Normen als Richtlinien für das Zusammenleben

Der Mensch als "ethisches Wesen"

Merlin auf "Mäusejagd"
Merlin auf "Mäusejagd"

PhilosophInnen definieren den Menschen gern als das Lebewesen, das (wohl im Unterschied zum Tier) in seinem Handeln nicht mehr ausschließlich an biologische Triebe gebunden ist. Weil er "in der Zeit lebt" und gedanklich vorhersehen kann, was seine Handlungen in der Gegenwart in der Zukunft bewirken können, kann er in Handlungsalternativen denken. Und er kann sein Handeln von dessen möglichen Folgen in der Zukunft abhängig machen. Er ist fähig, sein Handeln an ethischen Grundsätzen auszurichten. Die Voraussetzung für Ethik ist Freiheit

 

Das heißt natürlich nicht, dass Triebregungen und Instinkte für den Menschen überhaupt keine Rolle mehr spielen. Es gibt viele Situationen, in denen wir "intuitiv" handeln oder Triebimpulsen folgen. Es heißt aber, dass wir prinzipiell dazu in der Lage sind, auch gegen unsere Impulse zu  handeln und etwas zu tun, weil wir es für richtig halten, vielleicht sogar obwohl wir lieber etwas anderes tun würden. 

 

Es wäre ziemlich absurd, Merlin davon zu überzeugen, dass er keine Mäuse jagen soll, weil diese auch gerne leben und weil er sowieso Katzenfutter bekommt und die Maus deshalb nicht zum Überleben braucht. Ebenso wenig kann man ihm klarmachen, dass er die Maus - wenn er sie denn schon einmal jagen muss - wenigstens nicht quälen soll, bevor er ihr den Todesbiss versetzt. Wir Menschen können aber darüber nachdenken, ob es ethisch vertretbar ist, Fleisch zu essen. Und wir können gegebenenfalls entscheiden, auf Fleisch zu verzichten und uns von Pflanzen zu ernähren. Diesen Entschluss können wir auch aufrechterhalten, wenn wir einmal große Lust auf ein Schnitzel oder auf ein Salami-Brot verspüren. Und falls wir dann doch schwach werden,werden wir ein schlechtes Gewissen haben, weil wir gegen unsere eigenen ethischen Grundsätze verstoßen haben. 

 

Das meinen wir, wenn wir sagen, der Mensch sei ein zum ethischen Handeln begabtes Lebewesen. Das heßt aber leider nicht, dass er tatsächlich auch immer nach diesen Grundsätzen handelt. 

Tabus als erste ethische Stufe

Ayers Rock (Uluru) ist für die Aborignines in Australien ein Heiliger Berg, den zu betreten zu bestimmten Zeiten tabu ist
Ayers Rock (Uluru) ist für die Aborignines in Australien ein Heiliger Berg, den zu betreten zu bestimmten Zeiten tabu ist

Was ist ein Tabu?

 

Der Begriff "Tabu" stammt aus dem Polynesischen. Er bedeutet etwas Heiliges, Unverletzbares, Verbotenes. Tabus werden nicht begründet. Sie werden einfach von Generation zu Generation weitergegeben und beachtet. Ein Tabu zu verletzen ist eine schwere Verfehlung, die durch die Götter oder die Gemeinschaft geahndet wird.

 

Beispiele für Tabus

 

Tabus finden wir bei Naturreligionen (z. B. sind bestimmte Orte zu bestimmten Zeiten tabu und dürfen nicht betreten werden.  

 

Aber auch in der griechischen Mythologie finden wir Hinweise auf Tabus und die Konsequenzen, die es hat, wenn ein solches Tabu verletzt wird. Eines der wichtigsten Tabus ist der Elternmord, vor allem (in patriarchalen Kulturen) der Vatermord. Ein anderes Tabu, das es in fast allen Kulturen gibt, ist das Inzest-Tabu, also das Tabu einer sexuellen Beziehung mit einer Person, mit der man eng verwandt ist. Beide Tabus verletzt beispielsweise die tragische Figur des griechischen Königssohns Ödipus, der zuerst seinen Vater im Streit erschlägt und dann auch noch seine eigene Mutter heiratet und mit ihr vier Kinder hat. Die Strafe folgt auf dem Fuß: Die Heimatstadt von Ödipus, Theben, wird von Seuchen und anderen Plagen heimgesucht. 

