Sexualität: komplexer als wir auf den ersten Blick denken

unsere sexuelle Identität entwickelt sich über das gesamte Leben
unsere sexuelle Identität entwickelt sich über das gesamte Leben

"Weiblich“ oder „männlich“ zu sein, ist ein wichtiger Aspekt der eigenen Persönlichkeit, der uns unser ganzes Leben begleitet.

 

Die Dimension „Männlichkeit“ oder „Weiblichkeit“ umfasst aber viel mehr als nur das biologische Geschlecht und die Rolle, die Männer und Frauen in der Fortpflanzung spielen. In der Forschung unterscheidet man meistens zwischen drei Grundkategorien, dem biologischen Geschlecht (sex), dem psychischen Geschlecht (Geschlechtsidentität) und dem sozialen Geschlecht (gender).

 

Früher war man vielfach der Meinung, Sexualität "erwache" in der Pubertät mit dem körperlichen Erwachsen-Werden; Kinder wurden als a-sexuelle ("unschuldige"!) Lebewesen betrachtet. Außerdem wurde Sexualität gerne auf die Funktion der Fortpflanzung reduziert. 

 

Spätestens der Psychoanalytiker Sigmund Freud zeigte aber am Ende des 19. Jahrhunderts, dass die Grundlagen für unsere sexuelle Identität bereits in der ersten Lebensphase wurzeln. Aus heutiger Sicht können wir ergänzen, dass unsere sexuelle Entwicklung bereits mit der Verschmelzung von Samen- und Eizelle beginnt, dass sie sich über das gesamte Leben hindurch weiterentwickelt und verändert. 

 

Außerdem ist aus heutiger Sicht klar, dass unsere Geschlechtlichkeit weit mehr als unsere Fähigkeit, "unsere Gene an Nachkommen weiterzugeben" umfasst. Sie ist ein Kernbestandteil unserer Gesamtpersönlichkeit. 

Biologische Aspekte (Sex)

Die Leichtathletin Caster Semenya
Die Leichtathletin Caster Semenya

Schon auf der biologischen Ebene lässt sich Geschlechtlichkeit auf verschiedenen Ebenen definieren. So gibt es …

  •  das chromosomale Geschlecht, das bei der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle festgelegt wird (männlich: XY-Chromosom, weiblich: XX-Chromosom)
  • das gonadale Geschlecht, das sich auf die Geschlechtsdrüsen bezieht (männlich: Hoden/Testes; weiblich: Eierstöcke/Ovarien);
  • das hormonelle Geschlecht (bezieht sich auf die Anteile von männlichen Sexualhormonen (Androgene, v.a. Tostesteron) und die Anteile von weiblichen Sexualhormonen ( v. a. Östrogene und Gestagene)
  • das natale Geschlecht (Hebammengeschlecht), das bei der Geburt abhängig von den äußerlich sichtbaren Geschlechtsorganen festgelegt wird. 
  • das anatomische Geschlecht (primäre Geschlechtsmerkmale: Geschlechtsorgane; sekundäre Geschlechtsmerkmale, die sich v. a. in der Pubertät herausbilden wie z. B. Körperbau, Körperbehaarung und die Rolle in der Fortpflanzung)

Normalerweise stimmen alle Bereiche des biologischen Geschlechts überein. Es gibt aber auch immer wieder Menschen, bei denen dies nicht der Fall ist und bei denen eine eindeutige Zuordnung zu einem Geschlecht bei der Geburt nicht möglich ist.  Man nennt dies Intersexualität (inter = dazwischen) oder (eher früher) Hermaphrodismus (vom griechischen Götterboten Hermes, der sowohl weibliche als auch männliche Züge hat). So gibt es zum Beispiel XX-Männer, die weibliche Geschlechtschromosomen, aber primäre männliche Geschlechtsorgane (Hoden) haben. So gibt es bei bestimmten Sportlerinnen immer wieder einmal Diskussionen über die Frage, ob sie möglicherweise intersexuell seien. Ein historischer Fall aus Österreich ist die Schifahrerin Erika Schinegger (heute: Erich Schinegger). Ein aktuellerer Fall ist die Leichtathletik Caster Semenya

 

Das psychische Geschlecht

Drag Queen
Drag Queen

Das psychische Geschlecht definiert, inwiefern wir uns als weiblich oder männlich erleben und inwiefern wir uns "typisch männlich" oder "typisch weiblich" verhalten. 

 

Gibt es typisch weibliche und typisch männliche Verhaltensweisen? 


Wissenschaftlich diskutiert wird immer wieder die Frage, inwiefern sich Buben und Mädchen (bzw. Männer und Frauen)  in ihrem Verhalten und ihrem Erleben typischerweise unterscheiden. Beobachten lässt sich zum Beispiel, dass die Sprachentwicklung von Mädchen durchschnittlich schneller und differenzierter verläuft, während Buben durchschnittlich ein besseres räumliches Denken haben. Ebenfalls lässt sich zeigen, dass Buben Konflikte eher körperlich austragen als Mädchen. Auch gibt es „typische Männerkrankheiten“ (beispielsweise Herzinfarkt, „harte Süchte“) und typische Frauenkrankheiten (beispielsweise Depressionen oder Angsterkrankungen). In der Forschung umstritten ist, ob diese Unterschiede biologisch (z. B. durch Sexualhormone) bedingt sind oder ob die Erziehung unterschiedliche Verhaltensmuster prägt. 

Wie auch immer: Die beobachteten Unterschiede sind zunächst einmal vor allem statistisch feststellbar. Für den einzelnen Menschen muss dies nichts aussagen.

