Weiterentwicklungen der Tiefenpsychologie 2: Carl Gustav Jung und die Analytische Psychologie

Ein fiktives Interview mit C. G. Jung (W)

Carl Gustav Jung
Carl Gustav Jung

Sofie: Du giltst als Begründer der Analytischen Psychologie. Wie unterscheidet sie sich von der Psychoanalyse? Was sind Gemeinsamkeiten?

 

Jung: Die von mir begründete Analytische Psychologie - ursprünglich bezeichnete ich man sie als Komplexe Psychologie - basiert wirklich auf der Psychoanalyse. Ich habe auch eine klassische Ausbildung bei Freud in Wien gemacht und galt lange Zeit als "Kronprinz". 1914 kam es aber zum Bruch mit Freud. Der Grund war, dass ich einige Aspekte der Freudschen Persönlichkeitstheorie nicht akzeptierte. Gemeinsam mit der Psychoanalyse ist in meiner Theorie vor allem die Bedeutung des Unbewussten. Man könnte sogar sagen, dass das Unbewusste in meiner Theorie eine größere Rolle als in der Psychoanalyse spielt. Vor allem akzeptierte ich nicht, dass die Sexualität - die Psychoanalyse nennt sie Libido - als zentraler Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Persönlichkeit gelten soll. Was aber definitiv zum Bruch führte, war, dass ich von einem Kollektiven Unbewussten ausgehe.

 

Sofie: Manche Forscher behaupten, beim Bruch mit Freud habe auch die Rivalität um eine Patientin, die später selbst Psychoanalytikerin wurde, nämlich um Sabina Spielrein, eine Rolle gespielt ...

 

Jung: Dazu möchte ich jetzt lieber nichts sagen. Die ForscherInnen zerren da sowieso schon viel zu viel ans Licht ...

 

Sofie: Bevor wir weiter auf deine Theorien eingehen: Kannst du mir wenigstens sonst ein bisschen etwas über dein Leben erzählen?

 

Jung: Gerne. Gelebt habe ich ganz in der Nähe von dir, nämlich in der deutschsprachigen Schweiz. Geboren wurde ich 1875 im Kanton Thurgau als Sohn eines evangelischen Pfarrers. Schon als Medizinstudent habe ich mich für die menschliche Psyche interessiert. Gearbeitet habe ich dann ab 1900 an der damals schon sehr berühmten Klinik Burghölzli in Zürich, unter anderem bei Eugen Bleuler, der als ersterSabina Spielrein das Krankheitsbild der Schizophrenie definierte und den Begriff prägte. Ein paar Jahre später wurde ich mit der damals revolutionären neuen Theorie der Psychoanalyse des Wiener Nervenarztes Sigmund Freud konfrontiert. Mich faszinierte diese Theorie von Anfang an. Doch nach zirka fünf Jahren kam es - wie schon erwähnt - zum Bruch. Bis zu meinem Tod 1961 arbeitete und forschte ich an verschiedenen Orten vor allem in der Schweiz, u. a. in Basel und in Zürich. Am Ort meiner langjährigen Praxis in Küsnacht am Zürichsee ist heute das nach mir benannte C.G.Jung-Institut. Es ist die wichtigste Forschungs- und Ausbildungsstätte, was meine Theorie betrifft.

 

Ich hatte sehr berühmte PatientInnen, neben der schon erwähnten Sabina Spielrein beispielsweie auch Hermann Hesse.

 

Sofie:  Etwas, was dir häufig vorgeworfen wird, ist, dass du dich nicht vom Nationalsozialismus distanziert hast.

 

Jung: Ja, das muss ich zu meiner Schande zugeben. Ich war von 1933 bis 1939 in meiner Funktion als Ärztevertreter in Deutschland offiziell tätig, nachdem meine Vorgänger zurückgetreten oder aus so genannten "rassischen Gründen" die Funktion zurücklegen mussten. Deshalb werfen Kritiker mir vor, vom nationalsozialistischen Rassismus profitiert zu haben. Auch in meinen theoretischen Positionen - was zum Beispiel das Irrationale und Mystische anbelangt - habe ich mich wohl nicht scharf genug vom Nationalsozialismus und seiner Ideologie distanziert.

 

Sofie: Kommen wir nun zu deiner Theorie. Kannst du bitte erklären, was du meinst, wenn du vom Kollektiven Unbewussten sprichst?

