Fudamentalismus. Was ist das?

Woher kommt der Begriff Fundamentalismus? Und was bedeutet er?

Der Begriff "Fundamentalismus" entsteht erst am Anfang des 20. Jahrhundert. Anfangs ist er auch nicht negativ konnotiert. Im Gegenteil. Die 1919 in den USA von Protestanten gegründete "World's Christian Fundamentals Association" führt ihn in ihrem Namen. Sie gibt eine Zeitschrift mit dem Titel "The fundamentals. A testimony of truth" heraus. 

 

Vertreter des fundamentalistischen Christentums sehen die eigene religiöse Wahrheit (vor allem im Hinblick auf Schöpfungsvorstellung und Menschenbild) durch moderne wissenschaftliche Erkenntnisse bedroht. Sie beharren auf der wörtlichen Gültigkeit der biblischen Mythen, vor allem der Schöpfungsgeschichte. Und sie lehnen die Evolutionstheorie Darwins und heute die Urknall-Theorie ab, weil sie nach ihrer Ansicht mit der biblischen Wahrheit unvereinbar seien. Wenn Wissenschaft und Religiöse Quellen (Bibel) sich widersprechen, hat für sie automatisch und immer die Bibel recht. Und sie bestehen auf einer wörtlichen (und nicht etwas nur symbolischen) Wahrheit biblischer Aussagen. 

 

Heute wird der Begriff "Fundamentalismus" auch für Strömungen innerhalb anderer Religionen verwendet, die durch ein paar wesentlichen Grundmerkmale gekennzeichnet sind. Vor allem ...

  • ... bestehen Fundamentalisten auf der absoluten und ewigen Gültigkeit angeblicher religiöser Wahrheiten. Sie lehnen eine historisch-kritische Lesart religiöser Quellen ab. Sie lehnen eine Relativierung oder Neudeutung religiöser Überzeugungen vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Erkenntnisse oder gesellschaftlicher Veränderungen ab. (Die Wahrheit ist ewig. Die Welt verändert sich nicht. Und wenn sie sich verändert, ist das schlecht weil Zerfall) 

  • ... sie bekämpfen wissenschaftliche Theorien, die nicht zu ihrem Weltbild passen, als Irrlehren. Vor allem lehnen sie die Evolutionstheorie und die Urknall-Theorie ab. 

  • ... bekämpfen Fundamentalisten wichtige Elemente des modernen Staatsverständnisses (sie wollen keine Trennung von Staat und Religion;  sie wollen keine Säkularisierung; sie akzeptieren nicht, dass Religion Privatsache sein soll)

  • ... beharren Fundamentalisten auf einem traditionellen vormodernen Geschlechter-Verhältnis und Familien-Verständnis (Mann als Familienoberhaupt; keine Frauen in religiösen Funktionen, oft keine Empfängnisverhütung, Ablehnung von Abtreibung, Ablehnung von Homosexualität, ...) 

  • ... bestehen sie darauf, dass es außerhalb der eigenen Religion / Weltsicht keine Wahrheit und keine Erlösung geben könne

 

Seltener wird der  Begriff "Fundamentalismus" auch für nicht-religiöse Ideologien verwendet, die sehr militant und wenig kompromissbereit sind. So bezeichnen manche radikale Tierschützer oder Veganer als fundamentalistisch, wenn sie missionieren und "Andersgläubige" offensiv bekämpfen.  

Fundamentalismus und Intoleranz

Jeder Fundamentalismus ist intolerant nach innen. Das heißt, er verlang von seinen "Anhängern" bedingungslose Akzeptanz der zentralen sozialen und weltanschaulichen Überzeugungen. Meistens gibt es Autoritäten, die definieren, welche Positionen akzeptiert werden und welche nicht. Mitglieder, die von den vorgegebenen Normen abweichen, erfahren Repressionen. Im Extremfall werden sie aus der Gruppe ausgeschlossen. 

 

Viele (aber nicht alle!) fundamentalistischen Gruppierungen sind intolerant nach außen. Das hängt auch mit ihrer Größe zusammen. Je größer / mächtiger fundamentalistische Gruppierungen sind, desto selbstbewusster treten sie auch nach außen hin auf. Sie stellen politische Forderungen, die für alle (und nicht nur für die eigenen Mitglieder gelten sollen). Oder sie beharren darauf, dass ihre sozialen Regeln auch für Menschen gelten sollen, die ihre Glaubensüberzeugung nicht teilen. Oder sie missionieren sehr offensiv (auch im Internet!). Beispielsweise verlangen ultraorthodoxe Juden in Israel, dass die staatlichen Scheidungsgesetze nach ihren religiösen Vorstellungen ausgerichtet werden sollen. Oder sie verlangen, dass am Shabbat in Jerusalem (oder zumindest in den von ihnen dominierten Vierteln wie Mea Sharim) keine Busse fahren dürfen. 

