Was ist Konstruktivismus?

Rotierende Schlangen (Akiyoshi Kitaoka) und andere Wahrnehmungstäuschungen provozieren die Frage: Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
Rotierende Schlangen (Akiyoshi Kitaoka) und andere Wahrnehmungstäuschungen provozieren die Frage: Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

Hauptvertreter des radikalen Konstruktivismus

Ernst von Glasersfeld (1917 - 2010)

Heinz von Foerster (1911 - 2002)

Paul Watzlawik (1921 - 2007)

Grundposition des radikalen Konstruktivismus

 

Der Konstruktivismus ist eine Strömung innerhalb (und außerhalb) der Philosophie, die seit den 60er-Jahren in vielen Bereichen - beispielsweise in der Sprachwissenschaft und in der Kunst - einflussreich geworden ist. Im Kern beinhaltet sie die Idee, dass das, was wir - in welchem Sinn auch immer - für wirklich halten, ein Konstrukt unseres Sinnes- und Denkapparats (Sinnesorgane, Gehirn) ist.

 

Im Unterschied zum Empirismus - auf den ersten Moment mögen beide Ansätze ähnlich erscheinen - unterscheidet sich der Konstruktivismus radikal insofern, als dass er nicht davon ausgeht, dass das, was wir als Wirklichkeit konstruieren eine objektive Wirklichkeit - in welcher Form auch immer - abbildet. Wirklichkeit und Konstruktion von Wirklichkeit sind prinzipiell unterschiedlich, wenn sie auch aufeinander bezogen sein mögen.


Zentrales Argument des Konstruktivismus ist, dass wir - man kann das an vielen Beispielen belegen - etwas wahrnehmen, z. B. sehen können, was in der objektiven Realität nicht existiert. Das obige Bild sehen wir als ein bewegtes Objekt, in Realität ist es (maximal) ein statisches Objekt. Erst unser Gehirn konstruiert die Bewegung.


Allgemein gesprochen: Das Bild der Welt, in der wir leben, das wir uns mithilfe unserer Sinnesorgane und mithilfe unseres Gehirns machen, ist kein Abbild der Wirklichkeit, sondern eine Konstruktion eben v. a. unseres Gehirns. Für Vertreter des Konstruktivismus ist unser Gehirn ein "autopoietisches" - das heißt: ein sich selbst erzeugendes - System, das die Nervenimpulse der Sinnesorgane auf eine eigenständige und eigenen Gesetzmäßigkeiten folgende Art und Weise verarbeitet. Unsere Welt ist für uns nur so erkennbar, wie unser Gehirn uns das ermöglicht.


Wahrheit hat in diesem Konzept nichts mehr mit einer Idee der Übereinstimmung von Theorie oder Abbild einerseits und abgebildeter Wirklichkeit andererseits zu tun. Diese Beziehung - die Konstruktivisten prägen dafür den Begriff der Viabilität - ließe sich allenfalls als "funktional" oder "brauchbar" beschreiben. Wir finden uns mit Hilfe unseres Erkenntnisapparats in der Wirklichkeit zurecht, ohne dass wir davon ausgehen dürfen, ein auch nur annähernd "abbildhaftes" Bild dieser Wirklichkeit zu haben.


Ernst von Glaserfeld, einer der Theoretiker des Konstruktivismus, erklärt dies an einem Beispiel:


"Ein blinder Wanderer, der den Fluss jenseits eines nicht allzu dichten Waldes erreichen möchte, kann zwischen den Bäumen viele Wege finden, die ihn an sein Ziel bringen. Selbst wenn er tausendmal liefe und alle die gewählten Wege in seinem Gedächtnis aufzeichnete, hätte er nicht ein Bild des Waldes, sondern ein Netz von Wegen, die zum gewünschten Ziel führen, eben weil sie die Bäume des Waldes erfolgreich vermeiden. Aus der Perspektive des Wanderers betrachtet, dessen einzige Erfahrung im Gehen und zeitweiligen Anstoßen besteht, wäre dieses Netz nicht mehr und nicht weniger als die Darstellung der bisher verwirklichten Möglichkeiten, an den Fluss zu gelangen. Angenommen der Wald verändert sich nicht zu schnell, so zeigt das Netz dem Waldläufer, wo er laufen kann; doch von den Hindernissen, zwischen denen alle diese erfolgreichen Wege liegen, sagt es ihm nichts, als dass sie eben sein Laufen hier und dort behindert haben. In diesem Sinn "passt" das Netz in den wirklichen Wald, doch die Umwelt, die der blinde Wanderer sieht, enthält weder Wald noch Bäume, wie ein außen stehender Beobachter sie sehen könnte. Sie besteht lediglich aus Schritten, die der Wanderer erfolgreich gemacht hat, und Schritten, die von Hindernissen vereitelt wurden (...)

Wie der blinde Wanderer seine Vorstellung von der Umwelt nur aus den Endpunkten aufbauen konnte, die seine Bewegungsfreiheit beschränkten, so bauen wir unser "Weltbild" aus Signalen auf, deren Ursprung wir uns ebenfalls nur in Berührung mit Hindernissen der Umwelt vorstellen können. (...)

Da Wissen für den Konstruktivisten nie Bild oder Widerspiegelung der ontischen Wirklichkeit darstellt, sondern stets nur einen möglichen Weg, um zwischen den "Gegenständen" durchzukommen, schließt das Finden eines befriedigendes Weges nie aus, dass da andere befriedigende Wege gefunden werden können. Darum kann, vom konstruktivistischen Gesichtspunkt aus, (...) nie eine bestimmte Lösung eines Problems oder eine bestimmte Vorstellung von einem Sachverhalt als die objektiv richtige oder wahre bezeichnet werden." (Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität)

  

Erkenntnisbegriff und Wahrheitsverständnis

Spätestens an diesem Zeitpunkt wird nachvollziehbar, dass sich ein naiver Wahrheitsbegriff (im Sinn einer einfachen Übereinstimmung Realität und Theorie über die Realität) im Rahmen des Konstruktivismus nicht halten lässt. Aber das heißt nicht, dass die Idee von Erkenntnis und Wahrheit sich vollständig auflöst. Allerdings wird sie stark relativiert.


Was wir als Wirklichkeit betrachten, entsteht einfach dadurch, dass wir es wiederholen können, dass wir eine Übereinstimmung unterschiedlicher Sinneseindrücke erfahren können und dass andere unsere Betrachtungen teilen: Ein Farbfleck, den ich nur in einem einzigen Moment wahrgenommen habe, der bei einem zweiten Betrachten aber nicht mehr erkennbar ist, wird von mir wahrscheinlich eher als Täuschung denn als Realität eingeordnet werden.


Ein  akustischer Reiz (Stimme im Raum) wird von mir wahrscheinlich eher dann als real akzeptiert, wenn ich ein Objekt sehen kann, dem ich diese Stimme zuordnen kann, etwas eine Person oder ein Radio oder ein Fernsehapparat. In einem Raum, in dem nichts dergleichen erkennbar ist, werde ich eher an eine Täuschung denken.


Ein Sinneseindruck wird schließlich vor allem dann als real akzeptiert, wenn andere diesen Sinneseindruck bestätigen: "Was wir zumeist als 'objektive' Wirklichkeit betrachten, entsteht in der Regel dadurch, dass unser eigenes Erleben von anderen bestätigt wird" (Glasersfeld)


A1: Beschäftige dich mit einem Vertreter des radikalen Konstruktivismus näher und verfasse einen kurzen biographischen Steckbrief. zum Beispiel: Ernst von Glasersfeld, Paul Watzlawik, Heinz von Förster
A2: Was ist den Vertretern des radikalen Konstruktivismus zufolge "Erkenntnis"? Was ist Erkenntnis aber vor allem nicht?

Internet und Literaturquellen