Wissenschaft als paradigmatisches System. 

Biographisches: Thomas S. Kuhn

Thomas S. Kuhn (Bildquelle: Wikipedia)
Thomas S. Kuhn (Bildquelle: Wikipedia)

Thomas Samuel Kuhn wird 1922 in Cincinnati geboren. Er studiert Physik, Philosophie und Literatur an der Harvard Universität. Während des Zweiten Weltkrieges arbeitet er als Radiotechniker für die US-Army u. a. in England. in den 50er-Jahren erhält Kuhn eine Stelle als Professor für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte in Berkeley. Dort verfasst er sein Hauptwerk "Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" (original: "The Structure of Scientific Revolutions". Später arbeitet Kuhn in Princeton und am Massachusetts Institute of Technology.

1996 stirbt Kuhn an Krebs.

 

Wichtige Werke: 

  • "Die Struktur der wissenschaftlichen Revolution" (1962) 
    Hauptwerk, in dem Kuhn den Begriff des Paradigmas (auch als Kritik an Poppers Falsifikations-Modell) entwickelt
  • "Die Kopernikanische Revolution" (1980)
  • "Die Entstehung des Neuen: Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte."

Der Begriff "Paradigma"

Der Begriff "Paradigma" bedeutet eigentlich "Beispiel" oder "Muster". Er kommt aus dem Griechischen (parádeigma; para = neben und deiknynai = zeigen, begreiflich machen). Die Mehrzahlform ist Paradigmata oder Pardigmen. 

 

Kuhn verwendet den Begriff in einem eingeschränkten Sinn, wie wir gleich sehen werden. Ein Paradigma ist für ihn ein Netz von Grundannahmen, das den meisten Menschen - und das gilt auch für WissenschaftlerInnen - nicht bewusst ist, das aber ihr Denken und Tun ganz wesentlich prägt und beeinflusst.


Der Paradigmenbegriff ist Kern der Wissenschaftstheorie Kuhns.

 

Wissenschaften basieren auf paradigmatischen Grundannahmen

Hase oder Vogel? Es kommt auf die Grundannahme an! (Bildquelle: Wikipedia)
Hase oder Vogel? Es kommt auf die Grundannahme an! (Bildquelle: Wikipedia)

Wissenschaften bauen auf grundlegenden Annahmen oder Überzeugungen auf, die als solche den meisten WissenschaftlerInnen als "Setzungen" gar nicht bewusst werden. Denn sie übernehmen diese Grundannahmen unhinterfragt von ihren LehrerInnen und sehen in ihnen eine "Selbstverständlichkeit"


Die Grundannahmen, die wir machen, beeinflussen aber das, was wir nachher beobachten und vor allem die Art und Weise, wie wir es interpretieren. Das gilt auch und gerade für die wissenschaftliche Forschung. 


Diese Grundannahmen bezeichnet Kuhn als Paradigmen (oder als paradigmatische Grundannahmen). 


Für die klassischen Naturwissenschaften, die sich in der Neuzeit herausbilden und das mittelalterliche, von Autoritäten ausgehende Erkenntnis-Modell ablösen, bilden das wissenschaftliche Paradigma der Neuzeit. Es basiert auf der Überzeugung, dass wir mithilfe von Empirie (Messen, Beobachten) und Rationalität (Deuten, Interpretieren) zu Wirklichkeitserkenntnis gelangen (im Unterschied zum Mittelalter, das auf Empirie keinen großen Wert legt und davon ausgeht, dass wir Wirklichkeit über das Studieren autoritärer Quellen erkennen können)


Diese Grundannahme führt zur Entwicklung einer bestimmter Regeln, die wie eine Vorannahme oder eine Erwartungshaltung wirken und das, was wir erforschen wollen, wesentlich mitprägen. Vergleichbar der Frage, ob wir einen Vogel oder einen Hasen zu sehen erwarten. 


Aus dem Ideal von Empirie und Rationalität folgen weitere grundlegende methodische Entscheidungen: 


  • Das Ideal der Objektivität: Vorstellung, dass der Beobachter das zu Beobachtende und das Messergebnis nicht beeinflussen dürfe (heute spricht man eher von Intersubjektivität)
  • Eine grundlegende Skepsis gegenüber Subjektiven; also allem, was sich dem Ideal der Messbarkeit entzieht, also per se subjektiven Charakter hat oder Interpretationsspielräume offen lässt. Dazu zählt z. B. das subjektive Erleben (eigene Erfahrungen) oder persönliche Deutungen. In diesem Zusammenhang steht auch das Ideal der sprachlichen Eindeutigkeit (Formalisierung, Mathematisierung von Aussagen) 

Paradigmenwechsel als wissenschaftliche Revolutionen

Wissenschaft bedeutet Veränderung und Fortschritt. Aber es gibt Kuhn zufolge zwei grundlegend unterschiedliche Formen wissenschaftlichen Fortschritts: einen evolutionären (der Poppers Falsifikationsmodell entspricht) und einen revolutionären. Wissenschaftliche Revolutionen finden immer dann statt, wenn ein altes Paradigma unhaltbar geworden ist und dann durch ein neues ersetzt wird. 