 

Ein Teil der fundamentalistischen Gruppierungen (eigentlich: eine Minderheit) ist gewaltbereit und/oder greift zu Gewalt, um die eigene Ideologie durchzusetzen. Der Zweck heiligt für sie die Mittel. 

Zu den gewaltbereiten Fundamentalisten zählen z. B. christliche Abtreibungsgegner, die ÄrztInnen, die Abtreibungen machen bedrohen oder sogar umbringen. Zu den gewaltbereiten Fundamentalisten zählen ultraorthodoxe Juden wie Jigal Amir, der den israelischen Ministerpräsidenten Itzak Rabin ermordet hat, weil er mit den Palästinensern ein Friedensabkommen geschlossen hat, und diejenigen, die in ihm einen Helden sehen. Zu den gewaltbereiten Fundamentalisten zählen auch die muslimischen Dschihadisten, die glauben, sie hätten das Recht, "Ungläubige" (Muslime anderer Richtungen, Nicht-Muslime) zu bekämpfen. Und auch in den asiatischen Religionen, die nach außen eigentlich toleranter als die abrahamitischen sind, gibt es Fundamentalismen. 

 

Auszug aus einem "Emma-Artikel" über militante christliche Abtreibungsgegner in den USA
Auszug aus einem "Emma-Artikel" über militante christliche Abtreibungsgegner in den USA

Typische Elemente im fundamentalistischen Denken und Handeln

Das fundamentalistische Weltbild

 

Alle Fundamentalismen vertreten ein eigenes, in sich geschlossenes Weltbild, welches als das einzig wahre gilt. Dabei sind die einzelnen Wahrheiten in diesem Weltbild so miteinander verkettet, dass die Infragestellung auch nur eines der Punkte das ganze System zu Fall bringt. Deshalb denken alle Fundamentalisten a-historisch, das heißt, die jeweiligen geschichtlichen Entwicklungen und Änderungen im gesellschaftlichen Leben werden ignoriert und abgelehnt. Auch religiöse, ethische oder gesellschaftliche Werte bleiben für Fundamentalisten unveränderbar, ganz gleich, ob diese noch zeitgemäß sind oder nicht.

 

Das Weltbild der Fundamentalisten teilt zudem meist polar in 'gut' und 'böse' ein: Jeder, der die eigene Wahrheit nicht mitträgt, ist jemand, der diese Wahrheit in Frage stellt, bedroht, gegebenenfalls von der Wahrheit überzeugt werden muss, ...

 

Absoluter Wahrheitsanspruch 


Unverrückbare Wahrheiten, von Autoritäten abgeleitet, geben den Anhängern einerseits Sicherheit und Geborgenheit, andererseits aber auch die Legitimität, Abweichungen zu bekämpfen.

 

Die Rolle des Gegners

 

In fundamentalistischen Systemen spielen Feindbilder eine wichtige Rolle. Solche Feindbilder fördern einerseits den inneren Zusammenhalt in der Gruppe (WIR-Gefühl). Andererseits ermöglichen sie die strikte Abgrenzung nach außen (Die ANDEREN, die nicht zur Elite gehören). Durch die Trennung der Sphären (kein Kontakt!; Abschottung) werden die ANDEREN meistens nur sehr stereotyp wahrgenommen. Und auf sie können bequemerweise Aggressionen kanalisiert werden, die z. B. durch die Frustrationsleistungen zwangsläufig entstehen, die Mitgliedern in fundamentalistischen Gruppiereungen abverlangt werden (Blitzableiter-Funktion). 

 

Die Rolle des Führers

 

Die Führergestalt gibt dem Fundamentalisten Sicherheit. Was er will und verlangt, rechtfertigt das Handeln des einzelnen: was ein 'Führer' befiehlt, braucht nicht hinterfragt werden; Eigenverantwortung gibt es nicht; Schuld für etwas, was ich auf Befehl des Führers gemacht habe, gibt es auch nicht.  Sich auf eine absolute Autorität zu berufen, entlastet also vor der Verantwortung für das eigene Tun. (NS-Prinzip: "Führer befiehl, wir folgen dir")


Fundamentalismus und Fundamente. Warum fasziniert der Fundamentalismus viele Menschen? Ein Versuch

Die moderne Welt gibt den Menschen viel Freiheit.


