Identitätsentwicklung aus Sicht der Psychologie

Die Identität und die Psychologie

Die Psychologie beschäftigt sich mit dem menschlichen Erleben (Denken, Fühlen, ...) und Verhalten. Sie fragt unter anderem, wie wir - im Laufe unserer Entwicklungsgeschichte, als Folge "unserer Gene", aber auch vor allem als Folge der Erfahrungen, die wir sammeln - zu den erwachsenen Menschen werden, die wir dann schlussendlich sind. 


Früher stellte man sich die Sache eher einfach vor. Vor allem gingen viele ForscherInnen (z. B. der berühmte Sigmund Freud und seine SchülerInnen) davon aus, dass die Entwicklung nach der Pubertät im Wesentlichen abgeschlossen und wir zu einer "festen Persönlichkeit" geworden seien. Heute wissen wir, dass sich erstens unsere Persönlichkeit im Laufe des Lebens immer wieder verändert. Und zweitens wissen wir, dass unsere Persönlichkeit viel vielschichtiger und widersprüchlicher ist, als man lange Zeit gedacht hat. Manche ForscherInnen gehen sogar so weit, dass sie die Existenz einer Identität und einer Persönlichkeit überhaupt in Frage stellen. Sie denken, jeder von uns habe viele (teilweise auch widersprüchliche) Identitäten und die Persönlichkeit verändere sich kontinuierlich. Ein Begriff in dem Zusammenhang ist die fluide (flüssige / fließende) Identität. (Früher ist das weniger aufgefallen, weil es viel weniger Entscheidungsmöglichkeiten für den einzelnen und damit auch viel weniger Entwicklungsmöglichkeiten gegeben hat.) 


Einer der ersten Psychologen, die ein Modell für eine lebenslange Identitätsentwicklung formuliert haben, war der Entwicklungspsychologe Erik Eriskson. 

Stufen der Identitätsentwicklung nach Erikson (Überblick)


 

Grundthema


Frage im Zentrum

Erfahrungen; Chancen; Gefahren

Bezugsperson

"ethische Welt"

I (0-1 J)

Vertrauen gg. Misstrauen

Kann ich der Welt trauen?

Gegeben be­kommen (empfangen) Geben

Fürsorge und Befriedigung der Grundbe­dürfnisse Fehlende Für­sorge

Mutter

Kosmische Ordnung

II (2-3 J.)

Autonomie vs. Scham, Zwei­fel

Kann ich mein Handeln selbst steuern?

Behalten (festhalten) Hergeben (loslassen)

Entbehrung, Toleranz und Fürsorge Overprotection und mangeln­de Fürsorge

Eltern

«Gesetz und Ordnung»

III (3-7 J)

Initiative vs. Schuldgefühl

Kann ich von meinen Eltern unabhängig werden, indem ich meine Grenzen er­probe?

Tun (Drauflos­gehen) «Tun als ob» (=Spielen)

Ermunterung zum Erproben Mangelnde Gelegenheit zum Erproben

Familienzelle

Ideale Leitbil­der

IV (8-12 J)

Werksinn vs. Minderwertig­keitsgefühl

Kann ich die zur Anpassung nötigen Fähig­keiten beherr­schen lernen?

Etwas «Richti­ges» machen, konstruieren (mit anderen zusammen)

AngemessenesÜben und Ermutigung Dürftiges Üben und fehlende Unterstützung

Wohngegend, Schule

Technologi­sche Elemente

V Jugendalter (12-20 J)

Identität  vs. Identitäts-diffusion­

Wer bin ich? Was sind mei­ne Überzeu­gungen, Ge­fühle und Einstellungen?

Wer bin ich (Wer bin ich nicht) Das Ich in der Gemeinschaft

Innere Festig­keit und posi­tive Rückmel­dungen Ziellosigkeit und unklare Rückmeldun­gen

«Eigene» Gruppen, «die Anderen» Führer-Vorbilder

Ideologische Perspektiven

VI Frühes Er­wach-sene­nalter 20-~45

Intimität und Solidarität vs. Isolierung

Kann ich mich einem anderen Menschen ganz geben?

