S. de Beauvoir und die Frage nach Frau und Mann

„Man wird nicht als Frau geboren. Man wird zur Frau gemacht.“(S. de Beauvoir)

„Mythen sind zu hinterfragen auf die Menschen, die dahinterstehen.“ (S. de Beauvoir)

 „Warum irritiert es uns, wenn wir einen Menschen nicht sofort einem bestimmten Geschlecht zuordnen können?“ (Judith Butler)

 

Die Gender-Frage in der Philosophie

Eine der wesentlichen Fragen der modernen Anthropologie dreht sich um die Frage, was "Männlichkeit" und/oder "Weiblichkeit" bedeutet. Die Frage ist wichtig geworden, weil im 20. Jahrhundert neben vielem anderen auch die den beiden Geschlechtern sozial zugeordneten Rollen fragwürdig geworden sind. Außerdem bedeutet die Individualisierung und die Betonung der Freiheit des Einzelnen, sein Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, natürlich auch mehr Offenheit in Geschlechter-Fragen. Auch gesellschaftliche Entwicklungen - z. B. die Öffnung von Berufsfeldern für Frauen nicht zuletzt auch als Folge der Zwei Weltkriege - oder wissenschaftliche Erkenntnisse, die zur Entwicklung sicherer Verhütungsmethoden führten -, lieferten wichtige Impulse. 


Viele PhilosophInnen haben wichtige Fragen in diesem Zusammenhang diskutiert und grundlegende Positionierungen ausfrormuliert, die die ursprünglich heftig bekämpft wurden, heute aber allgemein anerkannt sind. Die wichtigste von ihnen ist Simone de Beauvoir mit ihrem Standardwerk: "Das andere Geschlecht." Mit ihrer Aussage: "Man wird nicht als Frau geboren. Man wird zur Frau gemacht." macht sie die Unterscheidung zwischen dem biologischen Geschlecht (im Englischen Sex) und dem sozialen Geschlecht (im Englischen: Gender) zum Kernpunkt ihrer Theorie. Vieles, was man in der Forschung traditionellerweise als "natürlich weiblich" beschrieben hat, definiert Beauvoir als sozial und damit weder "natürlich" noch "unveränderlich". Damit öffnet sich die Tür zu einer fundamentalen Debatte über die Frage, wie Frauen (und natürlich auch Männer) ihre Geschlechtsrollen in der modernen Welt neu definieren sollen und wollen. 


Viele moderne PhilosophInnen gehen heute noch weiter als Simone de Beauvoir, die die grundlegenden Zwei-Geschlechtlichkeit nicht in Frage stellt. Eine von ihnen ist Judith Butler, die für individuelle Freiheit und Offenheit  jenseits starrer Grenzen von "Männlichkeit" und "Weiblichkeit" argumentiert. 

Simone de Beauvoir

  • S. de Beauvoir wird geboren 1908 als „Tochter aus gutem Hause“ in Paris geboren; gutbürgerliches Elternhaus; später Verarmung; der Vater ist Alkoholiker und Spieler, die Mutter versucht angestrengt, nach außen hin die bürgerliche Fassade zu wahren;  Spannungsfeld zwischen dem atheistischen Vater und der katholischen Mutter --> Folgen: „Wunsch, selbst zu denken und sich selbst eine Meinung zu bilden“; Notwendigkeit, für den Lebensunterhalt selbst zu arbeiten, was nicht zur Rolle der "Tochter aus gutem Haus" passt, deren Lebensaufgabe als Ehefrau und Mutter definiert war. 
  • S. de Beauvoir studiert als eine der ersten Frauen an der Pariser Sorbonne und schließt ihr Examen mit Auszeichnung ab; in dieser Zeit beginnt auch die Beziehung zu J. P. Sartre
  • S de Beauvoir unternimmt Reisen in verschiedene europäische Länder, nach Nordafrika und Amerika; Paris bleibt Lebensmittelpunkt
  • S. de Beauvoir arbeitet nach dem Studium als Lehrerin für Philosophie in verschieden Lyzeen (Marseilles, Rouen, Paris); während der deutschen Besatzungszeit arbeitet sie gemeinsam mit Sartre im Untergrund und schreibt ihr erstes Buch; nach dem Krieg arbeitet sie als freie Schriftstellerin. Ihre Arbeiten sind von dialektisch-materialistischem und existentiellem Denken bestimmt. Beauvoir hat aber Schwierigkeiten, aus dem Schatten ihres Lebensgefährten Sartres herauszutreten und als eigenständige Denkerin anerkannt zu werden. Die Authentizität ihrer Texte wird immer wieder bezweifelt
  • Mit Sartre verbindet S. de Beauvoir eine spannungsgeladene, aber tragende Beziehung, die bewusst als Gegenmodell zur bürgerlichen Ehe, die sie radikal ablehnt, angelegt ist: Sartre und Beauvoir leben stets in getrennten Wohnungen, heiraten bewusst nicht und sagen das auch noch öffentlich, was in den prüden 50er-Jahren ein absoluter Skandal war. Und sie bleiben ein Leben lang beim förmlichen „Sie“
  • Bekannt wird Beauvoir mit ihrem Schlüsselroman „Die Mandarins von Paris“ (1955), in dem sie ziemlich bissig die intellektuelle Elite von Paris portraitiert und für den sie die höchste literarische Auszeichnung ihres Landes erhält.
  • Mit „Das andere Geschlecht“ (1949) schreibt sie ein Grundsatz-Manifest des Feminismus. In der Folge wird sie zu einer zentralen, aber nicht unumstrittenen Figur der europäischen Frauenbewegung vor allem in den 70er-Jahren.
  • Zusammen mit Sartre wird sie 1968 zu einer tragenden Symbolfigur des studentischen Widerstands gegen das Establishment.
  • Seit den 60er-Jahren setzt sie sich immer wieder mit Themen auseinander, die in der Philosophie eher ein Schattendasein führen und die in ihrer eigenen Lebensgeschichte verwurzelt sind (Alter, Krankheit, Tod)
  • S de Beauvoir stirbt 1986 in Paris