Früher haben enge soziale Normen (religiöser oder nicht-religiöser Natur) das Leben der Menschen geregelt. Es war klar, dass der älteste Sohn den Hof oder den Betrieb des Vaters übernimmt. Es war klar, dass jemand, der als Knecht geboren wurde, auch als Knecht sterben würde. Es war klar, wie die Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen zu sein hat. Es war klar, dass Kinder zu gehorchen haben und dass Eltern immer recht haben. Es war klar, dass "die Kirche" oder "der Pfarrer" oder wer auch immer weiß, was richtig und was falsch ist. Das war wahrscheinlich nicht immer angenehm und mit Repressionen verbunden. Aber es gab den Menschen Sicherheit. 


Die Moderne löst diese engen sozialen Normen auf. Die gesellschaftliche Mobilität ist enorm gestiegen. Ein Arbeiterkind kann Wissenschaftler oder Ärztin oder erfolgreicher Gründer eines Start-Up-Unternehmens werden. Jungen Menschen stehen (theoretisch) alle Berufsfelder offen. Eine junge Frau kann selbst entscheiden, ob sie mit einem Mann oder einer Frau zusammenleben möchte oder ob sie lieber ein Single-Leben führt. Sexualität gilt als Privatangelegenheit. Niemand muss sich dafür rechtfertigen, wenn er/sie "einfach so einmal" mit jemandem schläft oder sich mit dem eigenen Partner auf eine offene Beziehung einigt. Wir planen selbstverständlich, ob und wieviele Kinder wir wollen.  ...


Diese Freiheit eröffnet und Chancen, von denen Menschen vor 100 oder 150 Jahren gar nicht zu träumen gewagt hätten.


Diese Freiheit macht aber auch Angst, weil es kaum Sicherheit gibt. Wir wissen nicht, ob es unseren Arbeitsplatz in fünf Jahren noch gibt. Wir wissen nicht, ob unser Partner nicht vielleicht morgen jemand anderen kennenlernt und die Scheidung will. 


Diese Freiheit legt und außerdem die Last der Verantwortung für unser Leben auf. Wenn wir es nicht schaffen, beruflich und privat erfolgreich zu sein, sind wir selber schuld. Wir haben uns zu wenig angestrengt, falsche Lebensentscheidungen getroffen, falsche Abzweigungen gewählt. Nicht jeder kann (und will) diese Verantwortung auch tragen. 


Diese Freiheit produziert auch Verlierer oder zumindest die Angst davor, zu verlieren und zu den Verlierern zu gehören. 



Der Fundamentalismus gibt den Menschen zwar keine Freiheit, aber er verspricht ihnen Ordnung, Orientierung, Sicherheit, Sinn, eine Aufgabe. Also alles das, was die moderne liberale Welt den Menschen nicht mehr automatisch geben kann. Für Menschen, die zu den Modernisierungs-Verlierern gehören, oder Menschen, die in der modernen (oft als oberflächlich und konsumorientiert empfundenen) Welt keinen Halt oder keinen Sinn finden, sind fundamentalistische Gruppierungen ein Sicherheits-Anker. Sie sagen den Menschen ...

  • was wahr und was falsch ist
  • was der Sinn des Lebens ist
  • was die Werte sind, die zählen
  • was ihre Aufgabe und/oder ihre Mission ist
  • wo sie hingehören
  • dass sie wichtig sind und eine Mission haben und Helden sind
  • ...


Fundamentalismus in unterschiedlichen Religionen

Christlicher Fundamentalismus

Wir sind es gewohnt, Christentum mit "Katholizismus" gleichzusetzen. Allenfalls fällt uns noch ein, dass es ja auch noch protestantische christliche Kirchen (Luther, Calvin, Zwingli) und die orthodoxen Kirchen (russisch-orthodox, serbisch-orthodox, griechisch-orthodox ...) gibt. Aber es gibt tausende von christlichen Splittergruppen oder Freikirchen oder Gruppierungen. 


Fundamentalismus gibt es einerseits innerhalb der großen Kirchen, z. B. der katholischen Kirche. So ist das so genannte "Engelswerk" in Vorarlberg ziemlich aktiv (gewesen?). Das Opus Dei ist eine sehr konservativ-fundamentalistische Strömung, der auch Bischöfe nahe standen oder stehen. Die Piusbruderschaft, die die Neuerungen beim Zweiten Vatikanischen Konzil ablehnt, wurde von Papst Johannes Paul II wieder in die katholische Kirche aufgenommen. 


Andererseits haben viele kleinere Splittergruppen (Quäker, Mormonen, Amish, ...) stark fundamentalistische Züge. 


