Der lange Weg zur Positivierung der Menschenrechte

Der Begriff "Positivierung". In der Rechtsphilosophie gibt es traditionellerweise zwei konträre Grundpositionen: Theorien eines Naturrechts und Rechtspositivisten. 

 

Die Naturrechtslehre gehen davon aus, dass es "von Natur aus" bestimmte grundlegende Rechte gibt oder gebe, die über dem staatlichen Recht stehen oder stünden. Rechtspositivisten gehen demgegenüber davon aus, dass es kein Recht über dem staatlichen, gesetzten Recht gebe. Nur was ein Staat in einem rechtsstaatlich gültigen Verfahren als Gesetz beschlossen hat, ist auch geltendes Recht und rechtlich bindend. Recht wird zu einem bestimmten Zeitpunkt in Kraft gesetzt. Recht gilt dann solange, bis es in einem rechtsgültigen Verfahren wieder außer Kraft gesetzt wird. 

 

Der Rechtspositivismus hat einen ganz entscheidenden Vorteil: Er sorgt für Rechtssicherheit. Er verhindert Willkür. Er verhindert, dass der jeweils Mächtige nach Gutdünken definieren kann, was aus seiner Sicht Recht isst und was nicht. 

 

Der Rechtspositivimus hat aber einen ganz entscheidenden Nachteil: Er ist "inhaltlich neutral" und rein formal. Rechtspositivistisch betrachtet ist auch Unrecht (also z. B. die Nürnberger Rassegesetze) rechtlich völlig in Ordnung, wenn es denn in einem formal richtigen Verfahren zustande gekommen ist. 

 

Menschenrechte sind traditionellerweise als Naturrechte gedacht worden. Wer will, dass sie verbindlich anerkannt sind, muss sie rechtlich positivieren, also in formal korrekt beschlossenes Recht transferieren. Dieser Prozess dauert viele Jahrzehnte. 

Vorläufer

Die Idee, dass es bestimmte Menschenrechte gibt, wurzelt in Teilen in der griechischen und römischen Antike (Bürgerrechte, römisches Recht: Bürger als Rechtssubjekt), teilweise im Christentum (Gleichheitsidee, lange Zeit allerdings erst im Jenseits). Konkrete Gestalt nehmen die Menschenrechtsideen aber erst im Rahmen der Aufklärung an. 

 

Die griechische Antike entwickelt die Idee der Demokratie (Athen; allerdings prägt die Demokratie nur wenige Jahrzehnte die Stadt Athen)

 

Das römische Recht kennt den Bürger als Rechtssubjekt, dem der Staat ganz bestimmte Rechte garantiert.

 

Beide Gesellschaften sind aber Sklavengesellschaften. Die verbürgten Rechte gelten nur für eine Minderheit (Männer mit dem vollen Bürgerrecht; Frauen, Sklaven, Fremde sind von diesen Rechten ausgeschlossen)

 

Die Idee der Gleichheit aller Menschen (vor Gott) wurzelt im Christentum. Das macht das Christentum für viele in der römischen Gesellschaft benachteiligte Menschen attraktiv. Spätestens nachdem das Christentum unter Kaiser Konstantin Staatsreligion geworden ist, wird aber klar, dass die Idee der Gleichheit sich nur aufs Jenseits und auf das Leben nach dem Tod bezieht. Im Diesseits vertreten die Repräsentanten dieser Religion (Kaiser, Päpste, …) die Idee einer feudalistischen Gesellschaftsordnung, in der jeder Mensch den ihm von Gott zugewiesenen Platz demütigst einzunehmen habe.

 

Auch die Renaissance (oder: der Humanismus) ist wichtig, weil sie - im Gegensatz zum mittelalterlichen Christentum - den Menschen und das Diesseits in den Mittelpunkt stellt und wie die späte antike Philosophie die Suche nach dem Glück (oder dem Sinn) im Diesseits in den Mittelpunkt stellt. 

 

Erst die Aufklärung entwickelt – ausgehend vom Verständnis des Menschen als „animal rationale“, also als vernunftbegabtes Wesen - die Idee von der grundlegenden

  • Gleichheit

und

  • Freiheit

aller Menschen.

 

 

Die Aufklärung beeinflusst dann auch zwei wichtige Verfassungen, die zum ersten Mal Menschenrechte bindend festschreiben. Damit ist ein erster wichtiger Schritt in Richtung Positivierung der philosophischen Menschenrechtsidee getan: 

 

Die Virginia Bill of Rights (1776) ist die Grundlage für die bis heute gültige US-Verfassung ist. Sie schreibt grundlegende Rechte, die allen Bürgern zukommen, z. B. das Recht auf Religionsfreiheit fest. Damit Sklaverei nicht verboten werden muss, werden Farbige in einer ersten Phase als „Dreiviertel-Menschen“, für die die in der Verfassung garantierten Rechte nicht gelten, definiert. Im Bürgerkrieg zwischen Nord- und Südstaaten (1861 – 1965) ist sie dann aber wichtiger Bezugspunkt im Kampf gegen Sklaverei.

Die Verfassung der Französischen Revolution von 1791 orientiert sich inhaltlich sehr stark an der Virginia- Verfassung und schreibt z. B. Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit oder grundlegende Gleichheitsrechte fest. Auch begrenzt sie die Macht des Staates. Allerdings beziehen sich die in ihr garantierten Rechte ebenfalls nur auf männliche Bürger. Deshalb sehen Revolutionäre auch kein großes Problem darin, dass Olympe de Goughe 1793 hingerichtet wird, weil sie Rede- und Meinungsfreiheit auch für Frauen fordert. Auch denken die Franzosen bis weit ins 20. Jahrhundert nicht daran, Gleichheits- und Freiheitsrechte auch den Menschen in den Kolonialgebieten zukommen zu lassen.