Textausschnitt: "Das andere Geschlecht"

(Der Mann) fasst seinen Körper als die direkte und normale Beziehung zur Welt auf, die er in objektiver Form darzustellen meint, während er den Körper der Frau als gleichsam belastet durch alles sieht, was ihr eigentümlich ist und was ihm als ein Hindernis, als eine Fessel erscheint. „Das Weib ist Weib durch das Fehlen gewissen Eigenschaften“, sagt Aristoteles. „Wie müssen das Wesen der Frauen als etwas betrachten, was an einer unnatürlichen Vollkommenheit leidet.“ Und der hl. Thomas wandelt auf seinen Spuren, wenn er dekretiert, dass die Eva ein „verfehlter Mann“, ein „zufälliges Wesen“ sei. Das wird auch durch die Erzählung der Genesis symbolisiert, in der Eva (...) aus einem überzähligen Knochen Adams entstanden erscheint. Die Menschheit ist männlich, und der Mann definiert die Frau nicht an sich, sondern in Beziehung auf sich; sie wird nicht als autonomes Wesen angesehen. (...) Und in diesem Sinn stellt auch Benda (... ) die Behauptung auf: „Der Körper des Mannes hat Sinn durch sich selbst, auch wenn er von dem der Frau absieht, während dieser letztere keinen Sinn aufweist, sofern man nicht an den Körper des Mannes dabei denkt ... Der Mann denkt sich ohne die Frau. Sie denkt sich nicht ohne den Mann.“ Jedenfalls ist sie nichts anderes, als was der Mann befindet; so spricht man auch von ihr als vom „anderen“ Geschlecht, worin sich ausdrückt, dass sie dem Mann in erster Linie als Sexualwesen erscheint: da sie für ihn ist, ist sie es ein für allemal. Sie wird bestimmt und unterschieden mit Bezug auf den Mann, dieser aber nicht mit Bezug auf sie; sie ist das Unwesentliche angesichts des Wesentlichen. Er ist das Subjekt, er ist das Absolute; sie ist das Andere.


Kommentar zum Satz: "Man wird nicht als Frau geboren. Man wird zur Frau gemacht."

Kommentar zum Textausschnitt un zur Debatte

S. de Beauvoir definiert die Frau als „das andere Geschlecht“, das heißt als das Geschlecht, das in der Geschichte immer durch die Brille der Männer gesehen und definiert worden ist, das immer durch das bestimmt wurde, was „anders“ im Vergleich zur männlichen Norm und damit zum angeblich Normalen ist.

 

Unter dieser Perspektive rechnet sie - ausgehend von genauesten literarischen Recherchen - mit allen Autoritäten der abendländischen Geistesgeschichten angefangen bei der Bibel und den alten Griechen über die Philosophien und Schriftsteller des Mittelalters und der Neuzeit bis zu den Idolen der Neuen Linken wie Marx und Freud ziemlich schonungslos ab.

 

Sie arbeitet heraus, dass die Frauen bis in ihre Gegenwart ausschließlich in Rollen (über)leben konnten, die ihnen von den Männern zugestanden worden waren: Verehrt als a-sexuelle Mutter und Ehefrau; begehrt, idealisiert und gleichzeitig verachtet als sexuelle Verführerin in der Rolle als Hetäre / Hure / Geliebten. Verehrt als asexuelle „Jungfrau“ (Maria als Vorbild), verdammt als Verführerin und erste Sünderin Eva. Aber immer definiert durch Männer.

