Die Frage nach dem Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben. Der Fall Andre Rieder

Ein Film zum Einstieg

In der Schweiz sorgt 2011 der Fall Andre Rieder, der im Zentrum eines DOK-Films steht, für Aufsehen und Diskussionen.
In der Schweiz sorgt 2011 der Fall Andre Rieder, der im Zentrum eines DOK-Films steht, für Aufsehen und Diskussionen.

Arbeitsaufgaben zum Film: 

 

  • Wie ist die Atmosphäre im Film? Wie gehen unterschiedliche Personen mit dem Wunsch Andre Rieders, sein Leben auf eigenen Wunsch zu beenden, um?
  • Warum sorgt der Fall in der Schweiz, in der die so genannte altruistische Beihilfe zum Suizid bei sterbenden Menschen weitgehend akzeptiert ist, für Aufsehen?
  • Um welche Grundwerte geht es im Fall Andre Rieder?
  • Wie argumentieren Menschen, die die Entscheidung, Andre Rieder des assistierten Suizid zu ermöglichen, befürworten / akzeptieren? Wie argumentieren Menschen, die diese Entscheidung für falsch halten? Wie ist deine persönliche Haltung? Warum?
  • Ist jemand wie Andre Rieder deiner Meinung nach frei in seiner Entscheidung, nicht mehr weiterleben zu wollen? Warum (nicht)? Inwiefern (nicht)?

 

Exit oder die Diskussion um altruistische Beihilfe zum Suizid. Worum geht es?

In Österreich ist verboten und mit Gefängnisstrafe bedroht, was die Schweiz erlaubt oder zumindest "duldet": einem sterbenden Menschen auf dessen eigenen Wunsch ein Medikament zu geben, mit dem er sich selbst das Leben nehmen kann. Man nennt das "altruistische Beihilfe zum Suizid".


Das Attribut "altruistisch" ist wichtig, um sicher zu stellen, dass die Person, die in diesem Sinn Sterbehilfe leistet, davon nicht selbst profitiert. "Beihilfe zum Suizid" zieht eine klare Grenze zwischen der Tötung eines anderen Menschen (egal aus welchem Motiv heraus und egal unter welchen Umständen) auf der einen Seite und der Beihilfe zur Selbsttötung auf der anderen Seite. Die Tötung ist in der Schweiz strafrechtlich verboten. Die Beihilfe zur Selbsttötung unter bestimmten Umständen nicht. 


Für manche Menschen ist das, was die Schweizer dulden, eine ethisch zulässige Form der Euthanasie. Der Begriff "Euthanasie" kommt von griech. „eu“ = „gut“ und „thanatos“ = Tod è „schöner Tod“. „Euthanasie“ ist in Österreich und Deutschland historisch belastet (NS: missbräuchliche Verwendung des Begriffs für die Ermordungvon Menschen mit einer Behinderung) und wird deshalb eher vermieden; es wird deshalb eher von „altruistischer Beihilfe zum Suizid“ oder vom „assistiertem Suizid“ gesprochen.

 

Wichtige Rahmenbedingungen // Voraussetzungen:

  • Der Sterbeprozess muss unumkehrbar eingesetzt haben, damit von Beihilfe zum Suizid in dieser Form gesprochen werden kann. 
  • Der sterbende Mensch muss das Medikament selbst einnehmen. 


In der Schweiz gibt es Organisationen wie "Exit" oder "Dignitas", die sterbende Menschen auf dieser Grundlage in den Tod begleiten. 


In der Schweiz ist Beihilfe zum Suizid gesellschaftlich weitgehend akzeptiert. Unumstritten ist sie aber auch dort nicht. Insbesondere katholische Organisationen lehnen sie ab. 

Das Spezielle am Fall Andre Rieder

Andre Rieder nimmt Abschied von Freunden
Andre Rieder nimmt Abschied von Freunden

Der Fall Andre Rieder sorgt in der Schweiz Ende 2010 bzw. Anfang 2011 für heftige Diskussionen. Das hat zwei Gründe: Andre Rieder lässt sich von Exist in den Tod begleiten, obwohl er kein sterbender Mensch ist. Und er lässt sich bei seinem Weg in den Tod von einem Filmteam des Schweizer Fernsehens begleiten und filmen.