 

Jung: Den Begriff des Unbewussten kennst du ja bereits. Ihm zugrunde liegt die These, dass jeder Mensch Persönlichkeitsanteile habe, zu denen er keinen direkten Zugang hat, die jedoch sein bewusstes Erleben und Verhalten beeinflussen. Für die Psychoanalyse ist dieses Unbewusste rein biografisch, das heißt, es entsteht erst im Laufe der eigenen Lebensgeschichte. Ich glaube, dass unter dem individuell Unbewussten noch eine weitere kollektiv-unbewusste Schicht existiert. Der Begriff "kollektiv" verweist ja auf das Gemeinschaftliche. Ich nehme an, dass alle Menschen, unabhängig von der Kultur, in die sie hineingeboren werden, und unabhängig von ihrer individuellen Lebensgeschichte, Anteil an diesem kollektiven Unbewussten haben.

 

Sofie: Klingt das jetzt nicht ein bisschen spekulativ?

 

Jung: Auf den ersten Blick mag das so scheinen. Ich habe natürlich auch keinen unmittelbaren Beweis für die Existenz des Kollektiven Unbewussten. Was ich aber habe, ist eine Vielzahl von Indizien. Meine Theorie basiert auf einer Vielzahl von Beobachtungen, die ich vielleicht knapp so zusammenfassen kann: Als Arzt habe ich mich sehr oft und sehr intensiv mit psychotischen PatientInnen und ihren so genannten Wahnvorstellungen beschäftigt. Im Unterschied zur gängigen Lehrmeinung der damaligen Psychiatrie waren diese Halluzinationen für mich nicht einfach nur sinnlos: sie mussten nach meiner Überzeugung etwas mit der Person, die sie entwickelte, zu tun haben. Als ich dann - vor allem durch die Beschäftigung mit Buddhismus und Hinduismus - entdeckte, dass viele Mythen und Märchen große Ähnlichkeiten mit den Bildern, die Psychotiker entwickeln, haben und dass diese Bilder universell sind, war für mich der Schluss auf ein Kollektives Unbewusstes nahe liegend.

 

Wenn ich es knapp zusammenfassen darf: Das Kollektive Unbewusste ist dadurch belegt, dass Märchen, Mythen, Träume und psychotische Inhalte auf der ganzen Welt unabhängig von der Kultur ganz bestimmte, praktisch identische Grundinhalte aufweisen.

 

Sofie: Und welche Grundinhalte sollen das deiner Meinung nach sein?

 

Jung: Das Kollektive Unbewusste enthält vor allem ganz bestimmte Grundstrukturen. Vor allem ist es in Polaritäten (Tag - Nacht; schwarz - weiß; gut - böse, ...) strukturiert. Grautöne kennt es nicht. Aber auch der Kreis ist eine Grundstruktur des Kollektiven Unbewussten. Dann enthält es die so genannten Archetypen. Man könnte sie Urbilder oder Urfiguren nennen. Dazu zählen bestimmte Figuren, die in allen Kulturen vorkommen, zum Beispiel die "gute Mutter", die "böse Mutter" (Hexe, Stiefmutter), der Held/Erlöser einerseits und der Bösewicht/Teufel andererseits, … Weibliche Archetypen sind die Prinzessin, die Jungfrau, die Fee, die böse Hexe, die "gute" Hexe, die Mutter, die Stiefmutter u.a.m. Männliche Archetypen sind der Held, der König, der Zauberer / Magier, der Narr, der Trickster, der Teufel u. a. m.

 

Sofie: Und was verstehst du unter Anima und Animus? Das hat doch auch mit deiner Theorie zu tun?

 

Jung: Da hast du vollkommen Recht. Anima und Animus sind ebenfalls Elemente des kollektiven Unbewussten. Dabei geht es um Männliches (Animus) und Weibliches (Anima), aber nicht einem biologischen Sinn, eher in einem psychischen Sinn.

 

Um das zu erklären, muss ich wohl ein bisschen ausholen: Ich gehe davon aus, dass jeder Mensch sowohl von seiner Grundanlage her sowohl "weibliche" als auch "männliche" Persönlichkeitsmerkmale aufweist. Als "weiblich" könnte man zum Beispiel Einfühlungsvermögen und soziale Verantwortung bezeichnen. Als "männlich" könnte man Durchsetzungsvermögen und Aktivität nach außen sehen. Von der Kultur abhängig ist, inwiefern Knaben und Männer auch ihre weiblichen Anteile ("Weichheit"; "Emotionalität") entwickeln dürfen bzw. inwiefern Mädchen und Frauen auch "ein bisschen männlich" (aggressiv, selbstbewusst, aktiv) sein dürfen.

 

Wenn eine Kultur sehr patriarchal ist, müssen Männer sehr männlich und Frauen sehr weiblich sein. Das heißt, dass jeder Mensch - aufgrund der sozialen Regeln - nur einen sehr beschränkten Teil seiner Persönlichkeit auch entwickeln darf. Der Rest muss auf der Ebenen des Unbewussten bleiben. Er ist daher oft angstbesetzt und wird mit großer Aggressivität bekämpft. Je patriarchaler eine Kultur ist, desto aggressiver bekämpfen durch sie geprägte Menschen z. B. alles, was auch nur im entferntesten nach Homosexualität (und damit nach einer angeblich nicht-männlichen Form von Sexualität) ausschaut. Je partriarchaler eine Kultur ist, desto restriktiver werden auch die Frauen über ihre "weiblichen" Aufgaben definiert.