 

Durch aufgeklärte Monarchen, vor allem aber durch die Napoleonischen Kriege Anfang des 19. Jahrhunderts werden die Ideen der Französischen Revolution überall in Europa verbreitet. Mehrfach, z. B. in den Revolutionen von 1830 und 1848, kämpft das politisch rechtlose Bürgertum – allerdings wenig erfolgreich – für Freiheit und Gleichheit. Auf Phasen der Liberalisierung (in Ö-U: 1830, 1848, 1867) folgen wieder Phasen der Restauration.

Wichtige MR-Dokumente aus heutiger Sicht

Wichtige Menschenrechtsverträge aus heutiger Sicht sind …

 

UN-Menschenrechtserklärung von 1948

 

1945, also unmittelbar nach dem Ende des WK2 und des Nationalsozialismus, wird die UNO als Völkerrechtliche Organisation gegründet; neben der Friedenssicherung (UN-Weltsicherheitsrat) ist die Verbesserung der Menschenrechtssituation von Anbeginn an zentrales Ziel der UNO.

 

 

1948 wird die UN-Menschenrechtserklärung, bis heute das bekannteste Menschenrechtsdokument, verabschiedet.

 

Allerdings dauert es noch bis 1966, bis aus der Erklärung die ersten völkerrechtlich bindenden Verträge entstehen. Grund für diesen Stillstand ist das Klima des Kalten Krieges nach 1945. Bis heute ist die völkerrechtliche Situation Stückwerk.

 

Wichtige Zusatzprotokolle sind beispielsweise das „Übereinkommen über die Rechtsstellung von Flüchtlingen“ (= Genfer Flüchtlingskonvention 1951), das „Übereinkommen über die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau“ (Frauenrechtkonvention 1979), das „Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe“ (= Anti-Folter-Konvention 1984), das „Übereinkommen über die Rechte des Kindes“ (= Kinderrechtskonvention 1989)

 

Alle diese Konventionen wurden in Österreich ratifiziert. Das heißt, Österreich hat sich verpflichtet, die Forderungen dieser Konventionen in nationales Recht zu überführen, sofern dies notwendig gewesen ist. Am Beispiel der Frauenrechtskonvention und der Kinderrechtskonvention lässt sich zeigen, welche rechtlichen Auswirkungen eine solche Konvention haben kann.

 

Die Ratifizierung der Frauenrechtskonvention führt(e?) zu einer rechtlichen Besserstellung der Frauen und zur Schrittweisen Beseitigung vieler kleinerer und größerer Diskriminierungen z. B. in beruflicher Hinsicht (Öffnung aller öffentlichen Berufe für Frauen, Anti-Diskriminierungs-Gesetzte, Quotenregelungen im öffentlichen Dienst, …) oder im Hinblick auf die Stellung der Frauen in der Familie (Familienrechtsreform 1975, Gewaltschutzgesetz 1995, …)

 

Die Ratifizierung der Kinderrechtskonvention führt(e) zu einem besseren rechtlichen Schutz des Kindes (Gewaltschutzgesetz, Kinderschutzeinrichtungen, Kinder- und Jugendanwaltschaft, rechtliche Besserstellung im Fall einer Scheidung, …)

 

 

Europäische Menschenrechtskonvention (1950 ratifiziert, seit 1953 in Kraft, in Österreich seit 1955 in Kraft; in Ö. in Verfassungsrang)

 

Die EMRK („Europäische Menschenrechtskonvention“ oder „Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten in Europa“) ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der für die Mitglieder des Europarats bindend ist. Das heißt: Alle Staaten, die Mitglied im Europarat sind, müssen die EMRK unterzeichnen.

 

Die EMRK ist inhaltlich stark von der UN-Menschenrechtskonvention beeinflusst. Aber mit der völkerrechtlichen Verbindlichkeit und mit der Errichtung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes in Straßburg sind die Bestimmungen der EMRK – im Unterschied zur UN-Menschenrechtsdeklaration – auch rechtlich – und zwar auf dem Weg der Individualklage !!!!! – einklagbar.

 

Österreich tritt 1955 dem Europarat bei. Seitdem ist die EMRK in Österreich in Verfassungsrang.

 

Ein wichtiger inhaltlicher Unterschied zwischen der EMRK und der UN-Menschenrechtserklärung besteht im Hinblick auf die Todesstrafe. Ursprünglich schließt die EMRK die Todesstrafe nicht vollkommen aus. Aber in mehreren Zusatzprotokollen (z. B. 1968, 1983, 2003) wird sie immer weiter reglementiert, in Friedenszeiten abgeschafft und schließlich (2003) ausnahmslos geächtet. Am Beispiel der Türkei oder der ehemaligen Ostblock-Staaten lässt sich zeigen, wie die EMRK dazu beigetragen hat, dass Europa – mit Ausnahme Weißrusslands – die Todesstrafe heute nicht mehr kennt.

 

 

Der Vertrag von Lissabon (als Nachfolgevertrag der gescheiterten EU-Verfassung)

 

Der Vertrag von Lissabon ist seit 1. 1. 2010 in Kraft. Er übernimmt den umfangreichen Grundrechts- und Menschenrechts-Katalog aus der gescheiterten EU-Verfassung. In einigen Bereichen geht er über die EMRK hinaus. Beispielsweise verbietet er Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, Behinderung, sexueller Orientierung und (neu) aufgrund des Alters.