Den evolutionären Prozess könnte man damit vergleichen, dass jemand ein altes Haus kontinuierlich und in kleinen Schritten repariert. Den revolutionären Paradigmenwechsel kann man hingegen damit vergleichen, dass jemand ein altes Haus abreißt, ein neues Fundament erstellt und darauf dann ein vollkommen neues Haus auf der Grundlage einer vollkommen anderen architektonischen Idee erstellt. 


Solche große Paradigmenwechsel waren / sind zum Beispiel ...

  • der Übergang vom mittelalterlichen zum neuzeitlichen Denken (Abkehr von den Autoritäten; "Was messbar ist, messen. Was nicht messbar ist, messbar machen". Ideal der Objektivität. Aussonderung von allem, was sich nicht objektivieren lässt)
  • damti verbunden: der Übergang von der Naturphilosophie (mit den zentralen Frage nach dem Warum und nach dem Wozu) zur modernen Naturwissenschaft (mit der zentralen Frage nach dem WIE)
  • der Übergang von der Newtonschen Physik zur modernen Quantenphysik am Beginn des 20. Jahrhunderts (Wahrscheinlichkeit statt Kausalität; keine Objektivität im strengen Sinn)
  • der Übergang von einem theologischen / metaphysischen Menschenbild (Sonderstellung des Menschen; Mensch als beseeltes Lebewesen) zum darwinistischen Menschenbild (Mensch als Säugetier; Mensch als Resultat eines evolutionären Prozesses) in Biologie, Psychologie, Philosophie


Kritik am Falsifikationsmodell K. R. Poppers

Im Falsifikationsmodell, das Popper entwickelt, ist Wissenschaft ein System, in dem es einen kontinuierlichen schrittweisen Erkenntnisfortschritt gibt. Denn Hypothesen, die sich nicht bestätigen, wenn man sie empirisch (z. B. in Experimenten) überprüft, werden falsifiziert und ausgeschieden. Übrig bleiben demzufolge also die Hypothesen, die den Versuchen, sie zu widerlegen, standhalten und sich in der Praxis bewähren.


So nähert sich Wissenschaft immer mehr "einem Punkt, den man als Wahrheit bezeichnen könnte", an. Unsere heutigen biologischen oder physikalischen Theorien sind besser als die biologischen oder physikalischen Theorien, die wir vor 100 Jahren oder vor 50 Jahren hatten. Freilich wissen wir nie, wie weit wir von diesem Punkt Wahrheit noch entfernt sind.  


Kuhn würde diese Sichtweise als "idealtypisches Modell" nicht grundsätzlich in Frage stellen. Er formuliert aber zwei wichtige Einwände. 


Der erste Einwand ist ein praktischer: Kuhn behauptet, dass viele Wissenschaftler sich gegen die Falsifikation ihrer Theorien mit allen Mitteln zur Wehr setzen. Denn diese Theorien sind vielfach ihr "Lebenswerk", zu dem sie ein ähnliches Verhältnis wie Eltern zu ihren Kindern haben. Sie kämpfen für ihre Theorien. Sie übersehen ihre Schwachstellen. Sie verteidigen sie auch gegen berechtigte Kritik. Sie schützen sie mithilfe von Immunisierungsstrategien. Im schlimmsten Fall bekämpfen sie sogar die Kritiker. 


Theorien verschwinden also nicht einfach, indem sie falsifiziert werden. Sie verschwinden erst, wenn ihre Vertreter keine SchülerInnen, keine AnhängerInnen, keine VerteidigerInnen mehr finden. 