 

Am Beispiel von Ödipus können wir auch erkennen, dass es bei der Übertretung eines Tabus nicht auf einen bösen Willen oder eine böse Absicht ankommt. Denn Ödipus weiß gar nicht, dass es sein Vater ist, den er erschlägt, und seine Mutter, die er heiratet. Was zählt, ist ganz einfach die Tatsache, dass er diese fundamentalen Tabu-Grenzen überschreitet. 

 

Tabus finden wir auch noch in modernen Gesellschaften. Am wichtigsten ist wohl das Inzest-Tabu (das vermutlich auch evolutionsbiologische Wurzeln hat). 

religiöse Gebote

Die 10 Gebote in hebräischer Schrift (Wikipedia)
Die 10 Gebote in hebräischer Schrift (Wikipedia)

In den großen Religionen gibt es ethische Regeln, die auf ein göttliches Gesetz oder einen göttlichen Willen zurückgeführt werden. Im Unterschied zu Tabus sind sie in der Form von Verboten oder Geboten sprachlich formuliert. In den asiatischen Religionen ist es z. B. das Gesetz des Karmas, aus dem sich Regeln für ein "gutes" Leben ableiten lassen. Im Judentum oder im Christentum sind es die zehn Gebote als die grundlegenden Regeln, die Moses in der Wüste Sinai von Gott bekommen haben soll. 

 

Da diese ethischen Regeln und Gebote auf Gott oder auf ein "göttliches Gesetz" zurückgeführt werden, sind sie natürlich nicht durch den Menschen veränderbar. Schon gar nicht können Menschen diese Gebote "aufheben" oder außer Kraft setzen. Sie gelten - zumindest im Verständnis der Religionen - ewig. 

 

Was sich aber im Laufe der Zeit sehr wohl immer wieder verändert hat, ist die Art und Weise, wie einzelne Gebote verstanden und interpretiert worden sind. Damit zusammenhängend ist natürlich die sehr wichtige Frage, wer denn die Legitimität hat, die göttlilchen Gebote zu deuten und zu konkretisieren. Denn nahe liegend ist natürlich, dass die Personen, die die Deutungsmacht besitzen, damit auch sehr viel Macht über andere Menschen, die ihren Interpretationen folgen müssten, ausüben können. Traditionellerweise beanspruchen Schriftgelehrte, Priester, Prediger, Imame oder andere religiöse Autoritäten für sich diese Macht. 

 

Neben den eigentlichen Grundregeln hat sich in den meisten Religionen so ein Katalog von Regeln entwickelt, der aber nicht dieselbe Verbindlichkeit wie die eigentlichen Grundregeln hat. 

 

Im orthodoxen (streng gläubigen) Judentum wären dies zum Beispiel die 613 Gebote der Halacha, die von streng gläubigen Juden eingehalten werden, die das ganze Leben (von der Geburt bis zum Tod) ebenso regeln wie den Jahreskreislauf, den Wochenzyklus, den Lebensalltag, ... Zu diesen Geboten zählen zum Beispiel Speisevorschriften, Vorschriften über die richtige Bekleidung, Vorschriften über das richtige Verhalten am Shabbat u.a.m. Nicht alle Juden halten sich an diese Regeln. Liberale Juden erachten sie als für sich nicht verbindlich. Nicht zuletzt deshalb kommt es z. B.  auch immer wieder zu Spannungen zwischen orthodoxen Juden und liberalen Juden in Israel; zumal orthodoxe Juden dazu tendieren, auch allen anderen ihre Regeln aufzwingen zu wollen. 

