Stauen, Zweifel und Erschütterung als Ursprünge der Philosophie

Kommentar zum Konzept der Grenzsituationen nach Jaspers

"Ursprung“ bezieht sich auf die jedem Menschen innewohnende Fähigkeit und Sehnsucht, zu philosophieren. Der Mensch ist per definitionem (auch) ein philosophierendes Wesen. Philosophieren in diesem Sinn ist unabhängig von historischem Wissen. Es meint das teilweise freiwillige, teilweise durch äußere Lebensumstände "erzwungene" Hinterfragen bisher selbstverständlicher Ansichten und Meinungen. In diesem Sinn ist schon ein Kind, das die kindlichen Fragen nach dem WARUM stellt („Warum geht die Sonne am Abend unter?“, ...) ein Philosoph.


Quellen dieses philosophischen Denkens sind ERSTAUNEN, ZWEIFEL und ERSCHÜTTERUNG.


Erstaunen kann sich spontan einstellen in Momenten, in denen wir innehalten und beginnen etwas Alltägliches mit anderen Augen zu betrachten. Wenn wir im Alltäglichen das Wunderbare / Besondere sehen (z. B. in einer Blume, in einem Kind, in einem Wassertropfen, ...)


Zweifel heißt, dass wir etwas bisher nicht Hinterfragtes plötzlich nicht mehr als Selbstverständlich annehmen. In entwicklungspsychologischer Hinsicht könnten wir z. B. das Jugendalter als die Zeit des Zweifelns begreifen. Die Wertordnungen, die dem Jugendlichen in Elternhaus oder Schule vermittelt worden sind, werden kritisch hinterfragt, nicht mehr wie in der Kindheit selbstverständlich hingenommen.


Erschütterung entsteht durch die Konfrontation mit Grenzsituationen wie Lebenskrisen, Krankheit, Tod von Angehörigen, Arbeitslosigkeit, ... . Wir suchen uns diese Situationen selbstverständlich nicht freiwillig aus, aber diese Situationen zwingen uns oft, Fragen zu stellen, die im Alltagsleben keinen Raum finden. Es sind dies die Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach dem, was Mensch-Sein ausmacht, Fragen nach Gerechtigkeit, Gut und Böse ...


Diesen Fragen entsprechen auch die verschiedenen Grundrichtungen in der Philosophie, weil diese auch - historisch gesehen - bei den einzelnen „Hauptfachphilosophen“ die Grundlagen ihres Denkens waren.

Dem Erstaunen könnte man die philosophische Ontologie (Seinslehre) und die philosophische Metaphysik (Seinslehre) zuordnen.


Dem Zweifel könnte man die philosophische Erkenntnistheorie und die  Wissenschaftstheorie zuordnen.

Der Erschütterung könnte man philosophische Richtungen, die sich mit anthropologischen Fragestellungen auseinandersetzen (Bsp: Existenzphilosophie) zuordnen


Auch der historische Anfang der Philosophie  beginnt mit diesen Fragestellungen. Insofern ergibt sich wiederum eine Verbindung von Anfang und Ursprung


Tabellarische Übersicht: Grenzsituationen

Staunen als Ursprung der Philosophie
Staunen als Ursprung der Philosophie

Frage nach dem WESEN von etwas (Was ist ...?)
Frage nach dem GRUND für etwa (WARUM ...)?


Lebensalter: Kindheit (und im Idealfall auch noch später)

Bedeutung: Durch Staunen entsteht ein geordnetes Bild von Welt; die Welt ist Gesetzmäßigkeiten und Regeln unterworfen, die sich erkennen und verstehen lassen












Folge: übernommenes Weltbild: Welt als geordnetes und prinzipiell verstehbares System 

in der Philosophie
Methaphysik, Ontologie:
die Frage nach dem SEIN
Zweifel als Ursprung der Philosophie
Zweifel als Ursprung der Philosophie

Zweifelndes Hinterfragen des zunächst vertrauensvoll Geglaubten

 




 Jugend (und später)

Bedeutung: die Hinterfragung des als Kind Geglaubten und die kritische Distanzierung führt zu einer eigenständigen Überprüfung des eigenen Weltbildes. Während das Kind das Weltbild der Eltern nur zu verstehen versucht und es dann ohne es kritisch zu hinterfragen übernimmt, muss der Jugendliche dieses Weltbild einer kritischen Überprüfung unterziehen. Er entscheidet sich, dieses Weltbild zu übernehmen oder es zu verwerfen.




Folge: geprüftes Weltbild: die Welt, wie ich sie verstehe, wie ich sie kritisch durchdacht habe; das, woran ICH glaube --> Identität 
in der Philosophie: Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie, Sprachphilosophie: die Frage nach dem Möglichkeiten und den Grenzen des Erkennens
Erschütterung als Ursprung der Philsophie
Erschütterung als Ursprung der Philsophie
Die (oft plötzliche und unerwartete) Konfrontation mit Grenzsituationen (Tod, Scheitern, Schuld, ...) führt zur Erschütterung des eigenen Weltbildes und der eigenen Identität

 

prinzipiell in jedem Alter

Bedeutung: Grenzsituationen führen zu Überforderung, Hilflosigkeit, starken, widersprüchlichen Emotionen (Angst, Verzweiflung, Schuld) 

 

manche Menschen fliehen vor diesen Emotionen z. B. durch den Gebrauch von Suchtmitteln; dadurch bleiben diese Grenzerfahrungen aber unaufgearbeitet und können nicht integriert werden.

 

Das Aushalten der Emotionen und die Konfrontation mit dem eigenen Schicksal führt zu philosophischen Fragen beispielsweise nach Gerechtigkeit, nach dem Sinn des Lebens, ...

Folge: geprüfte Identität: selbst gewählter Lebensentwurf; eigenes Wertsystem


in der Philosophie: Existenzphilosophie: die Frage nach dem Sinn und dem Ziel des menschlichen Lebens

Ethik:
die Frage nach dem richtigen = guten Leben