 

In einer Zukunftsvision entwirft sie das Bild einer Frauengeneration, die ihre Rolle selbst bestimmen kann und die aus diesen Mustern auszubrechen vermag, in dem sie sich „typisch männliche“ Attribute aneignet wie Durchsetzungsvermögen, männlichen Verstand und männliches Denken, Eigen-Sinn und Eigen-Nutzen und weibliche Rollenmuster - einschließlich der Rolle als Mutter - nicht mehr als "naturgegeben" akzeptiert.

 

Die Unterdrückung der Frau definiert Beauvoir in einem doppelten Sinn: 

  • Geistig oder kulturell als Fehlen einer weiblichen Sicht auf die Geschichte, auf die Religion, auf die Philosophie, ..... Die wissenschaftlichen Texte, die unsere Theorien prägen, die literarischen Texte, die Kern unserer Kultur sind, die Werke der bildenden Kunst stammen fast ausschließlich von Männern. Die Frauen, die in diesen Werken vorkommen, sind Frauen, wie Männer sie sehen und wie Männer sie sich vorstellen. Dabei sind Frauen auf ganz wenige Rollen wie die der erotischen Verführerin und "Männer-Verschlingerin" (Eva, Judith, ...) oder die der Mutter und Heiligen (Maria) oder die des Opfers (Gretchen in "Faust", Luise Millerin, Marie in Woyzeck) festgelegt worden.
     
  • sozial-gesellschaftlich: Männer definieren die Rolle der Frau in der Gesellschaft und weisen ihnen ganz spezifische Rollen zu: Frauen als Körper ohne Köpfe, Frauen als Dekor der Männerwelt; Frauen als diejenigen, die die wenig prestigeträchtigen und wenig lukrativen gesellschaftlichen Aufgaben von der Kindererziehung bis zur Pflege übernehmen; Frauen bleibt die ökonomische Unabhängigkeit verwehrt (Bildung / Beruf / Politik)

Das Ziel oder die Vision, die Beauvoir definiert,  ist - wie eine geschwisterliches Begegnung von Mann und Frau in der konkreten sozialen Realität.

Arbeitsaufgaben zu S. de Beauvoir

A1: "Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht." (S. de Beauvoir): Wie ließe sich diese Aussage verstehen? Welche Beispiele ließen sich anführen? Wodurch wird ein Mensch von Kind an „zur Frau gemacht“ / „zum Mann gemacht“?

A2:  "Mythen sind zu befragen auf die Menschen, die dahinterstehen". "Da Frauen sich nicht selbst als Subjekt gesetzt haben, haben sie auch keine Mythen von Mann und Frau geschaffen, die ihre Vorstellungen spiegeln. Sie haben keine Religion, keine Poesie, die ihnen eigen ist. Selbst wenn sie träumen, tun sie es durch die Träume der Männer". Wie ließe sich diese Aussage verstehen? Wie ließe sie sich anhand konkreter Beispiele belegen? Welche Folgen hat es für die gesellschaftliche Identität von Frauen dass (wenn) sie keine eigenen Mythen, keine eigene Geschichte haben?

A3: "Der Mensch ist frei geboren." "Es ist unter anderem notwendig, dass Mann und Frau jenseits ihrer natürlichen Differenzierungen rückhaltlos geschwisterlich zueinander finden" Wie ließe sich diese Aussage verstehen? Was hat in der Geschichte ein „geschwisterliches Zueinanderfinden“ blockiert? Gibt es ein solches „geschwisterliches Zueinanderfinden“ heute?

A4: Ziel Simone de Beauvoirs ist eine Gesellschaft, in der nicht das biologische Geschlecht, sondern individuelle Fähigkeiten und Vorlieben bestimmen, wie Menschen leben und welche gesellschaftliche Rolle sie übernehmen. Ist dieses Ziel heute aus deiner Sicht erreicht worden? Inwiefern (nicht)?

A5: Die Tabelle zeigt eine etwas zugespitzte Gegenüberstellung der gegensätzlichen Geschlechter-Bilder, die den politischen und sozialen Diskurs der letzten Jahrzehnte geprägt haben. Welche politischen Forderung lassen sich aus den jeweiligen Positionen ableiten, wenn es um folgende Themen / Fragen geht: 

  • Familienbild und Rollenverteilung in der Familie
  • Familienpolitik; politische Unterstützung von Familien; Familienrecht
  • Berufsbilder; Beruf und Karriere
  • Erziehung und Schule; gendersensible Erziehung; Thematisierung von Geschlechtlichkeit / Mann-Frau-Themen im Unterricht