 

In der römisch-katholischen Kirche beansprucht die Kirchenhierarchie (Papst als oberste Instanz), Verhaltensregeln festzulegen, an die sich gläubige Katholiken eigentlich halten sollten. Dazu zählen - neben vielen anderen - auch sehr umstrittene Regeln wie z. B. das Verbot künstlicer Empfängnisverhütung, das Verbot von Sexualität außerhalb der Ehe, das Verbot, sich scheiden zu lassen und dann wieder jemand anderen zu heiraten, das Abtreibungsverbot u.a.m. Für Priester gibt es noch eigene Verbote, z. B. den Zölibat. In der Lebenspraxis haben diese Gebote - zumindest in Westeuropa - ihre Verbindlichkeit stark eingebüßt. Viele Katholiken ignorieren sie einfach. 

 

Protestantische Christen müssten sich - im Vergleich dazu - sehr viel weniger mit solchen Vorschriften herumschlagen, weil im Protestantismus die direkte Beziehung zwischen dem einzelnen gläubigen Menschen und Gott eine sehr viel stärkere Rolle spielt. Wie die zehn Gebote zu verstehen sind, darf der einzelne Mensch sehr viel stärker mit Gott selbst ausmachen. (Sonderformen, die sehr strenge Regeln kennen, gibt es aber auch hier) 

 

Im Islam ist der Koran die zentrale religiöse Quelle.  Die zentralen Gebote, die für Muslime verbindlich sind, stehen aber nicht im Koran, sondern in der Hadith (Sprüche des Propheten) und in der Sunna (Auslegung des Koran). Wenn man nach einem gemeinsamen ethischen Kern sucht, der für alle MuslimInnen verbindlich ist, dann sind das am ehesten die 5 Säulen des Islam.  Für andere Regeln (z. B. Speisevorschriften, Kopfbedeckung für Frauen) gibt es unterschiedliche Auslegungen und unterschiedliche Traditionen.        

Die Diskussion um die Interpretierbarkeit von religiösen Geboten

Evolution oder Schöpfung (payer.de)
Evolution oder Schöpfung (payer.de)

Ob und inwiefern religiöse Normen und Gebote an zeitlidche Veränderungen angepasst werden dürfen, ist eine wichtige Streitfrage innerhalb vieler Religionen. Und  moderne Gesellschaften stehen auch in einem Spannungsverhältnis zu religiösen Ethiken, die sehr alt sind und unter ganz anderen gesellschaftlichen Bedingungen (Judentum, Christentum, Islam: patriarchale, nomadisierende Wüstenkulturen) entstanden sind. 

 

Fundamentalistsiche Gruppierungen (die es innerhalb aller großen Religionen gibt) bestehen dabei meist auf einer "ewigen Gültigkeit" von Regeln und Vorschriften; egal, wie sehr sich die Welt rundum auch ändern mag. Im Extremfall bedeutet dies, dass gläubige Menschen in einer Art "Parallel-Welt" leben, in der die eigenen alten Traditionen weitergeführt werden, und dass es kaum (oder nur sehr punktuelle) Berührungspunkte zu einem modernen Leben in einer modernen Welt gibt. 

 

Im moderaten Fall ziehen solche Gruppierungen einfach eine Grenze zischen der modernen Welt und der Welt in der sie leben und bleiben (bis auf punktuelle Ausnahmen) einfach hinter ihrem Zaun. Im weniger moderaten Fall sehen sie einen Auftrag, die moderne Welt, die sie als "Sündenpfuhl" empfinden, zu missionieren, zu bekämpfen und zu versuchen, die Welt (oder zumindest einen kleinen Teil davon) vor dem Bösen und dem Dekadenten zu retten. (In manchen Bundesstaaten in den USA ist z. B. die Frage, ob im Biologieunterricht neben der Evolutionstheorie der biblische Schöpfungsmythos zu lehren sei, ein beliebtes Kampf-Thema) 

Religion und Gesellschaft

christlicher Fundamentalsmus (Wikipedia)
christlicher Fundamentalsmus (Wikipedia)

Mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert entsteht die Vorstellung von einer grundlegenden Trennung von Religion und Staat. Der vernünftige Mensch in selbst in der Lage, seine Beziehung zu Gott und sein Verhältnis zum Glauben zu bestimmen. Insbesondere darf der Staat - dieser Auffassung zufolge - den "Untertanen" nicht vorschreiben, was sie zu glauben haben. 

