Der Schritt vom Mythos zum Logos. Oder: Worin ExpertInnen die Anfänge der Philosophie sehen

Boticelli: Das Urteil des Paris (Ausschnitt; Quelle: Wikipedia). Mythische Erzählungen beantworten Fragen nach dem WARUM.
Boticelli: Das Urteil des Paris (Ausschnitt; Quelle: Wikipedia). Mythische Erzählungen beantworten Fragen nach dem WARUM.

Nur in Griechenland passiert etwas, was wir heute als schrittweise Ablösung des mythischen Denkens bezeichnen. "Die Griechen" beginnen, an ihren Mythen, die auf Glauben basieren, zu zweifeln. Schrittweise ersetzen sie mythologische Antworten auf uralte existentielle Fragen (Woher kommt der Mensch? Woher kommt die Welt? Was passiert nach dem Tod? Weshalb gibt es Leid, Krieg, Naturkatastrophen? ...) durch logisch-rationale Antworten ("Logos") zu ersetzen.  

 

Anfänge eines solchen Zweifelns kann man bereits in den Mythenbearbeitungen von Homer (8. Jh. v. u. Z.) erkennen, der die griechischen Götter sehr menschliche und diesseitig charakterisiert und sich manchmal auch über sie lustig zu machen scheint. Zum Beispiel, wenn die drei Göttinnen Athene, Hera und Aphrodite über die Frage streiten, wer von ihnen am schönsten sei, und Paris in seinem Urteil zu bestechen versuchen.


Vielleicht auf dieser Grundlage entstehen im 6. Jh. v. u. Z. erste Theorien, die entweder ganz ohne Götter auskommen oder in denen Götter nur noch eine Pro-Forma-Funktion haben. Das gilt zum Beispiel für Thales von Milet. Er behauptet zwar noch: „Alles kommt von den Göttern“. In der eigentlichen Theorie spielt das Göttliche dann aber keine wirklich Rolle mehr. Denn er behauptet: "Wasser ist der Urspung allen Seins."

 

Die schrittweise Ablösung vom mythischen Denken ist Voraussetzung für eine Entstehung der Philosophie. Warum, werden wir gleich sehen: 

Was bedeutet Mythos? Und Was ist "Logos"? Und worin besteht der Schritt vom Mythos zum Logos?

Altas trägt den Himmel auf seinen Schultern (Quelle: Wikipedia)
Altas trägt den Himmel auf seinen Schultern (Quelle: Wikipedia)

Beispiel für einen (von vielen) griechischen Welt-Entstehungs-Mythen

  

Vor dem Anbeginn der Zeit war das Chaos, ein gähnender Schlund ohne Anfang und ohne Ende. Finster waren die Nebel, aus denen es bestand, und doch lagen schon in ihnen die Urbestandteile allen Lebens: Erde, Wasser, Feuer und Luft. Und so geschah es, dass sich die Finsternis (Erebos) und die Nacht (Nyx) aus dem Schlund erhob. Beide vereinigten sich und gebaren den Äther (Aither) und den Tag (Hemera).

 

Die erste aber unter allen Göttern war die Erdenmutter Gaia. Gaia zeugte aus sich selbst Uranos (den Himmel), Pontos, das Meer, und Tartaros, die Unterwelt. Als Gemahlin des Uranos gebar sie die Titanen, die Kyklopen und die Hekatoncheiren. Weil Uranos seine Kinder hasste, verbarg er sie in der Erde (Gaia). Gaia veranlasste deshalb Kronos, den Uranos mit einer Sichel zu entmannen. Die dabei auf die Erde fallenden Blutstropfen fing Gaia auf und gebar daraus die Erinnyen und Giganten. Danach übernahm Kronos die Weltherrschaft. Gaia ist von Pontos Mutter von Phorkys, Ketos, Nereus und Thaumas. Weitere Kinder folgten und so entstand aus der Verbindung von Hyperion und Theia die Sonne (Helios), der Mond (Selene) und die Morgenröte (Eos).Ihr Sohn Japetos verliebte sich in die schöne Okeanidin Klymene und deren mächtige Kinder waren Atlas, Menoitis, Prometheus und Epimetheus. So bevölkerte ein ganzes Göttergeschlecht in unterschiedlichsten Erscheinungsformen die frühe Welt.