 

Die Fakten in Kürze: Die Sterbehilfeorganisation  „Exit“ ermöglicht dem 55jährigen Andre Rieder den assistierten Suizid. Der Fall ist deshalb umstritten, weil Andre Rieder an einer schweren manisch-depressiven Erkrankung leidet und den Entschluss gefasst hat, sein Leben beenden zu wollen. Aber Andre Rieder ist kein Mensch, der an einer zum Tod führenden Krankheit leidet, also „sterbend“ im Sinn der Definition ist. Mit seiner Erkrankung könnte er noch viele Jahre weiterleben. Aber er empfindet sein Leben mit dieser Krankheit als nicht mehr lebenswert. „Exit“ betont, dass ein solcher Fall die absolute Ausnahme sei (zwei von über 200 Menschen, die Exit im Jahr 2010 in den Tod begleitet habe, hätten nicht an einer tödlichen Krankheit im Endstadium gelitten, sondern ihr Leben unter den gegebenen, nicht veränderbaren Umständen als nicht mehr lebenswert empfunden). Kritiker sehen in diesem Fall einen Beweis für ihre These, dass eine Freigabe des begleiteten Suizids für sterbende Menschen zu einer Aufweichung führe. Der Grundwert menschlichen Lebens und seine Schutzwürdigkeit werde immer mehr in Frage gestellt (Dammbruch-Argument; Argument der Shifting Baselines = der sich verschiebenden Grenzen)

Die Sterbehilfe-Organisation Exit

Exit wurde 1982 als Verein gegründet. Die Organisation darf nicht gewinnorientiert sein. Nur Mitglieder können die Dienste von Exit in Anspruch nehmen.


Exit arbeitet auf unterschiedliche Weise (Patientenverfügungen, Palliativmedizinische Begleitung, Suizidprävention, Beihilfe zum Suizid) und hat nach eigenen Angaben ca. 50 000 Mitglieder. Exit erhält pro Jahr ca. 300 Anfragen für Freitodbegleitungen und leistet pro Jahr zirka 200 Mal Beihilfe zum Suizid. Die Beihilfe zum Suizid wird durch ausgebildete ehrenamtliche FreitodbegleiterInnen geleistet. 


Exit betont in ihrem Selbstbild / Leitbild sehr stark das Selbstbestimmungsrecht des Menschen; Exit betont, dass das Selbstbestimmungsrecht auch das Recht auf ein selbstbestimmtes und selbstgestaltetes Sterben umfasse; Exit kämpft auch auf politischer Ebene (international) für eine Legalisierung von Beihilfe zum Suizid.


Die Arbeit von Exit wird vor allem von kirchlichen (v.a. katholischen) Organisationen sehr kritisch gesehen und bewertet; (eher vereinzelt) gibt es Vorwürfe, Exit arbeite manipulativ und gewinnorientiert

Ethische Analyse und Reflexion

Im Kern der Debatte geht es um die Frage, ob ein Mensch das Recht hat, sein Leben selbst zu beenden. Und ob er sich dabei helfen lassen darf.

 

Auf der einen Seite ... 

 

Viele Menschen, die sich eine solche Möglichkeit wünschen, haben Angst vor einem Sterbeprozess, der für sie und nach ihrem eigenen Empfinden mit Schmerzen, Ohnmacht, Ausgeliefert-Sein, "Dahin-Vegetieren" verbunden ist oder sein könnte. Deshalb ist es für sie legitim, das eigene Leben selbst zu beenden, wenn sie es als nicht mehr würdig betrachten. Wenn es dafür keine legale Möglichkeit gibt, ist ein Suizid aber oft ein entwürdigender Schritt, den die betroffenen heimlich setzen müssen. Sie können sich von niemandem verabschieden. Sie müssen brutale Methoden (Zug, erhängen, ...) wählen. Und Angehörige bleiben mit vielen offenen Fragen zurück. 

 

Auf der anderen Seite ...

 

  • Suizid ist kein Straftatbestand; aber wir sprechen Menschen nicht das Recht zu, ihr eigenes Leben selbst zu beenden; wir gehen davon aus, dass ein Mensch, der sich selbst das Leben nehmen möchte, sich in einem Zustand „suizidaler Einengung“ befindet, in dem er nicht mehr wirklich für sich entscheiden kann èVerpflichtung zum Eingreifen, wenn jemand suizidal ist // Verbot, einem Menschen, der sich das Leben nehmen möchte, Hilfe zu leisten; die Frage ist, ob dies auch für sterbende / todkranke Menschen gilt.


  • Schwierig wird es, wenn Menschen den Wunsch, nicht mehr weiterleben zu wollen, haben, weil sie ihr Leben als dermaßen belastend / nicht lebenswert empfinden, obwohl sie nicht an einer tödlichen Krankheit im Endstadium leiden.