 

Wichtig ist auch, dass der deutsche Philosoph Immanuel Kant in seinem Werk "Kritik der praktischen Vernunft" erklärt, dass fundamentale ethische Prinzipien nicht von bestimmten Glaubensüberzeugungen oder bestimmten religiösen Grundannahmen abhängig sind. Vielmehr reicht die Vernunft allein aus, zu erkennen, dass es ethisch richtig ist, anderen Menschen beispielsweise keinen Schaden zuzufügen. 

 

Ein grundlegendes Kennzeichen moderner Gesellschaften und moderner Staaten ist, dass sie ihre ethischen Prinzipien nicht aus den Regeln einer bestimmten Religion ableiten dürfen. Denn sie müssen für alle Menschen - egal, welcher Religion sie sich zugehörig fühlen oder ob sie überhaupt nicht religiös sind - akzeptabel und einsichtig sein. Sie lassen sich von den Grundwerten der Aufklärung, nämlich Gleichheit, Freiheit und Menschenwürde, ableiten. In späterer Zeit sind dann noch die Grundwerte der Solidarität mit anderen Menschen, des Rechtsstaats und der Demokratie und des Natur- und Umweltschutzes dazugekommen. Von ihnen wird angenommen, dass sie so fundamental und so einsichtig sind, dass sie prinzipiell von allen Menschen anerkannt werden müssen. 

 

Zwischen den ethischen Prinzipien, die im Zuge der Aufklärung entwickelt worden sind, und den ethischen Prinzipien, die die großen Religionen festschreiben, gibt es viele Überschneidungen. Es gibt aber auch Unterschiede. 

 

So gibt es in den abrahamitischen Religionen ebenso einen fundamentalen Respekt vor dem menschlichen Leben, Gebote der Solidarität und der Nächstenliebe, soziale Gebote u.a.m.

 

Was es in einer nicht-religiösen Ethik aber natürlich nicht geben kann, sind religiös begründete Vorschriften im Hinblick auf bestimmte Glaubensregeln oder religiöse Verhaltensregeln. Außerdem können ethische Regeln in nicht-religiösen Kontexten natürlich nicht auf eine - wie auch immer geartete - göttliche Offenbarung zurückgeführt und mit einer solchen begründet werden. Letztlich muss ein religiöser Mensch ethische Normen im Konfliktfall einfach als "göttliche Vorgaben" akzeptieren, weshalb sie im Zweifel auch akzeptiert werden müssen, wenn sie rational nicht wirklich argumentierbar sind. Für eine nicht-religiöse Ethik gilt das natürlich nicht.  

 

Menschen, die einem aufgeklärten und liberalen Glaubensverständnis gegenüber aufgeschlossen sind, haben kein Problem mit einer grundlegenden Trennung von staatlicher und religiöser Ethik. Sie können akzeptieren, dass die Regeln einer bestimmten Religion keine Verbindlichkeit für alle Menschen in einer Gesellschaft beanspruchen können. Menschen, die einem fundamentalistischen Religionsverständnis anhängen, können dies in vielen Fällen nicht akzeptieren. Sie glauben, ihre religiösen Überzeugen (z. B. wenn es um "heikle Themen" wie Schwangerschaftsabbruch, Reproduktionsmedizin, Homosexualität, die Stellung der Frauen in der Gesellschaft geht) müssten für alle Menschen verbindlich sein.