Unterschiedliche Gedächtnissysteme. Oder: DAS Gedächtnis gibt es nicht.

Die Fallbeispiele zeigen: Das, was wir uns auf den ersten Blick unter Gedächtnis vorstellen, ist ein ziemlich komplexes und darüber hinaus ziemlich störungsanfälliges Gebilde.

 

Wenn wir uns Gedanken über unser Gedächtnis machen, denken wir zuerst vielleicht an eine Situation, die uns als SchülerInnen sehr vertraut ist: Wir pauken Vokabeln für die nächste Schularbeit (und hoffen, dass sie uns dann auch rechtzeitig wieder einfallen werden). Oder wir lernen historische Daten für den nächsten Geschichte-Test (und stellen vielleicht erstaunt fest, dass wir beim Test noch alles wissen, aber schon zwei Tage später keinen blassen Schimmer mehr von den ganzen Daten haben, die wir beim Test noch aus dem Gedächtnis abrufen konnten). 

 

 

Gedächtnis im Überblick. Eine Grafik

Quelle: Geo 12/2001
Quelle: Geo 12/2001

Einteilung 1: vier unterschiedliche Gedächtnis-Systeme

Die meisten Forscher unterscheiden heute (zumindest) drei oder vier voneinander mehr oder weniger unabhängige Gedächtnis-Systeme, die jeweils unterschiedliche Funktionen haben. Gedächtnisstörungen betreffen oft nur eines dieser drei Gedächtnis-Systeme. 

 

Das vorbereitende Gedächtnis (Priming)

 

Diese Gedächtnissystem wird meist mit dem englischen Begriff „Priming“ bezeichnet. Das bedeutet „vorbereiten“ oder „schussfertig machen“. Es nimmt eine große Zahl von Reizen auf, von einzelnen Wörtern über Gesichter bis zu eigenen und fremden Ideen und ganzen Gedankengebäuden. Diese Inhalte werden uns aber nicht wirklich bewusst, sie bleiben auf einer unterschwelligen (rein assoziativen / emotionalen) Ebene. Das heißt: Wir können sie meist nicht bewusst abrufen. Werden wir jedoch mit einem ähnlichen Reiz konfrontiert, kommen sie uns in den Sinn. Allerdings ist uns dabei oft nicht klar, dass die scheinbar aus dem Nichts auftauchenden Bilder und Gedanken Gedächtnisinhalte sind. Wir halten sie für unsere eigenen Ideen.

 

Das semantische Gedächtnis (Wissensgedächtnis) 


Das semantische Gedächtnis ist das Gedächtnis-System, bei dem es darum geht, Wissen oder Fakten zu lernen und zu reproduzieren. Wenn wir uns also mit der Frage auseinandersetzen, wie wir am effizientesten (schulisches) Wissen lernen und so speichern, dass wir es wieder abrufen können, betrifft das diesen Teil der Gedächtnisforschung. 

 

Das episodische Gedächtnis (biographische Gedächtnis) 

 

Daneben geht es auch darum, dass wir über biographische Erinnerungen einen Zugang zu unserer Vergangenheithaben und damit so etwas wie eine eigene Identität erst bilden können. Diesen Teil des Gedächtnisses nennt manepisodisches (oder biographisches) Gedächtnis. Wenn wir uns beispielsweise mit der Frage auseinandersetzen, wie "zuverlässig" biographische Erinnerungen sind, müssen wir uns mit den Erkenntnissen der episodischen Gedächtnisforschung beschäftigen. 

 

Das prozedurale Gedächtnis 

 

Außerdem gibt es das so geannte prozedurale Gedächtnis, in dem v.a. (mehr oder weniger automatisierte) Bewegungsabläufe und erlernte Reflexe gespeichert sind. Dazu zählen beispielsweise reflexartige Angst- oder Stress-Reaktionen, die wir irgendwann einmal aufgrund einer bestimmten Erfahrung erworben haben. Oder dazu zählen auch komplexe Bewegungsabläufe, die wir durch wiederholtes Üben gewonnen haben. Solche komplexen Bewegungsabläufe brauchen wir z. B. wenn wir Sport ausüben oder ein Musikinstrument spielen oder einfach per 10-Finger-System auf der Tastatur des Computers schreiben. 

 

 

Einteilung 2: Kurzzeit- und Langzeitedächtnis

Was ist Gedächtnis?

Eine andere - etwas ältere - Form der Einteilung orientiert sich an der Frage, wie dauerhaft Inhalte im Gedächtnis abgespeichert sind. Diese Einteilung geht auf die Psychologen Richard Attkinson und Richard Shiffrin (1968) zurück. 

 

Dabei unterscheidet man meistens zwischen einem Ultra-Kurzzeit-Gedächtnis, einem Kurzzeitgedächtnis und einem Langzeitgedächtnis. Auf Dauer abgespeichert sind nur Informationen im Langzeitgedächtnis. 