 

  • Problematik, dass Suizidalität Begleitsymptom verschiedener Erkrankungen ist (Depression, Suchterkrankungen, …) è Gefahr einer „Verwässerung“ // Gefahr des Missbrauchs

 

  • Der Begriff „sterbend“ lässt sich nicht exakt definieren. Sterben ist ein Prozess mit fließenden Übergängen. Problematik, dass nicht genau definiert werden kann, wann ein Sterbeprozess wirklich einsetzt / eingesetzt hat

 

  • Wunsch von Menschen, ihr Sterben selbst zu gestalten ist auch eine Konsequenz gesellschaftlicher Entwicklungen, die dem einzelnen Menschen mehr Rechte im Hinblick auf die Gestaltung seines eigenen Lebens zugesteht (Stärkung des Autonomie-Prinzips)

 

  • Problematik, dass sterbende Menschen unterschiedliche Phasen und Krisen, die auch von vorübergehender Natur sein können, durchleben. Der Wunsch zu sterben könnte also das Ergebnis einer vorübergehenden Krise sein.

 

  • Problematik, dass todkranke / sterbende / schwerstkranke Menschen manchmal entscheiden, sich das Leben zu nehmen; wenn Beihilfe zum Suizid verboten ist, müssen sie diesen Schritt heimlich und ohne Wissen der Angehörigen tun, um diese vor strafrechtlichen Verfolgungen zu schützen è Tabuisierung // Verabschiedung ist nicht möglich // Menschen werden im Sterben allein gelassen (Beispiel Hannelore Kohl)

Rechtliche Analyse

  • Altruistische Beihilfe zum Suizid ist in Österreich verboten und wird strafrechtlich verfolgt

 

  • Altruistische Beihilfe zum Suizid ist in der Schweiz unter bestimmten Umständen straffrei gestellt (wird strafrechtlich nicht verfolgt, obwohl sie nicht ausdrücklich erlaubt ist); èOrganisationen wie „Exit“ oder „Dignitas“ organisieren die Beihilfe zum Suizid bei sterbenden Menschen; sie berufen sich dabei auf Prinzipen der Menschenwürde, der Autonomie und der Solidarität mit sterbenden Menschen; teilweise werden ihnen Missbrauch und ökonomische Interessen vorgeworfen. Die Organisationen und ihre Arbeit sind aber auch umstritten (Vorwurf der ökonomischen Interessen trifft v. a. Dignitas; Dammbruch-Argument; Heiligkeit/Unantastbarkeit des Lebens etc.)

Wertanalyse (deontologisch)

Grundwert Autonomie, Selbstbestimmung

Das Autonomieprinzip besagt in seiner engen Definition, dass ein Mensch über sein eigenes Leben solange autonom entscheiden kann, solange seine Entscheidung das Leben und die Interessen anderer Menschen nicht (wesentlich) tangiert.

 

Das beinhaltet auch das Recht, sich selbst zu schaden (Drogenkonsum)

 

Das beinhaltet unter bestimmten Umständen auch das Recht, das eigene Leben auf eine selbstbestimmte Art zu beenden. 

Grundwert menschliches Leben

Grundwert des menschlichen Lebens; Tötungsverbot; Verpflichtung, einen Menschen vom Suizid abzuhalten

 

Schutz des menschlichen Lebens (unabhängig von qualitativen Fragen wie Lebensqualität) ist eines der höchsten Güter in unserer Gesellschaft.

 

Der ärztliche Handlungsauftrag besteht darin, Leben zu schützen und Leben zu retten. Eine Beihilfe zur Tötung widerspricht diesem Prinzip.

 

Angst vor Missbrauch // vor der Aufweichung des Prinzips des Lebensschutzes, wenn Beihilfe zum Suizid toleriert wird (chronisch kranke Menschen, depressive Menschen, … könnten Beihilfe zum Suizid wünschen und erhalten)

 

Zweifel, dass Manipulation und Missbrauch ausgeschlossen werden können; Zweifel, dass sicher gestellt werden kann, dass Menschen immer autonom und selbstbestimmt zu einer Entscheidung kommen; Problem des sozialen Drucks (Menschen glauben, ihr Leben anderen nicht mehr zumuten zu können)

 

Problem, dass sterbende Menschen oft nicht mehr wirklich in der Lage sind, ihren Willen akut zu äußern. è Gefahr von Missbrauch

 

Vor allem die katholische Kirche argumentiert mit der Heiligkeit des Lebens. Nur Gott hat die Macht und das Recht über Leben und Tod zu entscheiden



Quellen: