Werte wie Freiheit, Privatsphäre, Primat des Rechts uam. sein. 

 

Vielleicht hat Snwoden im Vorfeld sich mit der Frage auseinandergesetzt, wie sich sein Schritt, die Dokumente zu veröffentlichen, rational begründen und rechtfertigen lasst. Vielleicht hat er sich mögliche positive und negative Folgen überlegt und Risiken abgewogen. Vielleicht hat er sich an grundlegenden Prinzipien wie dem Prinzip, immer die Wahrheit zu sagen oder dem Prinzip, keine Rechtsbrüche zu dulden, orientiert. 


Dann hätte er das gemacht, was Ziel und Anspruch der philosophischen Ethik ist. Er hätte auf der Grundlage philosophischer Reflexion (also Auseinandersetzung mit Werten, Normen, Handlungsprinzipien) in einer ethischen Dilemma-Situation eine Entscheidung getroffen, die er (im ethischen Sinn) für die bessere hält. 

 

Und wir und andere können philosophisch mithilfe von Wert- und Handlungstheorien über die Frage reflektieren  und diskutieren, ob und gegebenenfalls warum diese Entscheidung tatsächlich eine ethisch gute Entscheidung gewesen ist. 

 

So weit, so einfach. Doch es braucht noch ein paar zusätzliche Klarstellungen. 


Ethische und nicht-ethische Normen

Mit Hilfe der Sprache treten wir der Wirklichkeit gegenüber. Die logische Struktur, in der wir das tun, spiegelt sich in der Satzform. Dabei können wir - etwas grob gesagt - zwischen Aussagen (= Urteilen) und anderen Sätzen (z. B. Fragen, Aufforderungen, ...) unterscheiden. Aussagen können wir wiederum in zwei Gruppen unterteilen:

  • In wertfreie deskriptive Aussagen (describere = beschreiben), die sagen, dass etwas der Fall sei. (z. B. "Sokrates lebte in Athen im 4. Jh. vuZ." oder aber auch "Sokrates ist ein Philosoph"). Deskriptive Aussagen liegen auf der Ebene von wahr oder falsch, die wir überprüfen können, indem wir die Realität (in dem Fall: historische Quellen) befragen.  

  • Und in wertende (= normative)  Aussage. Sie geben ein Werturteil über etwas ab. Dieses Werturteil (z. B. "Sokrates ist ein schlechter Philosoph") lässt sich nicht einfach anhand der Erfahrung überprüfen. Aber wir können begründen, warum und ausgehend von welchen Grundannahmen wir zu diesem Werturteil kommen. 

 

zum Vergleich: 

Sätze, die keine Aussagen / Urteile sind. Vor allem Fragen ...

 

  • Ist Sokrates ein Philosoph?

(Entscheidungsfrage: JA / NEIN)


  • Wann lebte Sokrates?
  • Wie starb Sokrates?

(Ergänzungsfragen)

 

 

Fragen lenken die Aufmerksamkeit auf bestimmte thematische Aspekte, sie öffnen Denk- und Diskussionsräume, sie verlangen nach ergänzenden Informationen, ... Aber sie sind keine Aussagen. 


EMPIRISCHE AUSSAGEN / URTEILE

 

  • Sokrates ist eine historische Figur. 
  • Sokrates war mit Xanthippe verheiratet und hatte drei Söhne. 
  • Sokrates wurde wegen Verführung der Jugend zum Tod verurteilt. 
  • Sokrates war ein Schüler von Platon. 

 

empirische Aussagen beschreiben einen Sachverhalt, der sich auf der Ebene von "wahr" oder "falsch" bewegt. Wir können diesen Wahrheitsgehalt im Idealfall auch überprüfen, indem wir Beobachtungen anstellen, Quellen recherchieren, ... 

 

Die zentralen Aussagen der Erfahrungswissenschaften sind empirische Aussagen. 

NORMATIVE AUSSAGEN / URTEILE

 

  • "Sokrates muss zum Tod verurteilt werden!"
  • "Einen Menschen zu töten ist falsch."
  • "Töte nicht!" (eigentlich: "Man darf nicht töten".)
  • "Rechtliche Urteile muss man akzeptieren, auch wenn man sie für falsch hält."