 

Was bedeutet "erlebtes Geschlecht" oder Geschlechtsrollenidentität?

 

Das erlebte Geschlecht beschreibt, inwiefern sich jemand als „Mann“ oder als „Frau“ fühlt. Es geht also um die Frage, inwiefern sich ein Mensch in einer männlichen oder weiblichen Identität erfährt und wie er diese für sich selbst definiert. Jeder Mensch hat sowohl weibliche als auch männliche psychische Anteile in sich. Bei Frauen überwiegen meistens die weiblichen, bei Männern die männlichen. Ob zur eigenen männlichen Identität aber auch bestimmte Normen (z. B. "Buben weinen nicht", "Schminken ist unmännlich") gehören oder ob die eigene weibliche Identität bestimmte Regeln einschießt (z. B. "Mädchen schlagen nicht", "Eishockey ist keine weibliche Sportart") ist individuell sehr unterschiedlich. 

 

Das Phänomen Transsexualität zeigt darüber hinaus, dass eine weibliche Geschlechts-Identität aber manchmal auch mit einem männlichen biologischen Geschlecht verbunden sein kann und umgekehrt. Menschen, bei denen dies der Fall ist, fühlen sich "im falschen Körper gefangen". Wie stabil die psychische Geschlechtsidentität ist, zeigt sich u. a. daran, dass es offenbar leichter ist, das körperliche Geschlecht (mittels Geschlechtsumwandlung) zu verändern, als das psychische Geschlecht an das körperliche Geschlecht anzupassen. 

 

Transsexualität dürfen wir aber nicht mit Transvestitismus oder Homosexualität verwechseln. Transvestiten spielen eher mit der gegengeschlechtlichen Rolle, das heißt, sie schlüpfen für eine begrenzte Zeit in die Rolle des anderen Geschlechts und leben diese als eine Art "Rollenspiel" aus. Menschen, die homosexuell sind, interessieren sich für gleichgeschlechtliche Partner, haben aber eine ihrem biologischen Geschlecht entsprechende Geschlechtsrollenidentität. 

 

Das soziale Geschlecht (Gender)

Spielzeug, gleichgeschlechtliche Vorbilder, Medien etc. prägen soziale Geschlechtsrollen
Spielzeug, gleichgeschlechtliche Vorbilder, Medien etc. prägen soziale Geschlechtsrollen

Auch das soziale Geschlecht hat mehrere Eben, zum Beispiel ...

  • ... das juridische Geschlecht, das bei der Geburt festgelegt wird und mit der Eintragung des männlichen oder weiblichen Geschlechts in der Geburtsurkunde (verbunden mit einem eindeutig als männlich oder weiblich identifizierbaren Namen) ausgeht.
  • ... das kulturelle Geschlecht. Es drückt die gesellschaftlichen Rollenbilder, männliche und weibliche Leitbilder, soziale Normen im Hinblick auf das Verhalten in der Öffentlichkeit, Kleidernormen, ... aus

Das soziale Geschlecht ist (weitgehend) das Ergebnis eines vielschichtigen Sozialisationsprozesses. Das heißt: Durch Erziehung lernen Kinder sehr früh (spätestens ab dem 2./3. Lebensjahr), sich als Mädchen oder Jungen zu fühlen und sich nach männlichen oder weiblichen Normen zu orientieren.


Vor allem das soziale Geschlecht wird seit dem letzten Jahrhundert immer wieder kritisch thematisiert und hat äußerst tief greifende Wandlungen durchgemacht. Insbesondere gilt dies im Hinblick auf die Frauenrolle, etwas weniger stark auch im Hinblick auf Vorstellungen von „Männlichkeit“. Frauen dürfen heute durchaus auch männliche Verhaltensweisen und Interessen zeigen. Wenn aber umgekehrt eine männliche Person sich nicht ihrem sozialen Geschlecht entsprechend verhält (und beispielsweise Frauenkleider trägt), werden das nach wie vor viele Menschen als soziale unpassend oder zumindest als "eigenartig" empfinden. 

 


Arbeitsaufgaben und Downloads

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Arbeitsblatt zu Dimensionen von Geschlechtlichkeit
TK5_2_Geschlechtlichkeit_Begriffe_Dimens
Microsoft Word Dokument 22.0 KB
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Mindmap zum Thema Geschlecht
Gestalte - orientiert am Muster - eine Mindmap zum Thema Geschlechtlichkeit und Geschlechtsrollenidentität. Du musst dabei nicht alle Aspekte berücksichtigen, sondern kannst dich auf einzelne Schwerpunkte konzentrieren.
Geschlechtlichkeit2.bmp
Bitmap Grafik 280.5 KB

Das MindMap als Vorlage zum Weiterentwickeln findest du in der Ilias

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typisch Mann - typisch Frau: angeboren oder nicht?
Lies den Zeitschriftenartikel durch und fasse die angeführten Unterschiede zwischen typisch männlichem und typisch weiblichem Verhalten zusammen (Mindmap oder Tabelle). Wie werden diese Unterschiede jeweils erklärt? Wie plausibel sind die Erklärungen? Welche Gegenpositionen ließen sich formulieren?
gug_männlich_weiblich.pdf
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Internetlinks

  • "Lust und Frust": Webseite einer Schweizer Jugendberatungsstelle mit vielen Infos zum Thema Sexualität und Identität
  • "Jugendportal.at": Österreichische Webseite im Auftrag des Jugend- und Familienministeriums; Infos zum Thema Sexualität und Identität
  • Eltern im Netz (Erziehung und Geschlechter-Rolle)
  • Die Zeit: Artikel über Erziehung und Geschlechtsrollenidentität