Der zweite Einwand ist ein prinzipieller: Wissenschaftlicher Fortschritt ist etwas Revolutionäres. Er ist mit einem Paradigmenwechsel verbunden. Wissenschaftlicher Fortschritt passiert Kuhn zu Folge nur sehr begrenzt innerhalb bestimmter wissenschaftstheoretischer Positionen. Wenn ein wissenschaftliches Modell - wie beispielsweise die Newtonsche Theorie über die Wirkung von Kräften - einmal etabliert ist, gibt es nur noch kleine, graduelle Verbesserungen. Diesen Prozess kann man als evolutionär und schrittweise begreifen. Interessant wird es aber, wenn der Blick auf die paradigmatischen Grundannahmen fällt, die diesen Theorien zugrunde liegen. Das passiert meistens in Krisensituationen, wenn man mit den alten Modellen und Theorien an Grenzen stößt. In der Physik war z. B. um 1900 eine solche Krisensituaiton. Denn die im Rahmen der Newtonschen Physik entwickelten Theorien waren nicht mehr in der Lage, akute Probleme (z. B. Welle-Teilchen-Dualismus des Lichts) zu lösen. Erst als Vertreter der Relativitätstheorie (Einstein) vor allem Vertreter der Quantenphysik (M. Planck, W. Heisenberg, ...) grundlegende Annahmen der Newtonschen Physik und des neuzeitlichen Denkmodells in Frage stellten, ließen offen Probleme sich theoretisch lösen. Dabei wurde aber - quasi beiläufig, aber zwangsweise - das Fundament dieser neuzeitlichen Wissenschaft zerstört und ein neues gegossen. Betroffen waren dabei z. B. folgende paradigmatischen und grundlegenden Überzeugungen: 

  • Raum und Zeit als zwei voneinander unabhängige Variablen (Relativitätstheorie)
  • Kausalität und Berechenbarkeit in die Zukunft (Diskussion um die Frage, ob Gott würfelt. Unschärfe-Relation.)
  • Objektivität (Quantenphysik; Gedankenexperiment von Schrödingers Katze; Wenn man dem Licht eine Teilchenfrage stellt, antwortet es als Teilchen. Wenn man dem Licht eine Wellenfrage stellt, antwortet es als Welle)

Außerdem bestehen in vielen Wissenschaften zeitgleich nebeneinander unterschiedliche Denkschulen, die auf unterschiedlichen Paradigmen aufbauen. Kommunikation über die Grenzen dieser Denkschulen hinweg ist schwierig, weil ihre Vertreter unterschiedliche Sprachen sprechen und in vielen Fällen aneinander vorbeireden. In der Medizin konkurrieren sich beispielsweise Vertreter der klassischen naturwissenschaftlich orientierten Schulmedizin und Vertreter einer Medizin, die auf Therapieverfahren setzen, die sich nicht wissenschaftlich belegen lassen (von Homöopathie über Bachblüten oder TZM). In der Psychologie stehen sich tiefenpsychologische, behavioristische und humanistische Richtungen mit unterschiedlichen Menschenbildern und einem unterschiedlichen Wissenschaftsverständnis gegenüber. In der Ökonomie (Wirtschaftslehre) gibt es unterschiedliche Denkschulen, die ein-und-das-selbe Phänomen (z. B. die Euro-Krise) unterschiedlich deuten und konträre Maßnahmen (Investieren, sagen die einen. Sparen, sagen die anderen) empfehlen. 



Arbeitsaufgaben

A1: Erkläre, was man unter einem Paradigma versteht.  Beschreibe die paradigmatischen Grundannahmen, von denen die wichtigen Grundrichtungen in der Psychologie ausgehen: 
* die Tiefenpsychologie

* der Behaviorismus
* die humanistische Psychologie / die kognitive Psychologie


(Auf der Grundlage dessen, was wir im Psychologie-Unterricht gelernt haben, sollte das möglich sein. Zieh im Bedarfsfall deine Unterlagen und/oder andere Quellen zu Rate)

A2: Lass einen Vertreter des mittelalterlichen Denkens (vgl. Ebstorfer Weltkarte) und einen Vertreter des modernen naturwissenschaftlichen Denken erklären, was ein Mensch über folgende Phänomene wissen muss: 

* die Erde als Planet // die Welt

* der Mensch und seine Rolle in der Welt

* Krankheiten wie z. B. die Pest

* die Bedeutung von Bildung

* Tod


A3: Recherchiere im Internet nach Beispielen, die mithilfe des Konzepts der Paradigmen / des Paradigmenwechsels beschrieben werden. Erkläre, worin der Paradigmenwechsel jeweils gesehen wird. 


Quellen und Internetlinks

  • Wikipedia über Thomas S. Kuhn und die Paradigmen-Theorie
  • Wikipedia über die Heisenbergsche Unschärfe-Relation
  • "Planet Wissen" über die Newtonsche Physik und den Wechsel zur Naturwissenschaft und zur Frage nach dem Wie
  • Welt.de: "Wie Erwin Schrödingers Katze zu Weltruhm kam". Artikel über Schrödinger und das Gedankenexperiment mit Schrödingers Katze, das die Grenzen der Objektivität aufzeigt. 
  • Uni-Protokolle: Erklärung des Begriffs "Paradigmenwechsel"