Wichtig für ethische Diskussionen ist auch , dass nur ein Teil der normativen Aussagen auch ethische Aussagen sind. Es gibt außerdem z. B. auch ästhetische normative Aussagen, ökonomische wertende Aussagen, ...

ethische normative Aussagen

 

 

Ethische normative Aussagen formulieren ein Werturteil in einem ethischen oder moralischen Sinn. Das heißt, sie behaupten, dass etwas "gut" oder "böse" bzw. "schlecht" in ethischer / moralischer Hinsicht sei. Zu Begründen, warum und inwiefern das der Fall ist, ist Aufgabe der philosophischen Werttheorie


Diese Werturteil sind in der Handlungsethik auf das konkrete Verhalten von Menschen, also auf ihr Tun, bezogen. Signalwörter, die ethische Urteile oft erkennbar machen, sind die Modalwörter "müssen", "sollen" und "dürfen".

 

Selbstredend interessiert die philosophische Ethik sich nur für Werturteile und normative Aussagen in einem ethischen Kontext. 

 

Die Grenzen zwischen ethischen Normen und z. B. ökonomischen Normen können aber fließend oder unscharf sein. 

 

Im Zweifelsfall muss man zunächst einmal klären, ob es in einer Diskussion überhaupt um eine ethische Frage geht oder nicht. 

nicht-ethische normative Aussagen

 

 

Zu den nicht-ethischen normativen Aussagen gehören zum Beispiel ...

 

  • ästhetische normative Aussagen: Sie formulieren ein Werturteil in ästhetischer Hinsicht im Sinn von "schön", "hässlich", "künstlerisch wertvoll", "künstlerisch wertlos", "kitschig" ... 
    Beispiel:
    "Die Bilder von Picasso sind große Kunst."
    "Die Filme von Rosamunde Pilcher sind kitischig."

    Mit der Diskussion über die Frage nach dem Wesen der Kunst und nach dem Schönen beschäftigt sich die philosophische Teildisziplin der Ästhetik. 


  • ökonomische normative Aussagen: Sie beziffern den materiellen Wert eines Objekts oder formulieren eine materielle Norm. 
    Beispiel: 
    "Gold ist wertvoller als Silber."
    "Champagner ist wertvoller als Prosecco."

  • sensorische Normen (z. B. Geschmacksnormen). Sie formulieren ein Sinnesurteil, z. B. ein Geschmacksurteil oder ein akustisches Urteil. 
    Beispiel: 
    "Prosecco schmeckt besser als Champagner."

  • konventionelle Norm (z. B. Mode-Norm, Rechtsnorm im Verwaltungsrecht, ...) 
    Beispiele
    "In Österreich muss man auf der rechten Seite der Straße fahren." 
    "Männer dürfen keine Miniröcke tragen." 

....


wichtige Begriffe der philosophischen Ethik

Begriff Bedeutung / Begriffsinhalt
präskriptive Ethik
  • präskribere = vorschreiben; ethische Theorien, die selbst ethisch werten 

dazu zählen: 

  • ethische Theorien, die grundlegende Werte inhaltlich klären und begründen, warum diese Werte wichtig sind (Menschenwürde, Gerechtigkeit, Freiheit, ...): ethische Werttheorien
  • ethische Theorien, die ethische Handlungsnormen und Begründungsverfahren aufstellen und argumentativ absichern: ethische Handlungstheorien
  • ethische Theorien, die Handlungsnormen und ethische Begründungsverfahren kritisch auf ihre Plausibilität / Stichhaltigkeit hinterfragen: ethische Handlungstheorien
  • ethische Theorien, die zu konkreten ethischen Fragen ("Darf man Krieg führen, um Menschenrechte zu schützen?" durchdiskutieren und dazu Position beziehen. 

deskriptive Ethik
  • describere = beschreiben; im Kern wertfreie Beschreibung und Analyse real existierender oder utopischer ethischer Denksysteme und ihrer Konsequenzen (z. B. Analyse des nationalszialistischen Menschenbildes und der nationalsozialistischen Ethik)

Metaethik
  • "meta" ist "neben" oder "hinter"
  • Ethische Theorien, die nach der grundlegenden Bedeutung und Begründbarkeit ethischer Urteile fragen 
  • Ethik hinter der Ethik

dazu zählen z. B.: 