 

Sofie: Was wäre dann in einer "idealen Gesellschaft" der Fall?

 

Jung: In einer "idealen Gesellschaft" darf jeder Mensch individuell seine eigene Persönlichkeit entwickeln und es gibt eine große Toleranz gegenüber dem, was traditionellerweise als "männlich" oder "weiblich" gesehen wird. Frauen dürfen auch männliche Eigenschaften zeigen, ohne dass sie dafür sanktioniert werden. Männer dürfen auch "weibliche" Eigenschaften entwickeln, z. B. emotional sein, auch einmal schwach sein, auch einmal zugeben, dass sie Hilfe brauchen, ... Hier hat sich in der westlichen Welt übrigens seit meiner eigenen Zeit sehr viel zum Positiven verändert. (Ich selbst war hier aber auch ein Kind meiner Zeit und habe ziemlich patriarchal gedacht und gelebt).

 

Sofie: Ein anderer Aspekt, der in deiner Theorie noch eine Rolle spielt, ist das Konzept des Schattens. Kannst du dazu etwas sagen?

 

Jung: Ja sicher. Der Schattenanteil hat gewisse Ähnlichkeiten mit dem verdrängten Unbewussten in der Psychoanalyse. Er ist der Persönlichkeitsanteil, der von uns selbst abgewehrt und nicht akzeptiert ist, der uns aber - gleichsam wie ein Schatten oder wie ein Rucksack, den wir auf dem Rücken tragen und von dem wir nichts wissen - begleitet, auch wenn wir ihn nicht sehen. Als solcher steht der unbewusste Schatten der bewussten Persönlichkeit - ich nenne sie "Persona" - gegenüber.

 

Oft können andere Menschen - im Gegensatz zu uns selbst - unsere Schattenanteile sehr wohl wahrnehmen. Denken wir zum Beispiel an eine Frau, deren bewusster Persönlichkeitsanteil (Persona) darin besteht, dass sie sich für ihre Familie und für ihre Kinder aufopfert, dass sie ihre eigenen Interessen zugunsten der Kinder zurückstellt, dass sie auf ihre berufliche Karriere verzichtet, um sich ganz den Kindern kümmern zu können, … Was die Frau nicht erkennen kann, ist, dass der Schattenanteil hinter ihrer Aufopferung ein absoluter Egoismus sein kann: Sie will sich in ihren Kindern selbst verwirklichen, instrumentalisiert ihre Kinder, weil sie von diesen erwartet, dass sie ihre eigenen nicht erreichten Lebensziele für sie stellvertretend erreichen. Daher wird sie unfähig sein, zu akzeptieren, dass ihre Kinder einen anderen als den von ihr vorgesehenen Lebensweg gehen, und sie wird dies mit sehr viel aggressiver Energie zu verhindern versuchen. Der Schatten ist dann aggressiv-egoistisch, während die Kernpersönlichkeit aufopfernd-altruistisch ist. Die eigene Aggressivität kann diese Frau nicht wahrnehmen, sie ist zutiefst davon überzeugt, überhaupt nicht egoistisch zu sein, sondern nur "das Beste" für die Kinder zu wollen. Ein anderes Beispiel ist der scheinbar biedere, treu sorgende Ehemann und Vater oder der begeisterte Erzieher in einem Internat oder der Jugendtrainer im Fußballverein (Persona), der gleichzeitig gegenüber den eigenen oder fremden Kindern sexuell übergriffig wird (Schatten).

 

Auch in der Literatur gibt es berühmte Persona-Schatten-Pärchen, zum Beispiel Dr. Jekyll und Mr. Hyde oder Faust und Mephisto.

 

Sofie: Jetzt habe ich sehr viel über deine Theorie erfahren. Kannst du bitte nochmals kurz sagen, was die wesentlichsten Elemente sind?

 

Jung: Gerne. Ich nehme die Existenz eine Kollektiven Unbewussten, das unter dem individuellen Unbewussten liegt und an dem alle Menschen gleichermaßen Anteil haben, an. Ich sehe das Unbewusste - im Gegensatz zur Psychoanalyse - weniger als potentiellen Herd für psychische Erkrankungen und vielmehr auch als Quelle, aus der jeder Mensch, aber auch jede Religion, jede Kultur, die Kunst, ... schöpft.

  

Sofie: Danke für das Gespräch.

Arbeitsaufgaben zum Interview (W, R, T)