ethische Herausforderungen: Dilemma-Situationen

ethische Dilemma-Situationen

In den allermeisten Situationen wissen wir zum Glück, wie wir uns ethisch korrekt verhalten sollten. Das haben wir in unserer Solzialisation gelernt. Das sagen uns "die Tradition", andere Menschen, "die Religion" oder "der Staat" mit seinen Gesetzen. Und meistens finden wir auch durch logisches Nachdenken heraus, was in einer konkreten Situation das ethisch richtige Verhalten ist (oder zumindest wäre):  Wir wissen, wir dürfen in einem Geschäft nichts "mitgehen lassen", ohne dafür zu bezahlen. Wir wissen, dass wir die Wahrheit sagen und zu unserem Wort, das wir gegeben haben, stehen müssen. Wir wissen, dass wir unsere Interessen nicht einfach mit Gewalt durchsetzen dürfen. Und wir wissen, dass wir andere Menschen höflich und respektvoll behandeln müssen. Alle diese Prinzipien könnten wir auch mit guten Gründen argumentativ verteidigen, wenn jemand sie in Frage stellen sollte. Für solche Situationen brauchen wir also nicht unbedingt eine philosophische Handlungsethik als Entscheidungshilfe. 

 

Doch es gibt auch schwierige Situationen, in denen keinesfalls auf den ersten Blick klar ist, was das richtige (oder bessere oder wenigstens weniger schlechte) Verhalten ist. Es gibt zum Beispiel mehrere Handlungsmöglichkeiten, aber sie sind alle problematisch. Oder es gibt mehrere Handlungsmöglichkeiten, die wir eigentliche alle ergreifen sollten, obwohl wir dazu nicht in der Lage sind. Oder das, was wir ethisch idealerweise tun sollten, gerät in einen Konflikt mit unseren ganz persönlichen Interessen und erscheint uns nicht zumutbar. Solche Situationen nennt man ethische Dilemmata (Einzahl: Dilemma):


Beispiele für ethische Dilemma-Situationen gibt es viele.

Manche von ihnen sind kleine Alltagssituationen:

  • Soll ich einer jungen Frau, die vor dem Supermarkt sitzt und bettelnd die Hand aufhält, Geld geben? Oder soll ich ihr besser nichts geben. 
  • Darf ich eine Geldtasche mit 20 Euro und ohne Personal-Daten, die ich auf einem Wanderweg finde, behalten? 
  • Muss ich einen Mitschüler, der in der Schulgarderobe etwas gestohlen hat, verraten? Oder wäre das ein Verrat an der Klassengemeinschaft? 
  • Darf ich einen Schüler, der bei einer Schularbeit betrogen und eine positive Leistung erschwindelt hat, verraten? Darf ich ihn verraten, wenn dadurch die Schularbeit wiederholt werden müsste und alle, die ehrlicherweise ein "Nicht genügend" geschrieben haben, nochmals eine Chance bekämen? 


Manchmal geht es aber auch um zentrale politische Entscheidungen mit sehr weitreichenden Konsequenzen: 

  • Darf ein Staat / die NATO militärisch intervenieren (also: Krieg führen), um einen Völkermord zu stoppen?
  • Darf man terrorverdächtige Menschen hart behandeln (also: psychisch foltern), um Informationen über ein gefährliches Terrornetzwerk zu erhalten?
  • Darf ein den Datenschutz ein bisschen aufweichen, damit er an Informationen über Terrornetzwerke gelangt?
  • Darf der Staat gestohlene Informationen mit Daten über wahrscheinliche Steuer-Hinterzieher ankaufen? 


Wichtig ist: Nicht jede Situation, in der es unterschiedliche Verhaltensmöglichkeiten gibt, sind Dilemma-Situationen. Die Frage, ob ich meinen Müll einfach auf dem Tisch in der Cafeteria stehen lassen darf, ist KEINE Dilemma-Situation. Denn hier gibt es keine guten ethischen Gründe, den Müll liegen zu lassen, anstatt ihn wegzuräumen. Dafür sprechen allenfalls Gedankenlosigkeit oder egoistische Bequemlichkeit. Und das sind keine ethischen Handlungsprinzipien und keine Grundwerte, die es zu verteidigen gilt. 

 

PhilosophInnen konstruieren manchmal Gedankenexperimente, um am Beispiel solcher zugespitzter Dilemma-Situationen ethische Prinzipien auf ihre Tauglichkeit hin zu überprüfen. Ein berühmtes Beispiel für eine solche Dilemma-Situation ist das Gleisarbeiter-Dilemma (englisch: Trolley-Dilemma). 