Chronos "entmannt" seinen Vater Uranos
Chronos "entmannt" seinen Vater Uranos

Warum die Abkehr vom mythischen Denken so fundamental ist, lässt sich begreifen, wenn wir uns bewusst machen, wie ein Mythos funktioniert. Wir wollen das versuchen: 


Beispiele für sehr frühe philosophische Aussagen: 


  • "Wasser ist der Ursprung allen Seins" (Thales)
  • "Der Ursprung allen Seins ist die Zahl Eins" (Pythagoras)
  • "Alles ist im Fluss". "Alles fließt." "Panta Rhei" (Heraklit)
  • "Der Krieg ist der Vater aller Dinge" (Heraklit)
  • Es gibt keine Veränderung. Es gibt nur statisches unveränderliches Sein" (Parmenides"

 

Mythos und Logos im Vergleich

Michelangelo: Die Erschaffung Adams (Sixtinische Kapelle im Vatikan; Bildquelle: Wikipedia)
Michelangelo: Die Erschaffung Adams (Sixtinische Kapelle im Vatikan; Bildquelle: Wikipedia)
Mythologisches Denken Rationales Denken (Philosophie)
 Mythos = Bild, Erzählung, Geschichte
 Logos = Wort, Vernunft, Verstand
Bilder, Vergleiche, Erzählungen beschreiben symbolisch Naturvorgänge (Erschaffung der Welt, Naturerscheinungen wie Tag und Nacht, Feuer, Blitz und Donner, ....

sprachlich formal und abstrakt; Hypothesen und Theorien beschreiben Naturvorgänge
basiert auf Glauben; kein kritisches Hinterfragen, keine kritische Reflexion
basiert auf logischer Überlegung; kritisches Hinterfragen und Reflektieren von Aussagen und Theorien
Wunderbares, Übernatürliches, Göttliches fundiert als Bindeglied zwischen Frage und Antwort (Beispiel: Woher kommt die Welt ==> Gott hat die Welt erschaffen)
zunehmender Verzicht auf Übernatürliches; diesseitige Erklärungen (Beispiel: Was ist der Ursprung der Welt ==> Alles kommt aus dem Wasser)
Der Mythos ist "jenseits von wahr und falsch", das heißt: er lebt ausschließlich davon, dass die Menschen an ihn glauben; kritisches Hinterfragen zerstört die Wirkung des Mythos
rationale Theorien lassen sich auf der "Ebene von wahr und falsch" diskutieren; kritisches Hinterfragen führt zur Entdeckung von Schwachstellen und Fehlern, die dann durch theoretische Weiterentwicklungen korrigiert werden können.
Mythen sind statisch, d. h. sie werden mehr oder weniger unverändert von Generation zu Generation weitergegeben.
rationales Denken ist dynamisch, d. h. Theorien verändern und entwickeln sich

Arbeitsaufgaben

A1: Was bedeutet "Mythos"? Was bedeutet "Logos"? Erkläre die beiden Begriffe. Führe Beispiele für mythologische und logisch-rationale Texte an. 
A2: Auf welche (impliziten) Fragen reagieren Mythen (z. B. Schöpfungsmythen,  eschatologische Mythen = Mythen von den letzten Dingen / vom Ende der Welt; anthropologische Mythen, ...)? Führe konkrete Beispiele an. 
A3: Auf welche (impliziten) Fragen reagieren die angeführten Beispiele sehr früher philosophischer Aussagen? 
A4: Wie beantworten Mythen diese Frage? Wie beantworten im Unterschied dazu logische Mythen diese Fragen? Worin liegt der fundamentale Unterschied? 
A5: Was ist Voraussetzung dafür, dass Mythen "wirken"? Wodurch / Wie werden Mythen "zerstört"? Was vertragen Mythen nicht?
A6: Warum / inwiefern ist die Trennung von Mythos und Logos eine zentrale Voraussetzung für das Entstehen der Philosophie? 
A7: Auch wenn Philosophie und Wissenschaft den Mythen gehörig Konkurrenz machen: Die Mythen sind nicht ausgestorben und faszinieren Menschen immer noch. Was könnten Gründe dafür sein? Brauchen wir in der heutigen Zeit noch Mythen? Oder reichen Philosophie und/oder Wissenschaft als Antworten auf ontologische und existentielle Fragen? 
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Vom Mythos zum Logos
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