 

UKZG (Ultrakurzzeitgedächtnis)

  • "Telefonnummern-Gedächtnis" 
  • arbeitet nach sensorischen Merkmalen (z.B. "Melodie", "Bild") an der Schnittstelle zwischen Wahrnehmung und Gedächtnis (Wahrnehmung eines Bildes --> unmittelbare Reproduktion dieses Bildes)
  • funktioniert nur sehr begrenzt (zirka 7 Informations-Einheiten) und nur für einen kurzen Zeitraum (einige Sekunden); es ist extrem störungsanfällig (d.h.: bei einer Störung kann der Inhalt nicht mehr reproduziert werden)

KZG (Kurzzeitgedächtnis

  • "Arbeitsgedächtnis"
  • arbeitet nach assoziativen Mustern (Ähnlichkeitsmustern); das heißt: Begriffe (z. B. Vokabeln) sind z. B. in Assoziationen aneinander gebunden (Kamin - chimney); das Problem ist, dass diese Bindungen sehr unflexibel und damit in der Reproduktioin auch störungsanfällig sind; so kann es z. B. passieren, dass ich den Begriff unter Druck nicht abrufen kann. Oder es kann sein, dass ich zwar zum englischen Begriff den deutschen Begriff anführen kann, umgekehrt fällt mir aber zum deutschen Begriff die englische Vokabel nicht ein. Es kann auch sein, dass ähnliche Begriffe sich gegenseitig stören und im Weg stehen, wie jeder, der einmal Latein gelernt hat, wahrscheinlich aus eigener leidvoller Erfahrung kennt (audire, audere). Manchmal hängen gelernte Inhalte sich auch an ganz eigenartige "Aufhänger". Zum Beispiel kann es mir dann passieren, dass ich bei der Prüfung weiß, dass der gelernte Inhalt rot eingerahmt in der Mitte des Blattes steht. Aber an den entsprechenden Inhalt kann ich mich nicht erinnern. 
  • im KZG gespeichert sind Informationen, die noch nicht dauerhaft abgespeichert sind. Verschiedene Unterschuchungen zeigen, dass zirka 80 Prozent der Inhalte, die wir im KZG gespeichert haben, nicht ins Langezeitgedächtnis gelangen und deshalb nicht wirklich dauerhaft gespeichert werden
  • SS. arbeiten mit dem KZG, wenn sie in kurzer Zeit große Stoffmengen "pauken", also mehr oder weniger ohne Verständnis und ohne Anknüpfung an Vorwissen "auswendig lernen"


Langzeitgedächtnis 

  • Informationen werden auf Dauer eingespeichert und mit bereits vorhandenem gesichertem Wissen verbunden. 
  • Auf der neurologischen Ebene entspricht diesem Prozess die Entstehund von neurologischen Verknüpfungen zwischen Nervenzellen. Je stabilder diese Verbindung ist, desto besser ist eine Information im Langzeitgedächtnis abgespeichert. 
  • Informationen werden bei der Einspeicherung ins Langzeitgedächtnis v. a. nach Bedeutungsbeziehungen eingeordnet. Es entstehen so genannte semantische Netze mit Hierarchien

 

Semantisches Netz (Wasser)
Semantisches Netz (Wasser)
  • Wenn Informationen aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen werden, gehen wir nach "Bedeutungsrastern" vor. Das heißt, wir wir können u. U. Bedeutungszusammenhänge besser reproduzieren als genaue Daten oder Fakten. Andererseits können wir mit Wissen aus dem Langzeitgedächtnis sehr viel flexibler umgehen. Wir können es in neue Fragestellungen einordnen, mit anderen Fakten vergleichen oder in Beziehung bringen u. a. m.

Arbeitsaufgaben

A1 W: Priming/Wissensgedächtnis/episodisches Gedächtnis / prozedurales Gedächtnis. Erkläre, welche unterschiedlichen Gedächtnissysteme am Gedächtnis beteiligt sind. Beschreibe am Beispiel konkreter Situationen (z. B. Ski fahren, Klavier spielen, einen Physik-Test schreiben, den Führerschein machen, einen früheren Freund wieder treffen), inwiefern die unterschiedlichen Gedächtnissysteme an diesen Situationen beteiligt sind.

 

A2 W: Kurzzeitgedächtnis und Langzeitgedächtnis.  Erkläre, was man unter UKZ-Gedächtnis, KZ-Gedächtnis und LZ-Gedächtnis versteht. Wass ist der wesentliche Unterschied zwischen Kurzzeitgedächtnis und Langzeitgedächtnis im Hinblick auf Einspeichern, Merken und Reproduzieren? Wofür brauchen wir vor allem das Kurzzeitgedächtnis? Wofür brauchen wir das Langzeitgedächtnis? Wie können wir beeinflussen, dass wichtige Lerninhalte nach Möglichkeit im dauerhaften Langzeitgedächtnis landen? 

 

A3 R: Das Reprodzizeren aus dem Langzeitgedächtnis funktioniert über so genannte neuronale Netze (Assoziations-Netze; hierarchische Netze). Solche Assoziations-Netze kann man (ähnlich wie bei einem MindMap) abbilden. Mache so ein semantisches Netz für einen bestimmtes Schulfach. Überprüfe dann, in welche Kategorien (Inhalte, Begriffe, Emotionen, ...) die einzelnen Assoziationen gehören.

 

A4 R: Wenn wir auf Schularbeiten oder Tests lernen, lernen wir oft nur mit dem Kurzzeitgedächtnis; also nach Reiz-Reaktionsverbindungen oder nach dem Ähnlichkeitsprinzip. Welche Vor- und Nachteile hat dieses Lernen? Woran erkenne ich, dass ich nur mit dem Kurzzeitgedächtnis gelernt habe?

 

A5R: Was wären wichtige Grundprinzipien, wenn es darum geht, Schulstoff dauerhaft und nicht nur über das Kurzzeitgedächtnis zu lernen?

 

A6R/T:  Das meiste von dem, was im Langzeitgedächtnis gespeichert ist, geht nicht mehr verloren. Das Problem ist eher, dass wir einen großen Teil der gespeicherten Informationen oft nicht mehr finden (Vergessen als Verlust des Zugangs). Was sind "Belege" (oder zumindest Indizien) für diese zentrale These der Gedächtnisforschung.