Sich im ande­ren verlieren und finden

Wärme und Anteilnahme Einsamkeit

Freunde, se­xuelle Partner, Rivalen, Mitar­beiter

Arbeits- und Rivalitätsord­nungen

VII

Generativität

Was kann ich

 

Zielbewusst­heit und Pro-

Gemeinsame

Zeitströmun-

Mittleres

gg.

kommenden

Schaffen und

duktivität

Arbeit, Zu-

gen in Erzie-

Erwachse-

Selbstabsorp-

Generationen

vorsorgen

Fehlendes

sammenleben

hung und

nenalter

tion

bieten?

 

Wachstum und

in der Ehe

Tradition

45-65

 

 

 

Regression

 

 

VIII spätes Er­wachsenen-alter 65+

Integrität gg. Verzweiflung

Habe ich in meinem Leben durch Arbeit und Spiel Zufriedenheit und Erfüllung gefunden?

Sein, was man geworden ist; akzeptieren, dass man einmal nicht mehr sein wird

Einheit und Erfüllung Ekel und Un­zufriedenheit

«Die Mensch­heit», «Men­schen meiner Art»

Weisheit

Das Jugendalter als Phase der Identitätsbildung nach Erikson

Der Begriff "Identität" entsteht erst um 1900; also in einer Zeit, in der vieles im Umbruch ist und in den modernen Großstädten traditionelle Rollenvorstellungen und alte soziale Ordnungen aufbrechen. 


Die erste Theorie, die dem Jugendalter eine ganz besondere Bedeutung für die Identitätsentwicklung zuspricht, ist die Theorie von Erik Erikson. Sie stammt aus den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Erikson schreibt, Ich-Identität sei "das angesammelte Vertrauen darauf, dass die Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen der anderen hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität [...] aufrecht zu erhalten." ("Identität und Lebenszyklus") Etwas einfacher formuliert könnte man sagen, Erikson meint, dass wir normalerweise im Jugendalter ein inneres Bild über uns als Persönlichkeit entwickeln. Dieses Bild enthält die Vorstellungen von dem, was wir sind. Und sie enthält Vorstellungen von dem, was wir gerne sein wollen. Er glaubt, dieses Bild sei nach dem Ende der Pubertät relativ gefestigt. Und im Idealfall stimme dieses innere Selbst-Bild mehr oder weniger mit dem überein, wie unsere soziale Umwelt uns sieht und empfindet. 


Erikson geht also noch von einem relativ kompakten und statischen Identitäts-Modell aus. Aber auch er sieht und erkennt, dass Identität zu entwickeln bedeutet, dass Jugendliche sich im Spannungsfeld zwischen unterschiedlichen (widersprüchlichen) Lebensmodellen und Werthaltungen bewegen müssen. Und sie müssen in diesen Spannungsfeldern jeweils ihren eigenen Platz suchen und finden. Wenn das misslingt, gelingt die Identitätsbildung nicht. Es kommt zur Rollendiffusion (Diffusion = Auflösung). Jemand weiß dann eben nicht, wer er ist oder sein will. Er bleibt zwischen widersprüchlichen Polen hängen. Oder sie bleibt ein von der Meinung und vom Einfluss anderer völlig abhängiger und leicht manipulierbarer und steuerbarer Mensch. 


