"Anything goes". Paul Feyerabend

Biographisches

Paul Feyerabend in Berkley. (Bildquelle: Wikipedia, Grazia Borrini-Feyerabend)
Paul Feyerabend in Berkley. (Bildquelle: Wikipedia, Grazia Borrini-Feyerabend)

Paul Karl Feyerabend wird 1924 in Wien geboren. Als Soldat im Zweiten Weltkrieg wird er schwer an der Wirbelsäule verletzt, an den Folgen leidet Feyerabend sein ganzes Leben lang. Nach dem Krieg studiert Feyerabend u. a. Theaterwissenschaft, Geschichte, Physik, Mathematik und Astronomie, nicht aber Philosophie. Er dissertiert beim letzten noch in Wien lebenden Vertreter des Wiener Kreises, Victor Kraft, und geht anschließend nach London, wo er eine Assistentenstelle bei Popper erhält. Seit den 60er-Jahren arbeitet Feyerabend an vielen unterschiedlichen Universitäten, u. a. in Berkeley und an der ETH.

Zürich. 10994 stirbt Feyerabend in der Schweiz.

 

Wichtige Werke: 

  • "Wider den Methodenzwang" (1976)
  • "Erkenntnis für freie Menschen" (1979)
  • "Zeitverschwendung" (Autobiographie. 1997)

Die Rückkehr zum Mythos ...

Kritik an Popper und der Idee der Fasifikation ...


Am Anfang seiner akademischen Laufbahn teilt Feyerabend die wissenschaftstheoretische Position Poppers, in deren Zentrum die Idee der Falsifikation steht. Schritt für Schritt entfernt er sich aber von den Ideen seines früheren Lehreres und Mentors und wird zu einem seiner schärfsten Kritiker.


Durch viele Beispiele aus der Wissenschaftsgeschichte möchte Feyerabend beweisen, dass Wissenschaftler sich in der Praxis meistens nicht an feste Regeln halten oder bestimmten Methoden folgen, während sie andere Methoden als nicht-wissenschaftlich ablehnen. Im Gegenteil: Jeder Wissenschaftler entwickelt auch seine ganz persönliche Methode, unabhängig davon, ob sie Kriterien wie dem für Popper zentralen Falsifikationsprinzip, genügen. Die allermeisten Methoden, die Wissenschaftlicher anwenden - denken wir nur an Freuds Deutung eigener Träume oder an Einsteins Aussage, von der Formel für die Allgemeine Relativitätstheorie habe ihn ihre Schönheit überzeugt -, würden glatt durchfallen, wenn wir Poppers Falsifikationskriterium zum Maßstab erheben. Aber gerade ihre Kreativität macht sie so erfolgreich.


"Anything goes"und das Ideal der wisschenschaftlichen Anarchie


Zentral für alle wissenschaftstheoretischen Modelle der Neuzeit ist die Verbindung von Rationalität und Empirie. Genau das Prinzip der Rationalität greift Feyerabend in seiner Wissenschaftstheorie aber an. Damit stellt er die Grundannahme der europäischen Erkenntnistheorie seit Beginn der Neuzeit in Frage. Kuhn würde sagen: Feyerabend greift das neuzeitliche Wissenschaftsparadigma radikal an.


Feyerabend rebelliert also gegen das Grundprinzip der Rationalität, auf dem jede Wissenschaft aufbaut. In diesem Zusammenhang greift er v. a. die wissenschaftstheoretische Modell des Kritischen Rationalismus (Popper) an, das er als "Law-and-Order"-Prinzip kritisiert. Er sagt, Rationalität sei nur einer von vielen Wegen zu Wissen und Erkenntnis, moderne High-Tech-Medizin sei nicht besser als Schamanismus und "Handauflegen", statistische Prognosen nicht besser als Astrologie.


Auch in der Wissenschaft selbst spielen Feyerabend zufolge neben der Rationalität vor allem Intuition, Kreativität und Phantasie eine zentrale Rolle. Wissenschaft ist für ihn kein regelgebundener, sondern ein anarchischer Prozess. Kunst und Religion sieht Feyerabend als der Naturwissenschaft gleichwertige Wege zu Erkenntnis.


Insgesamt wehrt Feyerabend sich massiv gegen jeden Autoritätsanspruch der Wissenschaft. Er fordert "freie Methoden" für "freie Menschen" in einer "freien Gesellschaft"

Textausschnitt: Wider den Methodenzwang

"Das Bild der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts in den Augen der Wissenschaftler und Laien ist bestimmt durch technische Wunder wie das Farbfernsehen, die Mondflüge, den Infrarotgrill sowie durch ein ziemlich vages, aber doch immer recht einflussreiches Gerücht oder Märchen über die Art, wie diese Wunder zustande kommen.


Nach diesem Märchen entsteht der Erfolg der Wissenschaft aus einer subtil ausbalancierten Verbindung von Erfindergeist und Kontrolle. Die Wissenschaftler haben Ideen. Und sie haben spezielle Methoden für die Verbesserung von Ideen. Die wissenschaftlichen Theorien haben die methodische Prüfung bestanden. Sie liefern eine bessere Darstellung der Welt als Ideen, die diese Prüfung nicht bestanden haben. (...)


Das Märchen ist, wie wir sahen, falsch. Es gibt keine spezielle Methode, die den Erfolg gewährleistet oder wahrscheinlich macht. Die Wissenschaftler lösen Probleme nicht deshalb, weil sie eine Wünschelrute besäßen - die Methodologie oder eine Theorie der Rationalität -, sondern weil sie sich mit einem Problem lange Zeit beschäftigt haben, weil sie die Verhältnisse ziemlich gut kennen, weil sie nicht gerade dumm sind (...)


Tatsachen allein sind nicht stark genug, um zur Annahme oder Ablehnung wissenschaftlicher Theorien zu veranlassen, sie lassen dem Denken einen zu weiten Spielraum; Logik und Methodologie andererseits scheiden zu viel aus, sie sind zu eng. Zwischen diesen beiden Extremen liegt das sich immerfort wandelnde Reich der menschlichen Ideen und Wünsche. Und eine genaue Analyse erfolgreicher Schritte im Wissenschaftsspiel (...) zeigt in der Tat, dass es seinen weiten Freiheitsspielraum gibt, der eine Vielfalt von Ideen verlangt und die Anwendung demokratischer Verfahren (Diskussion und Abstimmung) gestattet, der aber durch Machtpolitik und Propaganda versperrt ist. Hier gewinnt das Märchen von der speziellen Methode seine entscheidende Funktion. Es verdeckt den Entscheidungsspielraum, den schöpferische Wissenschaftler und die Öffentlichkeit auch innerhalb der strengsten und fortgeschrittensten Teile der Wissenschaftler und die Öffentlichkeit auch innerhalb der strengsten und fortgeschrittensten Teile der Wissenschaft haben, durch die Rede von "objektiven" Kriterien und schützt so die großen Tiere (Nobelpreisträger, Institutchefs, Spitzen von Berufsverbänden, führende Vertreter bestimmter Schulen, "Erzieher" usw.) vor den Massen (Laien, Fachleute auf nichtwissenschaftlichen Gebieten, Wissenschaftler anderer Fachgebiete) (...).


Die Astronomie zog Nutzen aus dem Pythogoreismus und der Platonischen Vorliebe für Kreise, die Medizin aus der Kräuterkunde, der Psychologie, der Metaphysik, der Physiologie von Hexen, Hebammen, weisen Männern, Wanderapothekern. Es ist bekannt, dass die Medizin des 16. und 17. Jahrhunderts theoretisch aufgebläht war, aber der Krankheit gegenüber völlig hilflos (was sie noch lange nach der "wissenschaftlichen Revolution" blieb). Neuerer wie Paracelsus verbesserten die Medizin durch Rückgriff auf ältere Ideen, alle Methoden verwenden, nicht nur einen kleinen Ausschnitt aus ihnen. Die Behauptung aber, außerhalb der Wissenschaft gebe es keine Erkenntnis - extra scientiam nulla salus - ist nicht als ein weiteres und höchst bequemes Märchen. (...)


