Exkurs: Dialektik

Was bedeutet Dialektik?

Der Begriff "Dialektik" kommt von Dialog. Grundidee ist, dass in einem dialektischen Prozess zwei ursprünglich voneinander getrennte und sich widersprechende Thesen oder Theorien (eben These und Anti-These) auf einer höheren Ebene zu einer Synthese (griech. syn = zusammen) geführt werden. 


Synthese ist also eine neue und bessere bzw. höher entwickelte Erkenntnis, die sowohl Elemente der ursprünglichen These als auch Elemente der ursprünglichen Antithese so neu interpretiert, dass sie miteinander verträglich werden und die ursprünglichen Widersprüche "aufgehoben" sind. 


Ein Beispiel haben wir anhand der Theorien der Vorsokratiker bereits kennen gelernt. Die ursprünglich sich widersprechenden materiellen Theorien (Thales: Ursprung alles Seins ist das Wasser) und nicht-materiellen Theorien (Pythagoras: Ursprung allen Seins ist die Zahl Eins) werden von den Atomisten (materielle kleinste unteilbare Teilchen = Atome und nicht-materielle Kräfte, die Atome anziehen oder abstoßen) zusammengeführt. Ebenfalls verbinden die atomaren Theorien dynamische (Parmenides: Es gibt keine Veränderung) und statische (Heraklit: Alles fließt) Positionen zu einer einheitlichen Theorie

Das Prinzip der Dialektik als Prinzip des Fortschritts / der Entwicklung durch Aufhebung von Gegensätzen (EM)
Das Prinzip der Dialektik als Prinzip des Fortschritts / der Entwicklung durch Aufhebung von Gegensätzen (EM)

Bedeutung des Prinzips der Dialektik in der abendländischen Denktradition

"Dialektik" heißt in der ursprünglichen Bedeutung des griechischen Wortes "Unterredungskunst" und wird - wie wir am Beispiel der Sokratischen Mäeutik gesehen haben, angewendet, um durch Rede und Gegenrede einen Sachverhalt klarer durchzudenken und offene Fragen zu klären. Im Hintergrund ist die Vorstellung Sokrates', dass ein Mensch das richtige Wissen bereits in sich trage, das er aber wegen seiner Vorurteile nicht erkennen könne.

 

Bei Platon wird das Grundprinzip der Dialektik zum Prinzip der Denkentwicklung überhaupt: Das Denken entwickelt sich dialektisch - das heißt sprunghaft und revolutionär - von einer "niedrigeren" auf eine höhere Ebene.

 

G.F.W. Hegel knüpft in seiner Geschichtstheorie an das platonische Prinzip der Dialektik an und definiert geschichtliche Entwicklung als Entwicklung von Ideen. Demzufolge vollzieht geschichtliche Entwicklung sich seiner Meinung nach nicht kontinuierlich und evolutionäre, sondern ebenfalls sprunghaft-revolutionär über fundamentale Veränderungen bestimmter Ideen.

 

Karl Marx wiederum greift auf Hegel zurück. Er übernimmt die Idee der Dialektik, also die Idee einer sprunghaften, revolutionären Entwicklung "vom Niederen zum Höheren", er stellt die Hegelsche Theorie aber "vom Kopf auf die Füße". Das heißt: In der Marxistischen Geschichtstheorie stehen sich nicht sich ausschließende Theorien oder Ideen gegenüber, sondern gesellschaftliche Klassen. So kann Marx Geschichte als Geschichte von Klassengegensätzen und Klassenkämpfen definieren, die von Zeit zu Zeit zu Revolutionen führen, in denen die entsprechenden Klassengegensätze aufgehoben werden. In seiner Zeit sieht Marx den fundamentalen Klassenwiderstand zwischen der Klasse, die die Produktionsmittel besitzt (Bourgeoisie), und der Klasse, die nur ihre Arbeitskraft besitzt (Proletariat). Er glaubt, dass es zu einem letzten revolutionären Aufeinanderprallen dieser Klassen komme und dass das Ergebnis dieser Revolution eine klassenlose Gesellschaft sei. Damit wäre auch der geschichtliche Prozess an einen Ziel- und Endpunkt angelangt.

 

Kommentar zum Prinzip der Dialektik

Als Denkprinzip oder als Folie, auf deren Grundlage wir die Entwicklung von Theorien beobachten und verstehen können, kann das Prinzip der Dialektik sehr hilfreich sein.

 

Dass Hegel und Marx den Fehler machen, das Prinzip der Dialektik auch als zentrales Prinzip der geschichtlichen Entwicklung zu begreifen, mag damit zusammenhängen, dass im 18. und 19. Jahrhundert der Versuch unternommen wird, ähnliche Gesetzmäßigkeiten, wie man sie für die Naturwissenschaften entdeckt hat, auch für die Humanwissenschaften zu suchen. Tatsächlich hat wahrscheinlich keine philosophische Theorie die geschichtliche Entwicklung so beeinflusst wie das Prinzip der Dialektik das 20. Jahrhundert.

 

Dabei übersehen sowohl Hegel als auch Marx laut Popper ("Das Elend des Historizismus"; "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde"), dass Geschichte anders funktioniert als das gesetzmäßig berechenbare und vorhersehbare Verhalten von Planeten oder das Verhalten einer Kugel im freien Fall. Und spätestens seit dem Jahr 1989 wissen wird, dass historische Prozesse nicht wie physikalische Prozesse auf einfache gesetzmäßige Prinzipien reduziert werden können.


Wie in vielen anderen Bereichen haben wir hier ein Beispiel für eine Theorie, die wirksam ist, obwohl sie falsch ist; einfach weil Menschen an sie glauben.