Wittgenstein 2: Die Sprachspiel-Theorie

In Cambridge entwickelt Wittgenstein ein zweites sprachphilosophisches System, das von der Sprachphilosophie des Tractatus völlig unabhängig ist und dem ein völlig anderes Verständnis von Sprache zugrunde liegt.

 

Wittgensteins Grundfrage ist nicht mehr: "Wie ist das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit?". Vielmehr fragt er: "Wie wird Sprache in bestimmten sozialen Situationen verwendet?". Er fragt nicht mehr: "Was bedeutet der Begriff "Wahrheit"?", sondern fragt: "Wie wird der Begriff "Wahrheit" in einem bestimmten sozialen Kontext verwendet?", "Was meint jemand, wenn er sagt, X sei wahr?".

 

Dieser Gedanken ist der Grundansatz der Sprachspieltheorie: Man muss Sprache als Spiel auffassen (vergleichbar einem Spiel wie Schach, wo man auf einem klar definierten Spielbrett mit verschiedenen Figuren und verschiedenen Regeln verschiedene Spiele spielen kann; so lange alle Spieler dasselbe Spiel spielen, funktioniert es. Problematisch wird es dann, wenn der eine Schach und der andere Dame spielt!).

 

Die Anzahl der Sprachspiele ist im Prinzip unbegrenzt, Beispiele für sprachliche Spielvarianten sind die Sprache des Alltags, die Sprache der Wissenschaft, die Sprache der Religion, die Sprache der Philosophie, die Sprache der Literatur, die Sprache der Kunst, ... Alle Sprachspiele haben aber auch ihre Grenzen. So ist es im Rahmen der Sprache der Religion zwar möglich, über Gott zu sprechen, nicht aber im Rahmen der (Natur)wissenschaft.

 

Redewendungen wie "Wieviel Zeit haben wir noch?", "Nimm dir Zeit!", "Ich brauche mehr Zeit!", "Jetzt habe ich keine Zeit", ... sind Sprachspiele innerhalb der Alltagssprache. In diesem Zusammenhang ist auch ohne weiteres klar, was wir meinen, wenn wir den Begriff "Zeit" verwenden. Die Frage "Was ist das Wesen von Zeit?" ist aber eine ontologische Frage, die im Rahmen der Alltagssprache nicht beantwortbar ist, weil sie zu einem anderen Sprachspiel gehört, beispielsweise dem der Physik oder der Philosophie.

 

Ein Begriff wie "Zeit" wird im Rahmen des Sprachspiels der Alltagssprache, der Sprache der Physik, der Sprache der Religion, der Sprache der Philosophie jeweils völlig anderes verwendet. Es ist nicht legitim, eine Verwendungsweise aus einem Sprachspiel in ein anderes zu transferieren.

 

Das heißt aber auch, dass sich religiöse Fragen nicht naturwissenschaftlich diskutieren (geschweige denn: beantworten) lassen, und dass naturwissenschaftliche Fragen nicht religiös diskutierbar sind. Die Probleme des einen Sprachspiels sind in einem anderen Sprachspiel nicht sinnvoll formulierbar, weil die Bedeutung von Begriffen eben durch Regeln des Sprachspiels festgelegt sind, so wie sich die Funktion einer Figur im Schach erst aus den Spielregeln ergibt.

 

Aufgabe der Philosophie ist es, auf Probleme aufmerksam zu machen, die entstehen, wenn Sprache nicht innerhalb ihrer Regeln arbeitet, sondern illegitimer weise die Grenzen der jeweiligen Sprachspiele überschreitet.

 

Wittgensteins Sprachspieltheorie ist Grundlage für die so genannte "Ordinary Language Philosophie"

 

Wittgenstein: Sprachspieltheorie (Bild: Osborne)
Wittgenstein: Sprachspieltheorie (Bild: Osborne)

Arbeitsaufgaben

A1: Beschreibe die Sprachspieltheorie von Ludwig Wittgenstein mithilfe des fiktiven Interviews (Arbeitsblatt zum Download)

 

A2: Versuche die sprachphilosophische Position des Tractatus und der Cambridger Zeit gegenüberzustellen. Gehe dabei auf folgende Fragen ein: Was ist die Funktion von Sprache? Was kennzeichnet einen sinnvollen Satz? Was kennzeichnet einen sinnlosen (falschen) Satz?

 

A3: Wittgenstein vergleicht in seiner Sprachspieltheorie die Sprache mit einem Spiel, beispielsweise Schach. Welche Gemeinsamkeiten zwischen Sprache und einem Spiel wie Schach kann man erkennen? Versuche das in einem kurzen Text zu formulieren.

 

4: Versuche möglichst viele Sprachspiele im Sinn der Sprachspieltheorie Wittgensteins zu identifizieren. (Oder anders formuliert: Versuche möglichst viele unterschiedliche Funktionen von Sprache anzuführen und ev. mit einem Beispiel zu verdeutlichen)

Download
Fiktives Interview mit Ludwig Wittgeinstein (Teil 1 und Teil 2)
160418_Sprachphilosophie_Wittgenstein.pd
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