  • Analyse der Begriffe "gut" und "böse"
  • Analyse ethischer Urteilsbildung: Wie können wir überhaupt verbindliche ethische Aussagen / Urteile formulieren
  • Sprachanalyse: Unterscheidung ethischer und nicht-ethischer Urteile. Unterscheidungskriterien formulieren. 
Moral, moralisch
  • von lat. "mos / moris" = Gebrauch, Sitte
  • scharfe Abgrenzung zum aus dem Griechischen stammenden Begriff "Ethik" ist oft nicht möglich
  • meistens wird "Moral" verwendet, wenn es um die Beschreibung oder die Diskussion oder die Vermittlung von Normen geht, ohne dass man damit den Anspruch einer philosophischen Analyse verbinden würde
Recht, rechtlich
  • verbindliche Rechtsnormen, an die sich in einem Staat alle Menschen halten müssen und deren Einhaltung durch staatliche Organe (Legislative, Exekutive, Jurisprudenz) sichergestellt wird.
  • Rechtsnormen und ethische Normen widersprechen sich in einem "idealen Staat" nicht. Das heißt: idealerweise sind ethische Normen (Verbot, andere Menschen zu schädigen oder gar zu töten) die Grundlage für Rechtsnormen (Verbot und Sanktionierung von Mord, Totschlag, fahrlässiger Tötung, Körperverletzung, ...). Aber ethische Normen sind oft weitergehend als Rechtsnormen (ein Staat kann nicht alles unter Strafe stellen, was ethisch problematisch ist). Und umgekehrt haben auch nicht alle Rechtsnormen einen ethischen "Boden", z. B. verwaltungsrechtliche Bestimmungen.
  • Inwiefern staatliches Recht auf grundlegenden ethischen Prinzipien beruhen muss, ist rechtsphilosophisch umstritten. RechtspositivistInnen meinen, es gebe keine über dem staatlichen Recht stehenden ethischen Normen. Naturrechts-VertreterInnen sagen, staatliches Recht düpfe nicht in Widerspruch zu grundlegenden ethischen Normen wie z. B. Menschenwürde oder Schutz des menschlichen Lebens stehen. 

Arbeitsaufgaben

A1: Die Bildcollage zeigt unterschiedliche Themenfelder, in denen Menschen mit ethischen Fragen konfrontiert werden. Welche ethischen Fragen stellen sich z. B. 
* im Hinblick auf den Umgang mit Tieren (Nutztiere, Haustiere, Wildtiere)

* im Hinblick auf das eigene Konsumverhalten (Konsumgüter kaufen, bestimmte Produkte bevorzugen, bestimmte Produkte nicht kaufen; Wegwerf-Verhalten, ...)

* im Hinblick auf Beruf, Arbeit, Arbeitsplatz, Wirtschaft (Gibt es Berufe oder Tätigkeiten, die ethisch problematisch sein könnten? Gibt es Verhaltensweisen am Arbeitsplatz, die ethisch problematisch sind? ...)

* im Hinblick auf das Verhalten, das Unternehmen und Konzerne an den Tag legen sollten (Unternehmensethik, Corporal Social Responsibility, ...)

A2: Liste Normen und Regeln auf, die bei uns an der Schule für SchülerInnen und LehrerInnen gelten. Mache dabei zwei Spalten: ethisch relevante Normen in der einen und ethisch nicht-relevante (z. B. ästhetische) Normen in der anderen Spalte. Begründe deine Zuordnungen. Erkläre, um welche ethischen Werte es bei den ethisch relevanten Normen geht. 

A3: Menschen geraten immer wieder in ethische Handlungsdilemmata. Suche zwei oder drei konkrete Beispiele für Dilemma-Situationen, mit denen junge Menschen manchmal konfrontiert werden. Erkläre, worin das Dilemma besteht und welches die zur Wahl stehenden Handlungsalternativen sind. Erkläre, wie und auf welchem Weg sich die Dilemma-Situationen "handeln" lassen. 

A4: Gedankenexperiment. Nimm an, Menschen wären in ihrem Handeln grundsätzlich nicht frei, weil Handeln das direkte Resultat (man könnte auch sagen: das "Abfallprodukt) bestimmter neurologischer Prozesse im Gehirn ist, die sie selber nicht steuern können. Was würde das für dein Leben und für die Entscheidungen, die du in deinem Leben zu treffen glaubst, bedeuten. Schreibe dazu einen kurzen Text, in dem es um eine Dilemma-Situation geht. 

A5: Welche Fakten sprechen dafür, dass Menschen in ihren Entscheidungen und in ihrem Verhalten weniger frei sind, als man das auf den ersten Blick vielleicht denken würde? Was spricht dafür, dass es die Freiheit, zwischen verschiedenen Wegen / Alternativen zu wählen, sehr wohl gibt? Schreibe zu beiden Seiten ein argumentatives Statement. 

A6: Erkläre, ob und inwiefern es sich bei den Sätzen auf dem Arbeitsblatt um ethisch-normative Aussagen geht. Suche zwei ethisch-normative Aussagen. Erkläre, warum und inwiefern die Aussagen ethisch-normativ sind (oder zumindest je nach Kontext so verstanden werden können)