Der protestantische Fundamentalismus ist vor allem in den USA weit verbreitet und einflussreich. Besonders gilt das für die Südstaaten (Bible-Belt). Diese Gruppierungen sind extrem gut organisiert und vernetzt. Sie haben große finanzielle Ressourcen. Und sie haben viel Ansehen, weil sie viele soziale Aufgaben übernehmen, die in Westeuropa klassischerweise der Sozialstaat schultert. Sie versuchen auf unterschiedlichen Ebenen die Politik zu beeinflussen; teilweise sehr erfolgreich. Sie nehmen Einfluss auf die Auswahl von politischen Kandidaten und von Richtern und Staatsanwälten (z. B. Tea-Party). Sie versuchen die schulischen Lehrpläne zu beeinflussen (Evolutionstheorie oder Schöpfungsgeschichte). Sie fahren Kampagnen gegen sexuelle Liberalisierung, gegen Schwangerschaftsabbruch, gegen Sexualerziehung an den Schulen, gegen die Gleichstellung von Homosexuellen. Sie teilen die Welt gerne in Gut und Böse (Bush: "Achse des Bösen) und sehen sich selbst als Kämpfer gegen das Böse. 

Jüdischer Fundamentalismus

Im Judentum sind vor allem ultra-orthodoxe Gruppierungen fundamentalistisch. Sie beharren darauf, dass die 613 Halacha-Gebote streng einzuhalten sind. Sie leben nach Regeln aus dem 16. oder 17. Jahrhundert und lehnen jede Modernisierung ab. In Israel bekämpfen sie jede Einigung mit den Palästinensern und bestehen auf dem vermeintlichen Recht, Siedlungen in den besetzten Gebieten zu errichten. Sie lehnen den säkularen Staat Israel ab. Es gibt einige religiöse Parteien, die auch in der Knesseth (Parlament) vertreten sind. Dort bekämpfen sie die Trennung von Staat und Religion und wollen eine Art jüdischen "Gottesstaat" errichten. 

Muslimischer Fundamentalismus

Der islamische Fundamentalismus wurzelt in politischen Strömungen, die den Islam als Politinstrument benutzen. Diese Bewegungen entstehen im 20. Jahrhundert. 


Eine wichtige Gruppierung ist die Muslim-Bruderschaft in Ägypten. Sie wendet sich gegen das britische Protektorat und bekämpft in den letzten Jahrzehnten die ägyptische Führung, die mit dem Westen kooperiert. Sie ist in Ägypten immer wieder verboten (gewesen). 


Eine andere wichtige Bewegung ist die Revolution im Iran im Jahr 1979. Der schiitische Religionsführer Ayatollah Khomeini gelangt nach der Revolution an die Macht. Er setzt einen islamistischen Staat durch, in dem die Religionsführer das Sagen haben und in dem die Gesetze sich am Koran orientieren. Die Rechtsprechung orientiert sich an der Scharia. Vor allem die Repressionen gegen Frauen (Schleier-Zwang, Auspeitschungen und Todesstrafe für "sexuelle Vergehen") und Oppositionelle sorgen bei liberalen Menschen für Entsetzen. In vielen islamischen Staaten wird der Iran aber zum Vorbild. 


Weitere wichtige Gruppierungen haben ihr Zentrum in Saudi-Arabien, wo eine Splittergruppe (Wahabiten) an der Macht ist und ihr religiöses Verständnis zur Grundlage der staatlichen Ordnung macht. 


Terror-Organisationen wie Al Kaida und ihre vielen Ableger oder der IS oder Bokum Haram haben ihre ideologischen Wurzeln in fundamentalistischen Gruppierungen. Sie haben sich dann "nur noch" zusätzlich radikalisiert. 

Hinduistischer und buddhistischer Fundamentalismus

Buddhistische und hinduistische Religionen gelten als tolerant und offen gegenüber Menschen mit anderen Weltbildern. Doch auch in diesen Religionen gibt es Fundamentalismus, vor allem wenn politische Spannungen "religiös aufgeladen" werden. 


Beispielsweise gibt es in Indien einen hinduistischen Fundamentalismus, der auch politisch organisiert ist (Bharatiya Janata Party). Hindu-Fundis kämpfen v.a. gegen die muslimische Bevölkerung im Land und bestehen darauf, dass Indien ein hinduistischer Staat sei und sein müsse. 


In Burma und in Teilen Sri Lankas gibt es einen buddhistischen Fundamentalismus, der häufig von Klöstern und Mönchen ausgeht. Er richtet sich gegen muslimische oder tamilische Minderheiten und verwehrt ihnen die gleichen Rechte. 


Quellen und Internetlinks