Gelungen wäre Identitätsbildung demzufolge, wenn jemand am Ende des Jugendalters eine mehr oder weniger klare weltanschauliche und/oder politische Meinung entwickelt hat, die sich auch begründen und argumentativ belegen lasst. Wenn er/sie weiß, was im Leben zählt und woran er/sie sich im Leben orientiert (Karriere, ein bestimmter Beruf, Reisen/Welt kennenlernen ...). Wenn er/sie sich mit sich selbst beschäftigen kann und dennoch/trotzdem mit anderen Menschen (feste Freunde, ...) einen Teil des Lebens gestaltet. Wenn er/sie die Beziehung zu den Eltern auf eine neue Basis gestellt hat: Er/Sie ist jetzt nicht mehr von den Eltern abhängig. Er/Sie hat ein eigenes Leben in einer eigenen Wohnung begonnen. Er/Sie verwaltet das eigene Budget. Aber er/sie schätzt im Normalfall die Beziehung zu den Eltern als "ältere Freunde" oder Vorbilder oder was auch immer.  Und wenn er / sie vor allem auch weiß, was er/sie nicht will, nicht braucht, nicht anstrebt. 


Misslungen wäre Identitätsbildung demzufolge, wenn jemand einen selbstzerstörerischen Lebensweg einschlägt und beibehält, also beispielsweise im "Drogenmilieu versumpft". Misslungen wäre Identitätsbildung aber wohl auch, wenn jemand nicht weiß, was er / sie mit dem eigenen Leben anfangen will. Wenn er/sie keine Perspektive für das eigene Leben entwickelt hat. Wenn er/sie (wie ein Kind) unkritisch und unreflektiert zu bestimmten mehr oder weniger erwachsenen Vorbildern aufschaut und diese zu Idolen idealisiert und dieser Person / Figur im Hinblick auf Denken und Werthaltungen mit einer unkritischen Hörigkeit begegnet.  

Kritik an Erikson und Weiterentwicklungen

Viele Gedanken Eriksons passen auch noch für die heutige Zeit. Manchen ForscherInnen ist das Modell aber zu starr und für die heutige Zeit nicht mehr ganz passend. 


Manche Forscher meinen, es sei nicht unbedingt notwendig, eine "feste" Identität zu entwickeln. Auch viele Erwachsene pendelten heute zwischen unterschiedlichen und teilweise auch widersprüchlichen Identitäten hin und her und hätten dennoch ein gutes und gelingendes Leben. Man könnte auch sagen, Menschen brauchen heute "fluide Identitäten", wenn sie in der mobilen, sehr komplexen und sich sehr schnell änderenden sozialen Umwelt überhaupt zurechtkommen wollen. 


Beispielsweise entwickeln Jugendliche, die unterschiedliche biographische Wurzeln haben (bikulturelle Eltern, "Gastarbeiter"-Kinder, ...), oft sehr komplexe Identitäten. Sie wollen und müssen sich eben NICHT zwischen unterschiedlichen Welten entscheiden, sondern können beides "unter einen Hut bringen". Eine junge Frau ist dann z. B. eine selbstbewusste und gebildete westlich denkende Muslima, die auf der Universität Medizin studiert und trotzdem "das Kopftuch trägt". Oder ein junger Mann ist ein Mensch, der sich herkunftsbedingt in der katholischen Kirche verwurzelt fühlt und trotzdem darauf besteht, offen mit seinem gleichgeschlechtlichen Freund zusammenzuleben. 


Auch dass es Phasen der Orientierungslosigkeit gibt oder dass Lebensentwürfe immer wieder hinterfragt und teilweise auch durch andere ersetzt werden, muss nicht gescheiterte Identitätsbildung bedeuten. So brauchen viele Menschen heute sehr viel länger, bis sie wissen, in welche Richtung sie sich beruflich entwickeln wollen. Viele reisen nach der Matura erst einmal ein oder zwei Jahre durch die Welt, sie probieren unterschiedliche Studienrichtungen aus, sie verlassen ein erlerntes Berufsfeld wieder, wenn sie merken, dass ihre Erwartungen nicht erfüllt werden. Viele stehen erst mit 30 am Anfang ihrer Berufslaufbahn. Viele ändern auch mit 40 oder sogar 50 Jahren ihre berufliche Ausrichtung nochmals vollkommen. Das alles wäre in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts, als Erikson seine Theorien entwickelt hat, ziemlich unmöglich gewesen. 