 

Wie für Dilemma-Situationen typisch, gibt es keine "ideale Lösung." Wie auch immer wir uns verhalten, wir verletzen dabei ein grundlegendes ethisches Prinzip. Aber gerade deshalb sind diese Gedankenexperimente interessant, wenn wir auf der Suche nach argumentativ durchdachten und begründbaren ethischen Handlungsregeln sind. 


ein berühmtes Beispiel: Das Gleisarbeiter-Dilemma

Das Gleisarbeiter-Dilemma (engl.: Trolley Problem) stammt in der usrprünglichen Variante von der britischen Philosophin Philippa R. Foot. Inzwischen gibt es viele Weiterentwicklungen und Variationen. Es geht immer um die Frage, ob man etwas ethisch Problematisches tun darf (oder sogar muss), um etwas noch Schlimmeres oder Problematischeres zu verhindern. 


Interessant ist, dass Menschen, die man befragt, wie sie handeln würden, in der Tendenz sehr klar entscheiden: Sie würden zum großen Teil eine Weiche umstellen, sodass die Bahn einen Arbeiter überfahren würde, wenn das der einzige Weg wäre, das Leben von fünf Arbeitern zu retten. Sie wären aber zum großen Teil nicht bereit, einen dicken Mann auf einer Brücke einen Stoß zu versetzen, wenn das der einzige Weg wäre, die Bahn zu stoppen und das Leben von fünf Arbeitern zu retten. 


Dieses Ergebnis hat in der psychologischen Spieltheorie und in der Verhaltensforschung viel Beachtung gefunden. Denn es ist unabhängig von Kultur und Milieu in sehr vielen Fällen repliziert worden. Das deute darauf hin, dass es so etwas wie einen "angeborenen" Sinn für ethisch korrektes Verhalten gebe, meinen manche VerhaltensforscherInnen. Und es zeigt, dass wir Verhalten nicht nur nach den Folgen beurteilen. Wir machen beispielsweise einen großen Unterschied in der Bewertung je nachdem, ob wir selbst aktiv handeln, ob wir nur zuschauen, ob wir "an einem Rädchen drehen" oder ob wir selbst einen anderen Menschen "angreifen müssen". 


Unabhängig davon, was die meisten von uns intuitiv tun WÜRDEN, stellt aber die Philosophie die Frage, was wir richtigerweise tun SOLLTEN. Denn nur weil nur wenig Menschen bereit wären, einen Mann von der Brücke zu stoßen, um damit fünf andere zu retten, heißt das ja nicht, dass das ethisch die SCHLECHTERE Alternative wäre. Vielmehr müssen wir argumentativ überzeugend begründen können, WARUM und INWIEFERN das eine Verhalten besser ist als das andere; und zwar unabhängig von der Frage, ob es unserem moralischen "Gefühl" entspricht oder nicht. 


Ethische Handlungstheorien versuchen, solche Dilemma-Situationen durchzuargumentieren und von ihnen Handlungsprinzipien abzuleiten. Das Ergebnis kann natürlich keine einfache Handlungsanleitung für alle schwierigen Situationen sein. Das Ergebnis kann im günstigsten Fall in grundlegenden Prinzipien stehen, mit deren Hilfe wir Handlungsmöglichkeiten prüfen können.


Arbeitsaufgaben

A1: Erkläre, was ein ethisches Dilemma ist. Erkläre, um welches ethische Dilemma es beim Trolley-Dilemma (Gedanken-Experment) geht. Erkläre, welche Handlungsalternativen die Person X (die entscheiden muss) hat. Erkläre, um welche grundlegenden Werte es geht. Erkläre, welche Folgen die jeweiligen Handlungsalternativen haben. Erkläre, wie X. philosophisch reflektiert argumentieren könnte, wenn sie (a) gar nichts tut, also passiv bleibt, (b) die Weiche umstellt oder (c) den dicken Mann von der Brücke stößt. 

 A2: Suche Beispiele für ethische Dilemma-Situationen, in die Menschen in ihrem Lebensalltag kommen können. Erkläre, worin das ethische Dilemma besteht. Beschreibe die Grundwerte, um die es geht. Erkläre die Handlungsalternative. Erkläre, ob es aus deiner Sicht eine ethisch "bessere" Handlungsalternative gibt und worin diese besteht. 

A3: Untersuche politische und gesellschaftliche Herausforderungen der jüngeren Vergangenheit oder der Gegenwart im Hinblick auf die Frage, ob sie sich als ethische Dilemma-Situationen beschreiben ließen. Gehe dabei analog zu A2 vor. 

A4: Der us-amerikanische Philosoph M. Sandel (Harvard) sammelt eine ganze Serie ethischer Dilemmata, u.a. auch das Trolley-Dilemma. Welche anderen Beispiele führt Sandel an? Beschreibe zwei weitere Beispiele. (Link zum Youtube-Film über eine Vorlesung; auf Englisch, müsste aber zu verstehen sein) 

Quellen und Internet-Links