Und wie oft geschieht es doch, dass das stolze und dünkelhafte Urteil eines Fachmanns von einem Laien zurechtgewiesen wird! Zahlreiche Erfinder bauten angeblich "unmögliche" Maschinen. Rechtsanwälte zeigen immer wieder, dass ein Sachverständiger nicht weiß, worüber er redet. Wissenschaftler, vor allem Ärzte, gelangen oft zu verschiedenen Ergebnissen, so dass die Verwandten des Kranken (oder die Einwohner eines bestimmten Gebiets) durch Abstimmung entscheiden müssen, was geschehen soll. Wie oft wird die Wissenschaft durch außerwissenschaftliche Einflüsse verbessert und in neue Bahnen gelenkt! Wir, die Bürger einer freien Gesellschaft, müssen entscheiden, ob wir den Chauvinismus der Wissenschaft widerspruchslos hinnehmen oder durch öffentliches Handeln überwinden wollen.


Öffentliches Handeln wurde von den Kommunisten in China in den 50er-Jahren gegen die Wissenschaft eingesetzt, ebenso unter ganz anderen Umständen von einigen Gegnern der Entwicklungstheorie in Kalifornien in den 70er-Jahren. Folgen wir ihrem Beispiel und befreien wir die Gesellschaft aus dem Würgegriff einer ideologisch erstarrten Wissenschaft, genau wie unsere Vorfahren uns aus dem Würgegriff der "einen wahren Religion" befreit haben!"(Auszug aus "Wider den Methodenzwang")


Arbeitsaufgaben

A1: Lies den Textausschnitt aus "Wider den Methodenzwang". Beantworte anschließend die folgenden Fragen: 

* Was bezeichnet Feyerabend im Text als "Märchen"? Warum glaubt er, dass das ein Märchen sei? 

* Was kritisiert Feyerabend an der wissenschaftlichen Praxis und am Umgang mit "Andersdenkenden" oder "QuerdenkerInnen"? 

* Was kritisiert Feyerabend, wenn er der etablierten Wissenschaft vorwirft, sie sei "chauvinistisch" und "ideologisch erstarrt"? 

* Wie wäre nach der Meinung von Feyerabend das ideale Verhältnis zwischen Wissenschaft und DenkerInnen außerhalb der etablierten wissenschaftlichen Denktraditionen? Welche Beispiele führt er an? Welche Beispiele ließen sich eventuell sonst noch anführen?

* Was meint Feyerabend mit seinem berühmt gewordenen Satz: "Anything goes"? 


A2: Ob Therapieverfahren, deren Wirksamkeit sich wissenschaftlich nicht hart belegen lässt  und/oder die von Voraussetzungen ausgehen, die der Schulmedizin widersprechen, Platz in der Medizin haben sollen, ist umstritten. Wie würde Feyerabend, der wohl JA sagen würde, argumentieren? Wie würde jemand, der die Gegenposition einnimmt, argumentieren?

A3: Paul Feyerabend polarisiert und fasziniert Menschen weit über den inneren Kreis der WissenschaftstheoretikerInnen hinaus. Fasse einen der Zeitungsartikel oder der Texte über Feyerabend zusammen, indem du herausarbeitest, welche Aspekte der Theorie erwähnt werden, inwiefern diese positiv bewerteet werden und inwiefern diese negativ bewertet werden. Arbeite auch heraus, ob und inwiefern ein Bezug zwischen Denken und Leben hergestellt wird. 
A4: Feyerabend verteidigt Kunst und Religion als der Wissenschaft gleichwertig gegenüberstehende Traditionen. Warum und wodurch sind Kunst und Religion gegenüber der Erfahrungswissenschaft oft abgewertet worden? Worin liegt ihre Leistung? Stimmst du der Position von Feyerabend zu? Warum (nicht)? Formuliere ein argumentatives Statement. 

Internetlinks, Quellen