Auch im Hinblick auf Beziehungs- und Familienleben sind Menschen heute sehr viel flexibler als früher. Früher haben die Menschen sehr viel jünger geheiratet (Frauen anfang 20, Männer mit 20). Sie haben früher Kinder bekommen. Sie sind eher in einer Ehe zusammengeblieben. Heute leben (junge) Menschen haben junge Menschen interessanterweise eher konservativere Familienvorstellungen als die Generation der Eltern oder Großeltern (vgl. Shell-Jugendstudien). Aber sie leben häufiger in "serieller Monogamie", beenden Partnerschaften, die ihren Vorstellungen nicht entsprechen, und bleiben mit den Ex-Partnern teilweise weiter befreundet, kümmern sich als Eltern verantwortungsvoll weiter um gemeinsame Kinder, auch wenn sie kein Paar mehr sind, akzeptieren die Kinder der Partnerin aus einer früheren Beziehung, ... Phasen des Beziehungs-Lebens und Phasen des Single-Lebens wechseln sich immer wieder einmal ab. Mit jemandem zusammenzusein, heißt nicht automatisch, mit jemandem in derselben Wohnung zu leben. ... 


Manche Menschen beklagen auch, dass junge Menschen sich weltanschaulich nicht mehr klar deklarieren. Sie basteln sich ihre eigene Religion oder Weltanschauung aus unterschiedlichen und teilweise widersprüchlichen Grundlagen zusammen. Sie sind "irgendwie katholisch", obwohl sie nicht in die Kirche gehen und die katholischen Lebensregeln in ihrem Alltag keine Rolle spielen; aber sie heiraten nach katholischem Ritus und lassen ihre Kinder taufen. Gleichzeitig glauben sie an Wiedergeburt und finden Tantra oder buddhistische Meditation oder Yoga spannend. Sie fahren mit dem Benzin fressenden SUV 20 Kilometer bis zum nächsten Biohofladen, wo sie sich mit Bio-Steaks aus artgerechter Rinderhaltung eindecken. 


Kurz: Die soziale Welt ist in den letzten 50 Jahren vielschichtiger und offener geworden. Und entsprechend offener, flexibler, fluider ist die Identität der Menschen, die in dieser Welt leben und sich in ihr zurechtfinden müssen. 


Soziologinnen und Psychologen haben übrigens eine ganze Fülle von Begriffen für diese Phänomene entwickelt. Sie sprechen z. B. von Identität als Collage oder als Fleckerlteppich oder von Patchwork-Identität oder von "Bastel-Identität" oder von konsturierter Identität. 


Der Schweizer Schriftsteller und Philosoph Adolph Muschg findet das übrigens völlig in Ordnung. Er schreibt: "Zum Glück hat der Mensch schon als Individuum keine scharfen Ränder. Identität ist eine plastische Größe. Jeder von uns lebt mit mehreren Hüten und kann seine Loyalität verteilen, ohne sie oder sich zu verraten" (zit, nach Keupp; Quelle)


 

Arbeitsaufgaben

A1: Erkläre, was Erikson unter Identitätsbildung und Identitätsentwicklung versteht, kurz und möglichst einfach mit eigenen Worten. Führe Themenbereiche an, die für die Identitätsentwicklung im Jugendalter aus deiner Sicht wichtig sind (z. B. Sport, Musikinstrument spielen, Schule) und begründe, warum und inwiefern. 


A2: Erkläre, was Erikson unter Identitätsdiffusion oder gescheiterter Identitätsentwicklung versteht. Was wären Beispiel dafür? Was könnten Ursachen dafür sein, dass es Jugendlichen / jungen Erwachsenen nicht gelingt, eine mehr oder weniger "gesunde" Identität zu entwickeln. 


A3: Erkläre mit eigenen Worten und möglichst einfach, was Forscher heute unter "Patchwork-Identität" verstehen und worin sie die Ursache für solche Identitäts-Bildungen sehen. Würdest du von dir selber sagen, dass du eine Patchwork-Identität hast. Wenn ja: warum und inwiefern? Wenn nein: warum nicht und inwiefern nicht?


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